KAPITEL SECHS

Levi stand vor dem Wohnhaus, als ein großer SUV mit getönten Scheiben vor der Adresse in der Park Avenue vorfuhr. Das Beifahrerfenster wurde heruntergelassen. Paulie saß am Steuer und schaute zu ihm herüber. Er bedeutete dem großen Mann, kurz zu warten, da gerade Alicia über seinen Ohrstöpsel mit ihm sprach. »Dad, das Navi sagt, dass ich in drei Minuten da bin.«

»Spitze, Kleines. Dann sehen wir uns ja gleich.« Er legte auf und näherte sich dem Fahrzeug, das im Leerlauf wartete. »Alicia ist fast da.«

Paulie schaute an Levi vorbei und rief: »He, Charlie, ruf sofort Joey raus. Der Wagen der Tochter unseres Problemlösers muss weggefahren werden.«

Charlie gehörte zu den Vollstreckern der Familie Bianchi. Prompt verschwand er durch den Eingang des Gebäudes, wo er Wache gehalten hatte. Zurück blieb ein anderer Mann.

Um Bereitschaft zu demonstrieren, hatte Frankie die sichtbaren Sicherheitsvorkehrungen des Wohngebäudes verstärkt, seit sie die Russen drüben in Brighton Beach ausgeknipst hatten. Niemand wusste so recht, wie Popow darauf reagieren würde, dass als Vergeltung für Jimmies Tod einige seiner Leute ins Gras gebissen hatten. Und einen russischen Mafiaboss sollte man nie unterschätzen, auch wenn er versprochen hatte, die Sache nicht eskalieren zu lassen.

In dem Moment, als Alicias BMW vorfuhr, kam Joey aus dem Gebäude, ein drahtiger Mafioso, dem Levi Kampfsportunterricht erteilt hatte.

Alicia hielt an, und Joey ging um das Heck herum, als sie ausstieg.

Levi winkte Alicia zu. »Gib Joey die Schlüssel. Er parkt den Wagen für dich.«

Alicia und die anderen Kinder hatten ihn alle schon in der Stadt besucht. Deshalb kannte sie die meisten Mitglieder der erweiterten Mafiafamilie Bianchi. Aber obwohl seine Älteste immer beherzt gewesen war, fiel Levi offensichtliche Zurückhaltung aus, als sie Joey die Autoschlüssel reichte.

Es war ihr Auto. Den Schlüssel einem relativ Fremden anzuvertrauen, kostete sie wahrscheinlich einiges an Überwindung. Wenige Sekunden später reihte sich das knallige Cabrio in den Verkehr ein, bog um die Ecke und verschwand in den Straßen der Upper East Side.

Alicia winkte Paulie zu, als er aus dem SUV stieg. »Hi, Onkel Paulie. Siehst aus, als hättest du zugenommen.«

Paulie öffnete die Hintertür des Wagens, hielt inne und blickte mit gerunzelter Stirn auf seinen relativ flachen Bauch hinab.

Alicia begrüßte Levi mit einem Kuss auf die Wange und lachte. »Kräftig gebaute Männer wie Onkel Paulie sind bei ihrem Gewicht immer empfindlich.«

Der Hüne wedelte mit einem dicken Finger in Alicias Richtung. »Du weißt wirklich, wie man einen Mann verletzt, du Scherzkeks. Bei deinem bissigen Humor und dem finsteren Blick deines Vaters wird der Mann, der dir irgendwann mal den Hof machen wird, ziemlich selbstbewusst sein müssen.«

»Den Hof machen?« Alicia verdrehte die Augen und schaute belustigt drein. »Wie alt bist du, hundert? So redet längst niemand mehr.«

»Verschieben wir dieses spezielle Gespräch auf ein anderes Mal. Mir macht schon genug zu schaffen, dass mein kleines Mädchen im Herbst allein bei all den schlauen Jungs an der Uni sein wird.« Grinsend deutete Levi auf den SUV. »Das Parken ist in der Stadt ein Albtraum. Deshalb hilft Paulie uns heute aus.«

Alicia ließ sich auf dem geräumigen Rücksitz nieder. Levi setzte sich neben sie, während sich Paulie wieder hinters Steuer klemmte und den Gang einlegte. »Wohin?«

»Rosen’s Sporting Goods.«

»Oh!« Mit einem überaus mädchenhaften Ausdruck von Freude klatschte Alicia spontan in die Hände. »Esther mag ich unheimlich, sie ist spitze.«

Levi lächelte, als der SUV in Richtung seines alten Viertels beschleunigte.

