Als Levis Handy auf dem Nachttisch klingelte, streckte er sich danach und nahm den Anruf entgegen. »Wer ist da?«, fragte er, bevor er laut gähnte.
»Levi, ich habe der Air Force eine C-37B für Ihren Flug abgeschwatzt.« Masons raue Stimme drang über die Leitung. »Unten wartet ein Fahrer auf Sie, der Sie sofort nach Andrews bringt.«
Levi schlug das Bettlaken zurück und blickte auf die Uhr. Fünf Uhr morgens und noch dunkel draußen. »Von Schlaf haltet ihr beim Outfit nicht viel, was?«
»Unterwegs haben Sie ungefähr zehn Stunden zum Schlafen. Der Fahrer händigt Ihnen eine Aktentasche mit den Missionsunterlagen aus, damit Sie sich einlesen können. Sie finden darin Hintergrundinformationen über Ihre Zielperson sowie eine Liste von Kontakten im Land.«
Levi schaltete das Telefon auf Lautsprecher und warf es aufs Bett, damit er sich während des Gesprächs anziehen konnte. »Hat Brice besorgt, was ...«
»Alles, was Sie verlangt haben, und ein paar Kleinigkeiten mehr werden auf der Joint Base Andrews in der Maschine sein. Und bevor Sie nach unten hasten, sollen Sie noch wissen, dass wir Sie auf dem gesamten Weg unterstützen. Unsere Leute in Incirlik nehmen Sie bei der Landung in Empfang und bringen Sie ins Feindgebiet. Etwas müssen Sie noch wissen. Alles mit irgendwelchen Identifizierungsmerkmalen wie einer Seriennummer muss zurückbleiben. Beispielsweise eine Handfeuerwaffe in ihrem Besitz, die nicht aus russischer Produktion stammt. Unsere Leute statten Sie mit allem aus, was Sie brauchen.«
Levi schlüpfte in seine kugelsichere Weste. »Was ist mit meinem Anzug und meiner restlichen Kleidung? Ist alles maßgefertigt, hat keine Etiketten und sollte eigentlich nicht rückverfolgbar sein.«
»Auch die Unterwäsche? Die Socken?«
»Na ja, ein paar Sachen habe ich wohl auch von der Stange.« Levi runzelte die Stirn, als er in seine Schuhe schlüpfte und ihm bewusst wurde, dass er nicht die richtige Kleidung für einen körperlichen Einsatz trug.
»In unserer Außenstelle werden Sie einen Mr. Osman treffen. Er kümmert sich darum, was Sie vor Ort brauchen.«
Levi schnappte sich das Telefon, schaltete den Lautsprecher aus und ging zur Tür. »Na, wenn Sie das sagen ... Okay, ich gehe jetzt nach unten.«
»Verstanden. Denken Sie daran, in einem Notfall ist Brice Ihr Hauptansprechpartner. Er wird alles Nötige veranlassen. Viel Glück, Levi.«
Damit war die Leitung tot. Levi nahm die Treppe ins Erdgeschoss, durchquerte die Eingangshalle und verließ das Gebäude durch den Vordereingang. Ein dunkler Minivan mit Blaulicht erwartete ihn 20 Meter von der Tür entfernt. Auf der Beifahrertür prangten ein Logo sowie die Schriftzüge »Security Police« und »Department of the Air Force «.
Levi hörte, wie die Türen des Minivans entriegelt wurden. Die Beifahrertür öffnete sich einen Spalt. Er zog sie weiter auf und wurde vom Fahrer begrüßt, einem Mann in Uniform der Air Force.
»Mr. Yoder, der Jet ist aufgetankt und startklar.«
Levi stieg vorn auf der Beifahrerseite ein und schloss die Tür. Während er sich anschnallte, drehte sich ihm der Flieger auf dem Sitz zu und zeigte ihm eine Silbermünze. Auf der Vorderseite befand sich die vertraute Pyramide mit dem Auge der Vorsehung. Eine der Erkennungsmünzen des Outfits. Levi packte die freiliegende Hälfte. Im Nu begann das Auge zu schimmern.
