Der Uber näherte sich der Ecke Lenox Avenue und West 127th Street in Harlem. Levi dankte dem Fahrer und stieg aus. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Auf den Straßen ging es ruhig zu. Der Großteil der Menschen im Viertel schlief noch, obwohl die Sonne demnächst über den Horizont klettern würde.
Als Erwachsener hatte Levi überwiegend in der Stadt gewohnt, und bis vor einigen Jahren war sein Leben unkompliziert gewesen. Für Normalsterbliche gehörte er zu den namenlosen, gesichtslosen Fußgängern, die durch die Stadt liefen. Eingeweihte kannten ihn als Vollmitglied der Cosa Nostra . Als Problemlöser der Mafiafamilie Bianchi. Im Augenblick jedoch hatte er das Gefühl, zwei Leben zu führen.
An diesem Morgen war er weder der Problemlöser noch der Mafioso. Er war ein Agent des Outfits. Und obwohl Vinnie davon wusste, fühlte es sich seltsam an, wie jemand anders als der Mann durch die Stadt zu gehen, der er immer gewesen war.
Zu diesem Ort konnte er sich nicht von einem der Jungs chauffieren fahren lassen. Das würde zu viele Möglichkeiten für Fragen eröffnen – Fragen, die er nicht beantworten konnte.
Erst kürzlich hatte er selbst diesen ungewohnten Zwiespalt seiner Rollen gefestigt, indem er Alicia anvertraut hatte, dass er für eine geheime Organisation arbeitete. Von den Einzelheiten hatte sie keine Ahnung, und er hielt es für besser, die Realität seines anderen Lebens so weit wie möglich von ihr fernzuhalten.
Levi näherte sich dem unbeschilderten Nachtclub. Er musste grinsen, als er sich vorstellte, wie er in die Rolle von jemandem schlüpfen würde, den die meisten Menschen wohl als Bond-Verschnitt betrachten würden.
Technomusik dröhnte durch eine von lila Neonlichtern umgebene Tür heraus. Die beiden Rausschmeißer links und rechts daneben starrten ihn an, als er sich näherte.
Jeder der beiden Muskelprotze wog vermutlich um die 130 Kilo und hatte den Körperbau eines Gewichthebers. Keiner ließ auch nur einen Hauch von Humor erkennen. Man hätte meinen können, sie wären direkt von einem Casting rekrutiert worden, bei dem nach jemandem wie Clubber Lang auf Steroiden gesucht worden war.
Levi trug die Kontaktlinse von Denny. Er hatte sich bereits fast daran gewöhnt, dass sie automatisch das Gesicht einer Person hervorhob und ihm den Namen dazu anzeigte. Aber als er sich den Männern an der Tür des Nachtclubs näherte, erschienen rote Rahmen um ihre Gesichter, und darunter blinkte »unbekannt« . Nicht weiter überraschend bei Leuten, die für das Outfit arbeiteten. Levi wusste es zwar nicht mit Sicherheit, hielt es jedoch für wahrscheinlich, dass die Mitglieder der Organisation aus den meisten Datenbanken gelöscht wurden.
Er trat vor die Türsteher. Bevor er das Wort ergreifen konnte, tat es einer der beiden mit einem leichten jamaikanischen Akzent. »Ich muss einen Ausweis sehen, Mr. Yoder.«
Offensichtlich wurde er erwartet.
Levi kramte die Münze aus der Tasche und streckte sie vor sich.
Der Türsteher ergriff den anderen Rand der Münze, und als das Auge darauf leuchtete, traten beide Männer zur Seite und bedeuteten Levi, einzutreten.
Obwohl er wusste, dass es sich beim Aussehen des Gebäudes nur um eine Fassade handelte, wappnete sich Levi beim Öffnen der Tür für einen akustischen Ansturm.
Aber kaum hatte er sie aufgezogen, verstummte die Technomusik. Er trat in völlige Stille ein.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, setzte die Musik gedämpft wieder ein – von draußen .
Oder anscheinend aus der Tür selbst.
Es handelte sich nur um eine von vielen Täuschungen, die sich das Outfit ausgedacht hatte. Levi hatte schon in anderen Teilen der Welt mehrere ähnlich getarnte Einrichtungen der Organisation kennengelernt.
Diesmal stand er in einer holzgetäfelten Lobby, in der es frisch nach Holzpolitur und Pfeifentabak roch. Auf der anderen Seite des Empfangsschalters befand sich ein großer, dünner, weißhaariger Mann. Grinsend steuerte Levi auf den Schalter zu.