Diesmal würde Alicia eine andere, für sie neue Seite von Esther kennenlernen.

Bisher war Esther für sie nur die übergewichtige Besitzerin eines Sportartikelgeschäfts, die gern Süßigkeiten verteilte und dem Inbegriff einer typischen molligen jüdischen Großmutter verkörperte.

Alicia würde feststellen, dass Esther Rosen alles andere als typisch war.

* * *

Eine Glocke läutete, als Levi die Tür zu Rosen’s Sporting Goods öffnete. Alicia trat mit fröhlicher Miene ein, während Paulie draußen beim Auto wartete.

Das Geschäft erstreckte sich über eine Fläche von knapp 50 Quadratmeter. Angeboten wurden Sportartikel aller Art. Da der Frühling gerade in den Sommer überging, wurde das Sortiment gewechselt. Von Schneehosen und Skier fehlte jede Spur. In den zahlreichen Gängen fand man alles, was man zum Bogenschießen, Gewichtheben, Fußball und verschiedenste Feldsportarten brauchte.

Levi grinste, als er die ältere, korpulente Besitzerin entdeckte. Sie schaute mit einem Fernglas durch das vordere Schaufenster des Ladens hinaus. »Esther?«

»Still, Levi. Ich bin mit was Wichtigem beschäftigt!«

Levi folgte ihrem Blick zur anderen Straßenseite. Abgesehen vom üblichen morgendlichen Fußgängerverkehr fiel ihm nichts auf, das besondere Aufmerksamkeit verdiente.

»Ein Stück die Straße runter hat ein Meyer’s eröffnet«, erklärte die ältere Frau, ohne das Fernglas zu senken.

Levi schwenkte den Blick nach draußen, etwa 100 Meter die Straße runter. Es handelte sich um einen auf Bagels spezialisierten Laden. »Bagels?«

»Nicht irgendwelche Bagels, sondern frische Bagels«, grummelte Esther und spannte plötzlich den gesamten Körper an. »Moishe! Der Kerl ist gerade mit einem großen dampfenden Korb rausgekommen. Los, los, los!«

Ein dunkelhaariger Teenager stürmte durch den Eingang des Ladens hinaus. Esther rief ihm hinterher: »Sieh zu, dass du mindestens ein Dutzend mit Sesam und ein Dutzend ohne bekommst, bevor sich die Geier darauf stürzen und sich alle krallen!«

Der schlaksige Junge raste wie ein geölter Blitz über die Straße, wich mit knapper Not mehreren Fußgängern aus und verschwand in dem kleinen Bagel-Shop.

»Oy!« Esther stöhnte, richtete sich auf und legte das Fernglas beiseite. »Ich werde allmählich zu alt und zu fett für solche Observierungen.« Sie drehte sich Levi zu. Prompt wurden die Augen der grauhaarigen Frau groß, als sie Alicia bemerkte. »Bubaleh!« Ein schriller, freudiger Laut entfuhr der Frau, als sie die Arme ausbreitete und die große junge Asiatin in eine erdrückende Umarmung zog.

»Ich war so aufgeregt, als ich erfahren hab, dass wir für einen Besuch herkommen.« Alicias gedämpfte Stimme kämpfte sich mit knapper Not aus der Umarmung.

Schließlich hielt Esther sie auf Armlänge vor sich und musterte sie von oben bis unten. »Du bist ja unheimlich gewachsen!« Sie kämmte Alicia mit den Fingern das lange, glatte schwarze Haar aus dem Gesicht. Die Augen der großmütterlichen Gestalt wurden verträumt, als sie flüsterte: »Du wirst dir die Jungs mit dem Baseballschläger vom Leib halten müssen.« Plötzlich warf die Frau Levi einen anklagenden Blick zu. »Jetzt weiß ich, was für einen Hintergrund deine Frage hatte. Du hättest mir ruhig sagen können, dass es für Alicia ist. Dann hätte ich nicht so viel Krempel aus dem Lager geschleppt. Ich weiß genau, was sie braucht.«

»Was ich brauche?«, hakte Alicia nach.

Die Glocke bimmelte, als Moishe mit zwei große Papiertüten hereinkam. Aus einer kräuselte sich leichter Dampf.