Der Airman verstaute die Münze wieder, legte den Gang ein, und sie fuhren vom Hotel weg in Richtung Osten. Mit einem Blick zu Levi reichte er ihm einen Militärausweis. »Damit kommen Sie am Haupttor vorbei und ins Flugzeug.« Er deutete mit dem Daumen zum Rücksitz. »Hinten ist eine Aktentasche, die Sie mitnehmen müssen. Vom Outfit gesichert.«
Levi holte die Aktentasche nach vorn und stellte sie sich zwischen die Knie. Dann betrachtete er die Ausweiskarte mit seinem Gesicht darauf. Sie wies ihn als »Warren Jennings« aus, First Lieutenant bei der Air Force. Er betrachtete die Uniform des Fahrers, entdeckte Namen und Rang und sagte: »Airman Weaver, offensichtlich kennen Sie meinen richtigen Namen. Wissen Sie, warum auf dem Ausweis ein anderer steht?«
»Sir, nicht mit Sicherheit. Aber ich wurde über Dinge informiert, die damit zusammenhängen könnten. Wenn Sie möchten, kann ich eine Vermutung anstellen.«
»Möchte ich.«
»Mir wurde gesagt, dass es an höherer Stelle in meiner militärischen Befehlskette kompromittierte Personen geben könnte.«
»Aha. Und unsere Leute wollen nicht, dass jemand von meinem kleinen Ausflug erfährt.«
»Korrekt, Sir. Tatsächlich weiß ich, dass die für Incirlik aufgetankte C-37B offiziell als Maschine für ein Treffen zwischen einem amerikanischen und einem türkischen VIP registriert wurde. Es wird wie eine verdeckte Operation behandelt, was nicht weiter ungewöhnlich ist. An Bord lernen Sie den stellvertretenden Missionsleiter kennen. Er gehört zu uns. Auf dem Papier fliegen Sie als technischer Berater und Übersetzer zu dem Treffen.«
Als der Minivan nach rechts von der Dower House Road abbog, fuhren sie an einem Schild mit der Aufschrift »Pearl Harbor Torzeiten 0500 – 2100« vorbei. Wenig später erreichten sie einen hell erleuchteten Sicherheitsposten.
Der Airman ließ das fahrerseitige Fenster runter. Als sie anhielten, reichten beide dem Wachmann ihre Ausweise. Nach einer kurzen Überprüfung gab der Soldat sie zurück. Rasch durchquerten sie den Stützpunkt, vorbei an der East Perimeter Road. Kurze Zeit später verlangsamte der Minivan die Fahrt, als sie sich einem mittelgroßen Jet mit der US-Flagge am Heck, dem Logo der Air Force an den Triebwerken, blau-weißer Lackierung und dem Schriftzug »United States of America« über den Passagierfenstern näherten.
Levi war schon mit Militärjets geflogen, kannte sie jedoch fast ausschließlich grau und weitgehend ungekennzeichnet. Dieser sah deutlich anders aus.
Die Tragflächenbeleuchtung blinkte, und die Zugangstreppe wartete, als er mit der Aktentasche in der Hand und der CAC am Revers aus dem Minivan stieg.
Oben am Eingang zeichnete sich die Silhouette einer Frau ab, die ihm bedeutete, einzusteigen.
Levi eilte die Stufen hinauf und wurde von einem der Besatzungsmitglieder begrüßt, ebenfalls in der Uniform der Air Force.
»Sir, ich müsste zur Bestätigung Ihren Ausweis sehen.«
Levi löste ihn vom Revers und reichte ihn der Frau namens Garcia.
Nach einem Blick auf den Ausweis, sein Gesicht und erneut auf die CAC gab sie ihm die Karte zurück, salutierte und ließ ihn einsteigen. »Lieutenant Jennings, im hinteren Teil der Maschine steht eine gesicherte Kiste für Sie bereit. Wenn Sie sich bitte anschnallen, wir heben ab, sobald ich die Treppe eingeholt habe.«
Levis Blick fiel auf die Kabine. Es handelte sich eindeutig um einen Privatjet. Wahrscheinlich wurde er hauptsächlich für Leute wie den Sprecher des Repräsentantenhauses und andere sogenannte VIPs verwendet. Vorn fanden mühelos sechs Personen Platz. Weiter hinten gab es noch einen Bereich, auf den er durch eine offene Tür einen kleinen Einblick erhaschte.