Er war dem Mann schon begegnet.
»Mr. Yoder, wie schön, Sie wiederzusehen. Sie werden erwartet.« Der Mann sprach mit einem überaus vornehmen britischen Akzent, der Levi an den Butler aus Downton Abbey erinnerte. »Ihren Ausweis bitte.«
Levi streckte die Münze aus, und als der Mann den anderen Rand ergriff, begann das Auge zu leuchten. »Schön, Sie wiederzusehen, Watkins. Lösen Sie sich diesmal wieder in Luft auf?«
»Sir?« Der ältere Mann legte den Kopf schief. In der sonst stets so stoischen Miene zeichnete sich ein Hauch von subtiler Belustigung ab.
»Egal. Ich bin wohl hier, um nach Washington zu reisen.«
»Ach, richtig.« Watkins nickte. »Wie ich höre, haben Sie leichte Schwierigkeiten mit INTERPOL.«
»Sie hören ganz schön viel dafür, dass sie nur der ... wie haben Sie sich letztes Mal genannt? Ach ja, dafür, dass sie nur der Besitzer dieser Einrichtung sind.«
Watkins zuckte mit den Schultern. »Ich weiß genug, um die Mission ordnungsgemäß in die Wege zu leiten.« Er winkte Levi in einen Gang auf der linken Seite. »Bitte folgen Sie mir, bevor Sie gehen.«
Levi begleitete Watkins durch einen Flur, erhellt von altmodischen Wandleuchtern mit Glühbirnen, die wie Flammen flackerten. Diesmal achtete Levi mit geschärften Sinnen auf jede noch so kleine Einzelheit.
Beim letzten Mal war Watkins wie von Geisterhand verschwunden, und die Gänge hatten nicht alle dorthin zurückgeführt, wo sie ursprünglich begonnen hatten. Das gesamte Gebäude hatte etwas von einem Spukhaus, in dem sich Korridore verschieben und der Besitzer spurlos verschwinden konnte. Diesmal wollte Levi die Tricks durchschauen.
Am Ende des Flurs stand eine Tür einen Spalt offen. Watkins blieb davor stehen. »Sir, wie zuvor betreten wir ab hier die Domäne unseres Quartiermeisters.« Mit einer ausladenden Geste deutete Watkins zur Tür. »Nach Ihnen.«
Levi schob die Tür auf. Dabei bemerkte er, dass sie etwa 15 Zentimeter dick war. Obwohl sie Hunderte Kilo wiegen musste, bewegte sie sich geräuschlos auf gut geölten Scharnieren.
Als Levi hindurchtrat, ging flackernd Licht an und erhellte einen Raum mit einzelnen Spinden. Er wandte sich an Watkins. »Gibt’s einen Grund, warum wir nicht direkt zum Zug gehen?«
Watkins zuckte mit den Schultern. »Ich befolge nur Anweisungen, Mr. Yoder.« Watkins deutete auf eine Stange in der Mitte des Raums. Etwa in Augenhöhe befand sich ein Sichtfeld, das an ein Periskop an Bord eines U-Boots erinnerte. »Wenn Sie so nett wären, blicken Sie bitte in den biometrischen Scanner.«
Levi schüttelte den Kopf, als er sich dem Scanner näherte. Dieselbe Routine hatte er schon vor einigen Jahren abgespult, und diesmal fühlte es sich ein wenig seltsam an. Er musste nur ein paar hundert Kilometer nach Süden reisen. Diesmal hatte er keinen Angriff auf das geheime Hauptquartier ehemaliger Nazis in Südamerika vor. Zumindest wusste er nichts davon.
Als Levi die Augen vor das Visier hielt, ging ein grünes Lämpchen an, gefolgt von einer Reihe klickender Geräusche. Dann nichts mehr.
Levi trat zurück und stellte fest, dass die Türen mehrerer Spinde aufgesprungen waren.
»Sir«, ergriff Watkins das Wort und deutete auf den nächsten Spind, »ich glaube, Sie kennen den Ablauf. Das Hauptquartier hat mich ersucht, Sie für den bevorstehenden Einsatz angemessen auszustatten.«
»Einsatz?« Levi runzelte die Stirn, als er zum Spind ging. Er hatte sich noch nicht zu einem Einsatz verpflichtet.
Aus dem ersten Spint entnahm er eine Pistole mit einem Schulterholster und mehreren Reservemagazinen.