»Moishe, wo sind deine Manieren? Sag hallo zu Alicia. Bestimmt erinnerst du dich an sie. Immerhin war sie schon oft mit ihrem Vater hier.«

Das picklige Gesicht des Teenagers lief knallrot an. Er murmelte etwas Unverständliches, bevor er im Laufschritt in den hinteren Teil des Ladens flüchtete.

Esther rief ihrem entschwindenden Enkel nach: »Lass mit Ira bloß die Finger von denen mit Sesam! Die sind für mich und unsere Gäste.« Sie wandte sich wieder Alicia zu und verdrehte die Augen. »Tut mir leid, dass er sich in der Gegenwart hübscher Mädchen so meschugge aufführt. Seine Stimme versagt dann immer, und er wird feuerrot. Irgendwann wird er das schon ablegen, aber heute noch nicht.«

Levi legte Alicia den Arm über die Schultern und musterte die alte Frau. Sie war Anfang 70, kaum größer als 1,60 Meter, trug das ergraute Haar als großen Dutt und wog locker über 90 Kilo. Abgesehen vom zunehmenden Grau ihres Dutts hatte sich Esther in den 20 Jahren, die Levi sie schon kannte, nicht groß verändert. Unter der unscheinbaren Kleidung verbarg sich eine Löwin von einer Frau, die besser schoss als die meisten, die sich Scharfschützen nannten. Und wahrscheinlich hatte sie über Waffen und Sprengstoffe bereits mehr vergessen, als er je gewusst hatte.

Esther ging zur Kasse, die Ira bemannte, Moishes Zwillingsbruder. »Ira, ich bin hinten, falls du mich brauchst.« Sie zeigte auf große Versandkartons mitten im Laden. »Das sind die Tennisschläger und die Kleidung, auf die wir gewartet haben. Sieh zu, dass dein Bruder und du alles auspacken und in den Sommersportauslagen platzieren, hörst du?«

Ira nickte und lächelte in Alicias Richtung. »Hi, Alicia. Hab dich ja schon ewig nicht mehr gesehen.«

Sie erwiderte das Lächeln, und Esther schnalzte in Richtung ihres Enkels geräuschvoll mit der Zunge. »Wenn ihr die Kartons nicht bald weggeräumt habt, gibt’s Haue mit den Tennisschlägern für die neue Saison.« Sie sah die Yoders an und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. »Holen wir Alicia ihr Geschenk. Ich hab eine Körpernachbildung, an der sie es testen kann.«

Alicias Augen wurden groß, als sie zu Levi aufschaute. »Körpernachbildung?«

Levi zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was Esther ausgeheckt hatte, dennoch grinste er breit, während er sich an den Reihen der Ausrüstung zum Bogenschießen und Gewichtheben vorbeischlängelte. Er konnte es kaum erwarten zu sehen, was für eine verrückte Lösung sich Esther ausgedacht hatte.

Sie gingen in den hinteren Teil des Ladens, vorbei an dem Enkel, der sich gerade die Reste von etwas in den Mund schob, das verdächtig nach einem Bagel mit Sesam aussah.

Esther führte ihre Gäste zu einem langen Tisch in der Ecke eines Lagerraums und ließ sich davor auf einen Stuhl plumpsen. Sie deutete auf die beiden Stühle neben ihr, und die beiden Yoders nahmen Platz.

Sie brauchte gerade mal eine halbe Minute, um drei Bagels der Länge nach durchzuschneiden, mit Frischkäse zu bestreichen und auf den Tisch zu legen.

Esther beugte sich auf dem Stuhl vorn, konzentrierte sich auf Alicia und deutete mit dem Daumen in Levis Richtung. »Hat er dir überhaupt gesagt, warum du hier bist?«

Alicia bedachte Levi mit einem Blick, den sie immer dann aufsetzte, wenn sie wusste, dass er etwas im Schilde führte. Sie war immer das Kind mit der schärfsten Auffassungsgabe gewesen. »Nein. Er hat nur gesagt, dass wir auf einen Besuch vorbeischauen.«

Levi nahm einen großen Bissen von dem frischen Bagel. Er war noch so warm, dass der Frischkäse teilweise schmolz. Demonstrativ konzentrierte er sich auf seinen Snack.