Ein großer Mann im Anzug näherte sich ihm und schüttelte ihm die Hand. »Schön, Sie an Bord zu haben, Jennings. Ich bin Frank Luck, die Nummer zwei in der türkischen Botschaft. Wir unterhalten uns in der Luft noch ein wenig, aber ...« Er deutete auf die gepolsterten Ledersitze. »Setzen Sie sich erst mal und schnallen Sie sich an. Die Leute von der fliegenden Truppe warten nicht gern.«
Es fühlte sich eigenartig an, dass sich außer den Piloten, die Levi nicht sehen konnte, in der Maschine nur zwei Passagiere und die Frau von der Air Force befanden, die gerade mit der Hand einen Knopf drückte.
Levi ließ sich in der Mitte der Kabine nieder, während ein hydraulisches Geräusch durch das Flugzeug dröhnte.
Der stellvertretende Missionsleiter für die Türkei entschied sich für einen der vorderen Sitze, faltete eine Zeitung auf und vergrub die Nase darin.
Levi beobachtete, wie die Treppe eingeklappt wurde. Nach wenigen Sekunden ertönte ein dumpfes Pochen, und Garcia verschwand im vorderen Bereich der Maschine.
Der Luftdruck änderte sich, die Lautsprecher knisterten.
»Hier spricht Captain John Wunderlich. Ich bin Ihr Pilot für diesen Flug nach Incirlik.
Wir sind an erster Position in der Startreihenfolge. Unsere Reiseflughöhe wird 14.600 Meter betragen, die Geschwindigkeit ungefähr 500 Knoten. Die Flugzeit wird voraussichtlich etwa elf Stunden betragen.
Das ist die einzige Mitteilung, bis wir am Zielort landen.«
Levi grinste. Offenbar hielten die Militärs nicht viel von den Höflichkeiten, die kommerziellen Fluggesellschaften von der FAA vorgeschrieben wurden. Er betrachtete die Aktentasche, die weder ein offensichtliches Schloss noch eine sonstige Möglichkeit zum Öffnen aufwies, nur ein vertrautes Symbol.
Die Pyramide mit dem Auge der Vorsehung, eingraviert auf einer Metallplakette oben an der Aktentasche.
Levi drückte den Daumen auf das Logo. Nach wenigen Sekunden spürte er, wie etwas in der Tasche klickte. Prompt klappte sie einen Zentimeter auf.
Das Flugzeug schwenkte nach rechts, und die Triebwerke heulten auf, als der Pilot die Drehzahl erhöhte.
Levi spähte in die Aktentasche. Sie enthielt einen Stapel Papiere, Fotos und Kartenmaterial.
Ein roter Zettel stach ihm auf Anhieb ins Auge. Er öffnete die Aktentasche weiter und betrachtete das Papier.
»Achten Sie darauf, dass sich vor dem Verlassen des Flugzeugs der gesamte Inhalt wieder in der Aktentasche befindet. Die Verriegelung funktioniert auf dieselbe Weise wie das Öffnen.
Sobald sie wieder einrastet, wird der Inhalt vollständig verbrannt. Danach kann die Tasche samt Inhalt bedenkenlos entsorgt werden.«
Levi spürte, wie er gegen die Sitzlehne gedrückt wurde, als der Pilot die Bremsen löste und der Jet die Startbahn hinunterraste.
Nach wenigen Sekunden befanden sie sich in der Luft und stiegen wesentlich steiler auf als ein gewöhnliches Verkehrsflugzeug.
Elf Stunden.
Mit etwas Glück könnte er in der Zeit das Datenmaterial der Missionsunterlagen durchgehen und anschließend vor der Landung noch ein paar Stunden schlafen.