»Das ist eine Lebedew russischer Bauart, Modell PL-15K. Es handelte sich um eine kompakte Neun-Millimeter-Pistole mit einem Magazin für 14 Patronen und einer bereits im Lager. Sie hat einen Direkt-Abzug mit geringem Abzugsgewicht und kurzer Lauflänge.«
Levi drehte sich Watkins zu und hielt die Waffe hoch. »Ich habe schon zwei Schusswaffen bei mir. Warum diese?«
»Sir, ich denke, das Management hat seine Gründe.«
Levi zog sein Jackett aus, legte das Schultergurtzeug aus Leder an und steckte die russische Pistole ins Holster.
Der nächste Spind enthielt eine Brieftasche mit einem militärischen Ausweis namens CAC für Common Access Card, eine einheitliche Zugangskarte. Auf einer gelben, daran befestigten Haftnotiz stand: »Nach der Ankunft im Hauptquartier abzugeben.«
Levi steckte den Ausweis ein. Vermutlich würde er ihn nur brauchen, weil er mitten auf der Joint Base Andrews auftauchen würde.
Er ging zum letzten offenen Spind und holte ein handtellergroßes rotes Heft mit kyrillischer Schrift auf der Umschlagseite heraus. Ein russischer Pass.
Levi klappte ihn auf. Sein Gesicht blickte ihm entgegen. Der Reisepass lautete auf den Namen Maxim Wolkow.
Die halbautomatische russische Pistole und der Reisepass lieferten deutliche Hinweise dafür, dass dem Outfit für ihn vorschwebte, und es beinhaltete eine Reise nach Russland.
Dem hatte er noch nicht zugestimmt.
Er dachte daran zurück, was der russische Pate darauf erwidert hatte, dass einige seiner Leute ihn nie wieder zurückrufen würden.
Das ist bedauerlich, aber ich habe verstanden. Fehler kommen vor.
Fehler kommen vor ...
Nur der russische Mafioso konnte ihm INTERPOL auf den Hals gehetzt haben. Offensichtlich hatte der Mann eigene Pläne für Lazarus Yoder.
Falls Popow ihn ungeachtet seiner Worte beseitigen lassen wollte, musste sich Levi um die Bedrohung kümmern. Vinnie würde sich verpflichtet fühlen, ihm zu helfen, weil die Ursache des bösen Bluts eine Angelegenheit der Cosa Nostra gewesen war.
Einen Mafiakrieg konnte die Familie Bianchi nicht gebrauchen.
Watkins zeigte in Richtung der Tür, durch die sie eingetreten waren. »Mr. Yoder, wenn ich mich nicht irre, benötigen Sie eine Reise.«
Levi nickte. Er musste unbedingt ein Gespräch mit Brice führen. Vielleicht wäre eine Reise nach Russland tatsächlich sinnvoll. »Gehen wir.«
Der weißhaarige Mann lächelte und bedeutete Levi, ihm zu folgen.
Sie kehrten durch denselben Flur zurück, durch den sie gekommen waren. Wie beim letzten Mal war der Eingangsbereich verschwunden. Wieder hatten sich die Gänge irgendwie verschoben, obwohl Levi diesmal auf jede Kleinigkeit geachtet hatte. Sie gelangten stattdessen in einen kleinen Raum mit einer nach unten führenden Treppe.
Levi sah Watkins an. »Warum ändert sich, wo die Flure beginnen und enden? Wo ist der Eingangsbereich?«,
»Sir, Sie wissen so gut wie ich, dass Sie nicht in den Eingangsbereich müssen.« Watkins warf ihm einen geradezu mitleidigen Blick zu und deutete zur Treppe. »Der Zug wartet auf Sie.«
Da Levi noch vom letzten Mal wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Mann zu diskutieren, trat er den Weg die Treppe hinunter an.
In der kleinen Kammer unten erblickte Levi einen schnittigen Eisenbahnwaggon, der ihn mit offenen Türen erwartete.
Nur wenige in die Decke eingelassene LED-Leuchten erhellten schwach den Raum. Es roch leicht nach Feuchtigkeit, was wahrscheinlich vom Grundgestein ausging.
Levi stieg ein.
Von einer körperlosen Stimme wurde verkündet: »Der Zug fährt in zehn Sekunden ab. Bitte halten Sie sich an einer Stange fest, sonst werden Sie wahrscheinlich rückwärts geschleudert. Dies ist die einzige Warnung.«
Levi nahm Platz und griff nach einer der Stangen.
»Fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei. Eins.«
Levi rutschte rückwärts, als der Zug mit einer Geschwindigkeit beschleunigte, die mit der eines Rennwagens mithalten konnte. Innerhalb von Sekunden wurde der Fahrtwind heftiger, als der Zug durch die Dunkelheit raste.