Esther streckte die Hand aus und tätschelte Alicias Knie. »Ich kenne deinen Vater schon, seit er ein besserer Teenager war. Er war immer der stille, aber durchtriebene Typ ...«

»He«, warf Levi ein. »Du sagst das so, als wär’s was Schlechtes.«

Esther schwenkte wegwerfend die Hand. »Er ist ein schlauer Bursche – manchmal schlauer, als gut für ihn ist. Na, egal. Er hat mir erzählt, dass du in New Jersey studieren wirst, stimmt das?«

»Ja ...« Alicia wirkte überrascht von der Frage. »In Princeton.«

Esther drehte sich Levi zu. »Kann sie gut mit den Händen umgehen?«

Levi nickte. »Die Grundlagen hab ich allen meinen Mädchen beigebracht. Sie sind kompetente Kampfsportlerinnen.«

Mit einer fast unmerklichen Bewegung aus dem Handgelenk erschien ein Dolch zwischen Esthers Fingern. Sie hielt ihn hoch. Das reflektierte Licht funkelte auf der rasiermesserscharfen Schneide, als die betagte Dame ihn drehte. »Hast du schon mit Messern trainiert?«

»Ja.« Alicia nahm einen Bissen von ihrem Bagel und klopfte Levi auf die Schulter. »Er hat uns alle mit versteckten Klingen üben lassen. Aber warum reden wir darüber? Muss ich irgendwas wissen? Gibt’s ein Problem?«

»Nein, Kleines.« Levi legte Alicia die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Ich bin nur bei allem, was mir lieb und teuer ist, besonders vorsichtig. Zu Hause bist du im Kreis der Familie. In unserer ländlichen Gemeinde gibt’s echt nicht viel, worüber man sich Sorgen machen müsste. Aber da du jetzt raus in die große Welt gehst, will ich sicherstellen, dass du für jede Gefahr gewappnet bist.«

»Dad, jetzt klingst du ein bisschen paranoid.«

Wenn Alicia wüsste, was für ein Leben Levi wirklich führte und welche Feinde er haben könnte, wäre sie genauso paranoid.

»Bubaleh , das gehört zu den Aufgaben eines Vaters.« Esther lächelte und zwinkerte Levi zu. »Und wenn unsere Kleinen zum ersten Mal das Nest verlassen, ist es für die Eltern meist schwieriger als für die Kleinen selbst.« Wie durch Magie verschwand das Messer aus Esthers Hand. »Und du bist 17, richtig?«

Alicia nickte.

Esther schüttelte den Kopf und seufzte. »Leider spielen die Gesetze in New Jersey den Verbrechern in die Karten. Als 17-Jährige darfst du kaum etwas zur Selbstverteidigung bei dir tragen.

Nicht mal Pfefferspray. Deshalb hat es das Gesindel so leicht. Anständige Menschen, die sich weitgehend an die Gesetze halten, sind in dem Staat praktisch schutzlos. Vor allem Jüngere wie du. Aber ich hab etwas für dich, mein kleiner Engel.« Sie zeigte auf einen Schuhkarton auf dem Tisch. »Nimm dir den Karton und mach ihn auf.«

Alicia ergriff die Schachtel, legte sie auf ihren Schoß und entfernte den Deckel. Mit verdutzter Miene holte sie etwas heraus, das wie eine mittelgroße Taschenlampe aus Metall aussah.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Levi den Gegenstand in der Hand seiner Tochter. Auf den ersten Blick schien es um eine Taschenlampe der Marke Maglite zu handeln. Allerdings fielen ihm einige ungewöhnliche Merkmale daran auf. Er sah Esther an. »Ist das eine Spezialanfertigung von dir?«

»Natürlich.« Esther rückte mit dem Stuhl näher zu Alicia.

Die angehende Studentin hob den Gegenstand in ihren Händen an und sagte: »Das versteh ich nicht. Ich soll das statt Pfefferspray bei mir haben? Warum nicht einfach einen Gummiknüppel oder so?«

»Das würde nicht funktionieren.« Esther schüttelte den Kopf. Ihre Stimme wurde ernst. »In New Jersey darf man nichts bei sich tragen, das als Waffe interpretiert werden könnte. Ein Gummiknüppel ist unbestreitbar eine Waffe. Wenn du aber eine Taschenlampe als Leuchtmittel mitführst und sich eine Situation ergibt, in der du sie als Waffe einsetzen musst, ist das völlig in Ordnung. Hör gut zu, Bubaleh.