Anders als bei seiner ersten Fahrt wusste er mittlerweile etwas mehr über das Outfit und dessen Geschichte. Der Zug stellte nur ein Beispiel für die verborgenen Ressourcen der jahrhundertealten Organisation dar. Kaum vorstellbar, dass man ihn bauen konnte, ohne dass andere davon erfahren hatten.
Immerhin musste es Jahre gedauert haben, den Tunnel durch all das Gestein zu treiben.
Knapp 40 Minuten lang raste Levi mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin, bevor sich die Fahrt verlangsamte.
Die körperlose Stimme ertönte wieder. »Wir treffen in etwa fünf Minuten auf der Joint Base Andrews ein. Bitte steigen Sie erst aus, wenn der Zug vollständig zum Stehen gekommen ist.«
Levi schätzte, dass er innerhalb einer Stunde über 300 Kilometer entlang der Ostküste zurückgelegt hatte – ein Tempo, das dem des japanischen Hochgeschwindigkeitszugs entsprach.
Nach dem Einfahren in einen hell erleuchteten Raum kam er sanft zum Stillstand.
Die Türen öffneten sich, und Levi stieg aus. Eine junge Offizierin nahm ihn in Empfang. »Mr. Yoder, kann ich bitte Ihre CAC sehen?«
Levi holte den laminierten Militärausweis hervor, die so genannte Common Access Card, und reichte ihn der Frau.
Sie führte die Karte in ein Lesegerät ein, und eine LED blinkte mehrmals gelb, bevor sie konstant grün leuchtete. Lieutenant Humphries gab ihm den Ausweis zurück und deutete mit dem Daumen in Richtung der Treppe zu ihrer Linken. »Mr. Yoder, auf dem Rollfeld wartet auf Sie ein Wagen, der Sie zu Ihrem Ziel bringt.«
»Danke, Lieutenant.«
Levi lief die Treppe hinauf und kniff die Augen zusammen, als ihn auf dem großen Flugplatz grelles Sonnenlicht begrüßte.
Beim letzten Mal war er mitten in der Nacht gerade noch rechtzeitig zum Beginn einer gefährlichen Mission eingetroffen.
Ein SUV mit schwarz getönten Scheiben und Blaulicht rollte neben ihn. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen. Am Steuer saß Direktor Mason. »Levi, steigen Sie ein. Wir müssen reden.«
* * *
Levi schaute von den Überwachungsberichten auf, die er gerade studierte, als sich die Tür zum Besprechungszimmer öffnete und Mason mit Brice eintrat. Nach ihnen folgten ein Mann mittleren Alters mit olivfarbenem Teint und ein großer, vornehm wirkender, blasser Mann mit dunklem Haar und grau melierten Schläfen. Beide hatte Levi noch nie zuvor gesehen.
Als die Tür geschlossen wurde, färbten sich die Fenster milchig weiß, wodurch niemand hereinsehen konnte. Alle nahmen Platz, Mason am Kopfende des Tischs.
Der Direktor der OCID zeigte auf den dunkelhäutigen Mann und sagte: »Levi, das ist Giuseppe Russo. Vielleicht ist er Ihnen in Washington schon über den Weg gelaufen. Er war früher bei der DIA und überwacht einige unserer verdächtigen Kongressabgeordneten.«
Der Mann stand auf, beugte sich über den Tisch und reichte Levi die Hand. »Nennen Sie mich einfach Joe.«
»Zu Ihrer Rechten sitzt Gregor Manheim. Da er diese Woche hier ist, habe ich ihn zu der Besprechung eingeladen, damit Sie beide sich kennenlernen können. Er ist unser Direktor für Europa und Eurasien. Normalerweise arbeitet er von Deutschland aus.«
Levi schüttelte auch ihm die Hand.