Die Grenze zwischen legal und illegal bei der Frage, was als Waffe gilt, ist zumindest in New Jersey der Vorsatz. Gib niemals zu, dass du etwas zur Verteidigung oder zum Angriff bei dir trägst. Es muss einen anderen Zweck erfüllen ...«

»Wie eine Taschenlampe«, warf Alicia ein, während sie das zylindrische Objekt in ihrer Hand eingehend betrachtete.

»Genau.« Esther zeigte auf die Taschenlampe. »Aber das ist nicht ganz, was du da in der Hand hast.«

Levi lächelte. Esther war immer für eine Überraschung gut.

»Nicht?« Stirnrunzelnd strich Alicia mit dem Daumen über den Ein- und Ausschalter.

»Nur zu. Drück drauf.« Esther nickte ermutigend.

Alicia richtete die Taschenlampe auf ein entferntes Regal und drückte den Knopf.

Sofort schoss ein heller Lichtstrahl hervor und hielt an, bis Alicia das Gerät wieder ausschaltete.

»Wie du siehst, funktioniert das Ding wie eine gewöhnliche Taschenlampe.« Esther streckte die Hand aus, und Alicia legte den mattgrauen Metallgegenstand hinein. »Aber sieh mal hier an der Vorderseite der Lampe.« Ihr Finger fuhr an der Einfassung entlang. »Der Teil der Einfassung besteht aus einer Wolframlegierung. Ich habe sie vom Rest der Leuchte isoliert. Wenn sie heiß wird, beeinträchtigt das nicht die Funktion des Reflektors oder der LEDs, die das Licht ausstrahlen.«

Esther klappte einen auf dem Tisch liegenden Laptop auf und brachte hinten an der Taschenlampe ein Kabel an. Dann verband sie ein kleines Gerät über ein USB-Kabel mit dem Laptop und hielt es Alicia hin. »Rechtshänderin oder Linkshänderin?«

»Rechtshänderin.«

Esther klappte das USB-Gerät auf und sagte: »Leg den Zeigefinger auf den Scanner.«

Alicia kam der Aufforderung nach. Die rote LED am Gerät schaltete nach etwa zwei Sekunden auf Grün um, und der Laptop gab einen Piepton von sich.

»Ich hab die Taschenlampe gerade so programmiert, dass sie nur deinen Fingerabdruck erkennt.« Esther entfernte das Kabel von der Taschenlampe und zeigte auf ein etwas dunkleres Quadrat auf der gegenüberliegenden Seite der Einschalttaste. »Wenn du den Zeigefinger zwei Sekunden lang auf das kapazitive Feld hier legst, aktivierst du die Einfassung der Taschenlampe.« Sie stand auf und bedeutete Alicia, ihr zu folgen.

Levi ging hinter den beiden Damen her an mehreren vollen Lagerregalen vorbei, bis sie eine offene Fläche erreichten. Dort hing von den Dachsparren etwas, das nach einem Schweinekadaver aussah.

Esther reichte Alicia die Taschenlampe und sagte: »Wenn du die Einfassung aktivierst, musst du die Taschenlampe wie eine schussbereite Waffe behandeln.«

»Die Einfassung aktivieren?« Mit fragender Miene begutachtete Alicia die Lampe. »Also soll ich ...«

»Nur zu, probier’s aus.« Levi verspürte einen Anflug von Neugier. »Mal sehen, welche Verrücktheit Esther diesmal auf die Welt loslässt.«

Esther drehte sich Levi mit hochgezogener Augenbraue zu. »Muss ich dich daran erinnern, dass dir einige meiner Verrücktheiten schon mehr als einmal den Tuches gerettet haben?«

Alicia streckte den Zeigefinger aus und legte ihn auf das andersfarbige Metallfeld der Taschenlampe. Fast sofort nahm Levi einen leichten Brandgeruch wahr.

Innerhalb von Sekunden begann die Einfassung, tiefrot zu glühen.

»Oha.« Mit großen Augen konzentrierte sich Alicia auf das schimmernde Ende der Taschenlampe.