»Er verkörpert die Augen und Ohren für das Outfit in dem Teil der Welt. Wahrscheinlich wird er uns bei der Logistik für Ihre bevorstehende Mission helfen.«
»Moment.« Levi tippte auf Papierstapel, den Mason bei ihm gelassen hatte. »Ich bin noch nicht alles durch, aber von welcher Mission reden wir?«
»Eine Verkettung von Ereignissen hat uns hierhergeführt.« Masons starrer Blick richtete sich mit einem kaum merklichen Lächeln auf Levi, bevor er sich an den Italiener wandte. »Joe, informieren Sie Levi kurz über den bisherigen Stand der Dinge. Danach können wir die nächsten Schritte besprechen.«
Russo räusperte sich und schaute nachdenklich drein, als müsste er sich erst sammeln. »Also, wir überwachen mehrere Kongressmitglieder und bestimmte wichtige Beamte.« Er deutete auf Levi. »Einem dieser Beamten, Tony Banks, haben Sie kompromittierende Fotos der Frau eines bestimmten Kongressabgeordneten übergeben. Wir haben danach die Überwachung für ihn und seiner Frau intensiviert, weil wir wussten, dass mit überdurchschnittlich hoher Wahrscheinlichkeit irgendetwas passieren würde.
Wir hatten recht.
Der betroffene Abgeordnete hatte einen heftigen Streit mit seiner Frau. Wir haben die vollständige Tonaufzeichnung davon.
Dem Beamten, dem Sie die Fotos übergeben haben, ist es eindeutig irgendwie gelungen, mit dem Abgeordneten zu reden. Das war der Kern des Schreiduells zwischen dem Paar.«
Russo runzelte die Stirn. »In unserer Überwachung muss es eine Lücke geben. Der Beamte muss mit dem Abgeordneten gesprochen haben, weil sich der Streit um Fotos gedreht hat. Aber wir wissen nicht, wie der Beamte an ihn rangekommen ist. Wir dachten, wir hätten sämtliche Kommunikationswege im Blick. Aber der Dialog ist uns entgangen. Also haben wir die Streckenmuster sowohl des Abgeordneten als auch des Beamten analysiert.«
»Peilsender an ihren Autos?«, fragte Levi.
Brice nickte. »Ja. Haben wir an den Privatautos fast aller Abgeordneten. Außerdem an allen Limousinen und Dienstfahrzeugen.«
Russo deutete mit dem Daumen in Brice’ Richtung. »Dank Agent Brice wissen wir, dass der Beamte und der Kongressabgeordnete auf demselben Supermarktparkplatz in Bethesda waren. Nur fünf Minuten, dann sind beide wieder gefahren.«
»Das könnte erklären, wie der Abgeordnete von den Fotos erfahren hat.« Levi legte die Stirn in Falten. »Aber es erklärt nicht, wie das Treffen bei Supermarkt zustande gekommen ist.«
»Richtig.« Russo nickte. »Agent Brice hat uns außerdem einen langen Verlauf der Fahrstrecken des Beamten verschafft. Wir haben nach Mustern gesucht und keine gefunden. Aber wir hatten Glück ...
Es war reiner Zufall, dass ich ausgerechnet in einer Pizzeria in Arlington war. Sie liegt nur etwa einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Ich weiß noch, dass ich mich fast an einem Stück Pizza verschluckt hätte, als der Beamte reingekommen ist. Damals war ich eben erst auf ihn angesetzt worden und zu dem Zeitpunkt nicht im Dienst. Ich habe mich nicht allzu sehr auf ihn konzentriert, weil ich seine Aufmerksamkeit nicht erregen wollte. Aber rückblickend war die Begegnung irgendwie merkwürdig.«
»Inwiefern?«, fragte Levi.
»Na ja, er ist reingekommen, hat sich im Flüsterton mit jemandem hinter dem Tresen unterhalten und ist dann nach hinten verschwunden. Dort sind im Restaurant die Toiletten, deshalb dachte ich mir, er wäre pinkeln gegangen. Kurz darauf hat er das Restaurant mit leeren Händen verlassen und ist davongefahren.«
Brice grinste. »Nur hat der Mann die Pizzeria in den letzten drei Wochen sieben Mal besucht. Und nie länger als ungefähr fünf Minuten.« Er deutete auf Russo. »Dann hat er mir von der Zufallsbegegnung erzählt, und mein sechster Sinn hat Alarm geschlagen.«
Levi grinste. Brice besaß etliche Fähigkeiten, die ihn zum Quartiermeister und Technikguru des Outfits gemacht hatten. Mittlerweile hatte Levi jedoch festgestellt, dass der Mann zudem hervorragende Instinkte hatte.
»Ich hab über die Pizzeria recherchiert«, fuhr Brice fort. »Und siehe da – sie gehört einem Eingebürgerten. Ehemaliger Greencard-Inhaber. Ist vor etwa acht Jahren in die USA gekommen.«
»Lass mich raten.« Levi spürte das Gewicht der russischen Lebedew-Pistole im Schulterholster. »Der Besitzer stammt aus Russland?«
»Volltreffer.« Brice nickte. »Nachdem ich das rausgefunden hatte, hab ich noch tiefer gegraben. Zu dem Grundstück führen drei aktive Telefonleitungen. Nachforschungen haben ergeben, dass zwei für den Betrieb gelistet sind und auch aktiv dafür genutzt werden. Eine Sprachleitung, eine für Bestellungen per Fax. Die dritte Nummer scheint in keinerlei Werbung des Ladens auf.
Ich habe alle drei Leitungen angezapft und festgestellt, dass zwei tatsächlich für den legitimen Restaurantbetrieb verwendet werden. Die dritte hat bei mir alle möglichen Alarmglocken ausgelöst. Die Daten, die wir von den wenigen Nutzungen der dritten Leitung extrahiert haben, waren Schrott. Sie ist mit einer starken Punkt-zu-Punkt-Verschlüsselung gesichert. Ich kann nicht sagen, wofür sie verwendet wird.«
»Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen.« Levi beugte sich auf dem Stuhl vor. »Du hast gesagt, du hast die Leitung angezapft. Kannst du nicht einfach feststellen, ob darüber gesprochen oder etwas anderes übertragen wird?«
Brice schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Wenn ich eine Telefonleitung anzapfe, dann in der Zentrale, wo die Anrufe und Daten über die Kabel im Telefonnetz laufen. Auf einer normalen, unverschlüsselten Leitung kann ich alles übersetzen, was über die Verbindung läuft, ob Sprache oder Daten. Aber die Verschlüsselung beschränkt massiv, was ich machen kann.«
»Kannst du sie nicht entschlüsseln?«
»Hab ich versucht, das kannst du mir glauben.« Brice grinste. »Ich habe die Datenmuster analysiert. Vermutlich ist die verwendete Methode eine Kombination aus Axolotl-Ratchet-Protokoll und erweitertem, dreifachen Diffie-Hellman-Schlüsselaustausch. Würde mich nicht wundern, wenn Curve25519 für die asymmetrischen kryptographischen Operationen eingesetzt wird. Mit anderen Worten, jemand muss da rein und eine simple Wanze anbringen.«
Levi zog eine Augenbraue hoch. »Und da komme ich ins Spiel?«
»Ja und nein«, warf Mason ein. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass dieser Beamte mit jemandem in Russland kommuniziert – aber wir brauchen es bestätigt und müssen wissen, mit wem, bevor wir übereilt handeln.«
»Wir wissen, dass die verschlüsselte Leitung von dem Beamten benutzt wird, mit dem du dich getroffen hast«, streute Brice ein. »Die Leitung scheint mehrmals pro Woche benutzt zu werden, die halbe Zeit zufällig dann, wenn unser Mr. Banks in der Pizzeria ist.«
Mason nickte. »Ich hätte da ein paar Ideen, wie Sie uns helfen können, mehr Informationen zu sammeln. Aber bevor wir darauf eingehen, möchte ich über die Namen reden, die Sie Brice genannt haben. Popow und Karpow.« Er wandte sich an den Mann rechts von Levi und sagte: »Gregor, klären Sie uns auf, wer die beiden sind, ja?«
Manheim drehte sich Levi zu und ergriff mit einem leichten deutschen Akzent das Wort. »Juri Popow hat eine Führungsrolle in der berüchtigten Gruppe Wagner. Das ist eine paramilitärische russische Organisation, die von den umstrittenen Regionen der Ukraine aus operiert. Wir wissen mit Sicherheit, dass die Gruppe Wagner Verbindungen zum Kreml hat. Und da zwischen Russland und der Ukraine immer wieder Grenzstreitigkeiten aufflammen, vermuten wir, dass Popow und seine Mitarbeiter bei der russischen Regierung punkten wollen, indem sie die Ukraine destabilisieren. Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, ist er ein unangenehmer Zeitgenosse mit einem guten Draht zur russischen Staatsführung. Über seinen Alltag ist wenig bekannt.«
Levi knirschte mit den Zähnen, als er daran zurückdachte, was Popow ihm über seinen Rivalen erzählt hatte:
Leider gehört der gute Jewgeni zu den geschützten Personen in meinem Land. Er ist mit dem Präsidenten befreundet. Jewgeni ist ständig von einem Ring von Leuten umgeben, den niemand von meinen Leuten durchdringen kann.
Glauben Sie mir, die Welt wäre besser dran, wenn Jewgeni nicht mehr atmet.
Wenn Popow einer Gruppe mit Verbindungen zum Kreml angehörte und der Kreml neuerdings mit dem russischen Präsidenten gleichzusetzen war, wurde das Fundament von Popows Geschichte ziemlich bröcklig.