»In der Einfassung ist eine Induktionsspule, die ein elektromagnetisches Feld erzeugt. Ich habe es so eingestellt, dass es weder die Einfassung selbst beschädigt noch die Isolierung zwischen ihr und den eigentlichen Funktionsteilen der Taschenlampe.«

Levi spürte die Hitze, die Alicias neue Waffe abstrahlte. Er zeigte auf den Schweinekadaver. »Stell dir vor, das Schwein ist ein Angreifer, und du hast einen Dolch in der Hand.«

Alicia verlagerte den Griff um die Taschenlampe. »Aber hält die Waffe den Aufprall aus, wenn ich damit etwas treffe?«

Esther schwenkte wegwerfend die Hand. »Der Großteil der Taschenlampe besteht aus Titan, und die Schaltkreise im Inneren sind darauf ausgelegt, schwere Erschütterungen zu verkraften. Dieses Teil ist so gebaut, dass du es nicht kaputt kriegen wirst.«

»Okay ...« Alicia nahm defensive Haltung ein und umklammerte die Taschenlampe mit der rechten Hand. Ansatzlos entfesselte sie einen Vorwärtstritt gegen das tote Schwein und setzte sofort mit einem Hieb der Taschenlampe nach.

Ein Zischen ertönte, und beißender Rauch stieg auf, als sich eine Hautschicht des Schweins löste.

Alicia bleckte die Zähne und stürzte sich mit einer Wildheit auf den Schweinekadaver, die Levi ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Nach etwa einer halben Minute trat die angehende Studentin einen Schritt zurück und löste den Finger vom Aktivierungsfeld der Taschenlampe.

Levi hatte ihr Disziplin im Umgang mit dem Abzug einer Pistole beigebracht, und ihn freute, dass sie das Prinzip von selbst auf diese neue Waffe übertrug.

Er näherte sich dem schwer lädierten Schwein und fuhr mit einem Finger über die tiefen, von der Waffe in das Fleisch gebrannten Rillen. »Da würde sich jeder wünschen, gar nicht erst geboren worden zu sein.« Er drehte sich zu Alicia um und fragte: »Wie war es, damit zu kämpfen?«

Alicia betrachtete das Ende der Taschenlampe, die nicht mehr glühte. Das Gerät schien unversehrt zu sein. »War verblüffend einfach zu benutzen. Ich hab das Schwein mit jedem Hieb erwischt, aber das heiße Ende hat sich wie geschmiert angefühlt. Ich habe Widerstand gespürt.«

»Es war tatsächlich geschmiert.« Levi rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und spürte glitschiges tierisches Fett dazwischen. »Durch die Hitze hat sich das Fett im Nu von der Haut gelöst. Ich könnte mir vorstellen, dass es bei einem Menschen ziemlich ähnlich wäre. Schweine sind uns ja in vieler Hinsicht ziemlich ähnlich und eignen sich deshalb gut als Testobjekte.«

Esther trat auf Alicia zu und tippte mit dem Finger vorsichtig ans Ende der Taschenlampe. »Ist bereits abgekühlt. Man kann es wieder anfassen. Nach dem Ausschalten dauert es nur ungefähr eine Minute, bis sich die Hitze verflüchtigt hat. Nu, Bubaleh? Glaubst du, dass du so was an der Uni bei dir tragen kannst?«

»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht.« Alicia grinste, bevor sie Levi mit einem eigenartigen Blick bedachte. »Obwohl ich immer noch glaube, dass mein Vater ein bisschen überfürsorglich und paranoid ist. Aber das liegt wohl an seinem Job.«

Esther sah Levi mit großen Augen an. Sie wusste, dass er der organisierten Unterwelt angehörte.

Alicia hingegen hielt Levi für eine Art Geheimagent.

Levi zuckte mit den Schultern. »Ich passe nur auf mein kleines Mädchen auf.«

Die Tür zum Lagerraum öffnete sich. Einer der Zwillinge steckte den Kopf herein und erhob die Stimme: »Oma, der Vertreter von Spalding ist da und sagt, er hat einen Termin mit dir.«

»Ich komme gleich«, rief Esther zurück. »Ich bin hier fast fertig.«

Levis Telefon vibrierte. Nach einem kurzen Blick auf die Anruferkennung entfernte er sich von den Damen und nahm das Gespräch entgegen. »Brice, dich wollte ich ohnehin demnächst anrufen. Was gibt’s?«

»Wir haben eine Spur zu dem russischen Agenten, mit dem unser Handlanger aus Washington geredet hat. Mason will dich darauf ansetzen. Du kannst Russisch und bist einsatzbereit. Also bist du wohl der Richtige dafür, der Spur nachzugehen. Wie schnell kannst du hier sein?«