»Und Karpow?«, fragte Levi.
Gregor rieb sich den Nacken. »Jewgeni Karpow ist ein interessanter Mann. Sein Vater war Mitglied der russischen Staatsduma. Man kann ihn sich als Pendant eines amerikanischen Kongressabgeordneten vorstellen.
Wie sein Vater bewegt sich Jewgeni in politischen Kreisen, allerdings scheint er sich mehr für schnellen Reichtum aus den Trümmern der ehemaligen Sowjetunion zu interessieren. Hauptsächlich beschäftigt sich seine Firma, die Wostok Gruppe, mit Rohstoffhandel.«
»Vergessen Sie nicht, dass auch dafür der Segen der russischen Regierung nötig ist. Deshalb ist es trotz legitimem Anstrich suspekt«, merkte Mason mit verzogenem Gesicht an. »Korruption in der einen oder anderen Form zieht sich heutzutage durch praktisch alle politischen Kreise.«
Manheim nickte. »Eine treffende Einschätzung. Erschwerend kommt das feindselige Klima an der russischen Grenze hinzu. Die westlichen Sanktionen gegen Russlands Zugriff auf SWIFT ...«
»SWIFT?«, fragte Levi dazwischen.
»Ich vergesse immer wieder, wofür genau die Abkürzung steht, aber mit dem System werden Zahlungen von Banken abgewickelt. Zu den Sanktionen gegen Russland gehören Hürden, die das Land daran hintern über das weltweite Bankensystem zu bezahlen oder bezahlt zu werden. Uns liegen etliche Berichte aus Russland vor, dass die Eliten darüber ziemlich aufgebracht sind. Personen mit einem besonderen Nahverhältnis zum Kreml müssen damit rechnen, dass ihre Aktiva im Ausland eingefroren oder beschlagnahmt werden. In der Finanzwelt ist Russland einem Pariastaat gleichzusetzen. Betroffen ist davon nicht nur die Oberschicht. Auch das gemeine Volk knabbert hart daran. Viel davon geht auf die skrupellose Unterdrückung der Medien und der Meinungsfreiheit in Russland zurück. Die russische Bevölkerung ist völlig von ausländischen Medien abgeschnitten, und der Kreml schiebt natürlich alles den westlichen Mächten in die Schuhe, insbesondere den NATO-Mitgliedern.«
Levi verfolgte die Nachrichten nicht allzu genau, aber sogar er hatte Berichte über höllische Zustände in der Ukraine und in Teilen Russlands mitbekommen. Wie viel davon der Wahrheit entsprach, galt als umstritten. Aber was Manheim beschrieben hatte, erweckte den Eindruck, als würden die Medien die Probleme innerhalb Russlands herunterspielen. Er malte sich alptraumhafte Zustände für das russische Volk aus.
Und darauf soll ich mich einlassen?, ging Levi durch den Kopf.
»Bei meinen Informationen über Karpow muss ich ein Wort der Warnung vorausschicken. Die Daten, die ich über ihn habe, sind korrekt und stammen aus der Zeit vor dem Beginn der Krise zwischen Russland dem Westen. Allerdings könnte sich die Lage seither drastisch verändert haben.
Unser letzter Stand ist, dass Karpow zweifellos ein sehr betuchter Mann ist. Wir haben keine Aufzeichnungen darüber, dass er direkt oder indirekt für irgendwelche kriminellen Unternehmungen verantwortlich zeichnet. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass Jewgeni Karpow so legitim ist, wie es ein russischer Oligarch nur sein kann. Und wie Direktor Mason angedeutet hat, sollten Sie das mit einer gehörigen Portion Skepsis betrachten.«
Levi nickte.
»Aber« – Manheim deutete in Brice’ Richtung, »ich habe mit Agent Brice’ Hilfe zu erahnen versucht, warum Sie sich nach diesen beiden Männern erkundigt haben könnten. Ich bin auf keine eindeutige Verbindung zwischen Ihnen und Popow gestoßen. Dafür hat sich bei der Suche etwas ausgesprochen Merkwürdiges im Zusammenhang mit Karpow aufgetan.« Er schaute zu Brice. »Könnten Sie erklären, was Sie gefunden haben?«
»Klar.« Brice zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Hemdtasche und faltete ihn auseinander. »Ich habe eine recht einfache Suche durchgeführt, um eine Verbindung zwischen deinem Namen und den beiden herzustellen, die du uns genannt hast. Wie von Manheim erwähnt, hat sich bei Popow nichts ergeben. Aber bei der Suche in den russischen Medien bin ich über etwas sehr Eigenartiges gestolpert. Ausgerechnet in der Prawda .«
»Ist das nicht die sowjetische Zeitung, die im Wesentlichen die Propagandaabteilung der UdSSR war?«, fragte Levi.