Levi runzelte die Stirn. »Dir ist schon klar, dass ich nicht euer Angestellter bin, oder? Wir haben nur eine Art Vereinbarung.«

Brice seufzte. »Weiß ich. Aber wir beide wissen auch, dass du uns in der Angelegenheit sehr wahrscheinlich helfen willst.«

Damit hatte Brice nicht unrecht, wenn auch aus anderen Gründen, als er dachte. »Wenn’s sein muss morgen, aber ich brauche im Gegenzug auch was.«

»Und was?«

»Ich muss alles über einen in der Ukraine geborenen Kerl namens Juri Popow und einen russischen Oligarchen namens Jewgeni Karpow wissen.«

»Scheint mir ein bisschen außerhalb deines üblichen Bereichs zu liegen. Aber egal, ich werd sehen, was ich tun kann. Haben sie noch andere bekannte Verbindungen, von denen du weißt?«

»Angeblich haben sie mal für jemanden namens Wladimir Porschenko gearbeitet.«

Levi hörte das Klacken von Tasten, als Brice tippte.

»Hab’s. Oh Scheiße ... Levi, wir haben ein Problem.«

Er schaute zu Esther und Alicia. Die beiden waren damit beschäftigt, einen Karton mit Holstern durchzusehen, vermutlich für die Taschenlampe.

»Was für ein Problem?« Levi ging zum hinteren Ende des Lagerraums.

»Dein Name ist gerade in einer INTERPOL-Benachrichtigung aufgetaucht. Mein Freund, du wirst wegen Mord an einem russischen Staatsbürger gesucht. Jemandem namens Alexander Rybakow. Klingelt da etwas?«

Der Russe in Brighton Beach. Damit war Popow soeben auf Levis schwarzer Liste gelandet.

»Keine Ahnung. Aber etwas kann ich dir garantieren. Es wird keine Beweise für meinen Mord an irgendeinem Russen geben. Vor allem, weil ich niemanden ermordet habe.«

Brice schwieg einen Moment lang, dann begann er zu tippen. »Ich muss mir das genauer ansehen. Aber es bedeutet wohl, dass du eine Zeit lang keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen solltest. Keine Flüge, keine Züge.«

Levis Telefon zeigte summend eine eingehende Nachricht an.

»Ich hab dir gerade die Adresse für einen der Transportknoten des Outfits geschickt. Nimm deinen Outfit-Ausweis mit.«

Levi warf einen Blick auf die Adresse. Sie lag in Harlem. »Dort bin ich schon gewesen. Holt mich am Ziel jemand ab?«

»Keine Sorge, darum kümmere ich mich. Was meinst du, wann du kommen wirst?«

»Ich gehe davon aus, dass es kein Notfall ist, also wahrscheinlich irgendwann am Vormittag.«

»Verstanden. Ruf an, wenn du einsteigst. Ich recherchiere inzwischen die Namen, die du mir gegeben hast.«

Damit endete der Anruf, und Levi ging zurück zu den Ladys. Er legte die Arme um beide und fragte: »Habt ihr Lust auf ein anständiges Mittagessen?«

Esther streifte Levis Arm ab, kniff ihn in die Wange und klopfte Alicia auf die Schulter. »Führ du nur deine Tochter aus und amüsiert euch zusammen. Ich muss mich um den Laden kümmern und um einen Vertreter, der vorn auf mich wartet.«

Als Esther davonging, wandte sich Levi seiner Tochter zu. »Lust auf Italienisch?«

Alicia schlang den Arm um die Taille ihres Vaters, als sie Esther in den Verkaufsbereich des Ladens folgten. »Nur, wenn Onkel Paulie mit reinkommt und mit uns isst. Er ist unheimlich witzig und so leicht in Verlegenheit zu bringen.«

Levi schmunzelte. Er winkte Esther und ihren Enkeln zum Abschied zu, als sie den Laden verließen.

So gern er die spärliche Zeit mit seiner Ältesten genießen wollte, als sie in den SUV stiegen und für ein schnelles Mittagessen zu Sal’s fuhren, musste Levi unwillkürlich daran denken, was Brice gesagt hatte.

Du wirst wegen Mord an einem russischen Staatsbürger gesucht.