»Ja. Ob du’s glaubst oder nicht, es gibt sie immer noch. Im neuen Russland wird sie von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation geleitet. Dein Name ist darin vor ein paar Jahren in einer Suchanzeige aufgetaucht.«
»Was? Wie ...« Und plötzlich fiel Levi ein, was Popow gesagt hatte.
Aber ich weiß, dass Jewgeni mit Ihnen reden will, Lazarus Yoder.
»Lass mich raten – du hast nach Lazarus Yoder gesucht?«
»Genau!« Brice’ Augen weiteten sich. Er blickte auf das Papier. »Ist eine merkwürdige Suchanzeige. Die Übersetzung ist halt von Google, aber so ungefähr steht da: ›Suche nach lange verschollenem Bruder, Lazarus Yoder. Zahle für Informationen, die führen zu seiner sicheren Rückkehr zur Familie.‹«
»Schon ein bisschen schräg, zumal ich keine Brüder habe.« Levi presste die Lippen zusammen, während sich seine Gedanken überschlugen und er versuchte, schlau aus dem Text zu werden, hinter dem sich eine zweite Bedeutung zu verbergen schien. »Ich gehe mal davon aus, dass du mir davon erzählst, weil du die Anzeige irgendwie mit Karpow in Verbindung gebracht hast.«
»Richtig. Ich hab mir die Telefonnummer und die Postanschrift in der Annonce angesehen und mich sogar in die Datenbank der Prawda gehackt, um mir die Zahlung dafür anzusehen. Die kam von einer Briefkastenfirma, die Karpow gehört.«
»Tja, Mr. Yoder.« Mason richtete einen eindringlichen Blick auf Levi. »Anscheinend warten auf Sie ungelöste Rätsel, die mit einem russischen Oligarchen zu tun haben. Aber lassen wir das mal kurz beiseite. Es lenkt ab. Reden wir über die Pizzeria.«
Levi verlagerte den Blick auf Brice. »Brice, ich vermute, du hast ein paar kleine Geräte, die im und um das Restaurant herum platziert werden sollen. Und wohl auch an dieser dritten Leitung, richtig?«
Der Technikguru nickte. »Ich habe eine Tüte davon für dich vorbereitet.«
»Und der Laden ist in Arlington?«, fragte Levi.
Russo nickte. »Ja.«
»Okay, dann brauche ich deine Wanzen.« Levi ließ den Blick um den Tisch wandern und richtete ihn schließlich auf Mason. »Außerdem brauche ich ein bisschen Bares vom Outfit, ohne dass viele Fragen gestellt werden.«
Mason verzog die Lippen zu einem verhaltenen Lächeln. »Von wie viel reden wir?«
»Etwa 10.000 Dollar sollten reichen. Erwarten Sie es nicht zurück.«
Alle Blicke im Raum hefteten sich auf Mason, der fast zehn Sekunden lang nicht mal blinzelte, bevor er schließlich nickte. »Na schön. Bekommen Sie in 20 Minuten. Was haben Sie vor?«
Levi grinste. »Es ist wohl besser, wenn wir nicht über die Einzelheiten reden. Ich werde tun, was ich kann, damit Brice’ kleines Spielzeug platziert wird. Erst muss ich noch ein paar Anrufe erledigen, aber gehen wir davon aus, dass ich mich morgen Abend um die Pizzeria kümmere.«
Mason stand auf und zeigte auf den Papierstapel vor Levi. »Machen Sie sich damit vertraut, während Sie hier sind. Es wird sich als nützlich erweisen, falls sich die Sache in die Richtung entwickelt, die ich vermute.«
Als sich auch die anderen erhoben und nacheinander den Besprechungsraum verließen, wusste Levi, an wen er sich wenden würde.
Dino Minelli würde ihm dabei helfen können, was ihm vorschwebte. In Virginia bedurfte alles der Zustimmung von Don Marino, dem Oberhaupt der Mafiafamilie Marino. Und unabhängig davon, dass Levi in dem Fall für das Outfit handelte, mussten in dieser Welt bestimmte Protokolle eingehalten werden.
Vor allem bei dem, was er für diese Pizzeria plante.