Levi lehnte den Kopf zurück und wartete darauf, dass die Maschine in eine horizontale Flugbahn einschwenkte.
Während sie weiter in den Himmel aufstiegen, fragte er sich unwillkürlich, wie die nächste Etappe seiner Reise aussehen würde. Russland war im Wesentlichen abgeriegelt – dennoch schien das Outfit darin kein Problem zu sehen.
Allzu lange würde es nicht dauern, bis diese Vermutung auf die Probe gestellt würde.
* * *
Als das Flugzeug zum Landeanflug auf Incirlik ansetzte, drückte Levi den Daumen auf das Auge der Vorsehung und hörte, wie die Verriegelung der Aktentasche einrastete.
Gleich darauf stieg ihm ein schwacher Brandgeruch in die Nase. Die Seiten der Tasche wurden zwar wärmer, aber nie unangenehm heiß.
Das Flugzeug setzte mit einem dumpfen Aufprall auf, und die Triebwerke dröhnten, als Levi durch den starken Einsatz der Bremsen und die Schubumkehr nach vorn schlingerte.
Levi löste den Sitzgurt, als die Maschine in der Nähe einer Reihe von Hangars mit dem Logo der US Air Force zum Stehen kam. Er stand auf und hievte sich den Rucksack über die Schulter, den er aus der Kiste hinten geholt hatte. Der Diplomat, der sich als Frank Luck vorgestellt hatte, gab ihm ein Zeichen, als die Treppe aus dem Rumpf ausgefahren wurde.
»Ich begleite Sie zu Ihrem Anschluss, Lieutenant.«
Levi folgte ihm aus der Maschine und bemerkte eine in der Nähe wartende Mercedes Limousine. Am vorderen rechten Kotflügel wehte eine kleine amerikanische Flagge, am vorderen linken die rote Flagge der Türkei mit Halbmond und Stern.
Der Diplomat winkte dem Soldaten zu, der beim Auto stand. Über den Lärm der in der Nähe vorbeirollenden Jets hinweg rief er hinüber: »Ich bin gleich zurück.« Frank bedeutete Levi, ihm weiter zu folgen, und steuerte auf einen Hangar zu.
Levi reihte sich neben dem Mann ein und fragte: »Wohin gehen wir?«
»Wohin Sie gehen, wäre die bessere Frage. Ich bin nicht über die Einzelheiten Ihrer Mission informiert, nur darüber, dass ich Ihnen helfen soll, die Außenstelle zu erreichen.«
Sie betraten den großen Hangar und bogen in einen Gang ein, der zu schlicht eingerichteten Büros führte. Levi folgte dem Mann weiter eine Betontreppe hinunter in eine Umgebung, die nach einem Bunker aussah.
In dem Gewirr schmaler, von LED-Lampen beleuchteter Gänge tauchten immer wieder Schilder mit drei gelben Dreiecken und der Aufschrift »Atomschutzbunker« auf. Schließlich blieb der Diplomat stehen und zeigte einen schwach erhellten Korridor hinab, der eine Sackgasse zu sein schien. »Der Eingang ist da lang. Er ist biometrisch gesichert, also sollten Sie damit kein Problem haben. Noch Fragen, bevor ich wieder nach oben gehe?«
Levi runzelte die Stirn. »Äh, wird man sich nicht wundern, wo ich abgeblieben bin?«
Der Diplomat schüttelte den Kopf. »Keine Sorge deswegen. Die Besatzung der Maschine, mit der wir hergekommen sind, dürfte längst zu ihrem Hangar aufgebrochen sein, und in der Botschaft erwartet Sie niemand.«
Levi schüttelte dem Mann die Hand und trat den Weg zum Ende des Flurs an.
In der Nähe der Decke befand sich ein altes, aufgemaltes Auge der Vorsehung, an der Betonwand eine schlichte Metallplatte ohne offensichtliche Kennzeichnung oder irgendeinen Hinweis darauf, dass es sich um einen Eingang handelte.
Sah tatsächlich nach einer Sackgasse aus.
Levi spähte über die Schulter, sah niemanden und drückte die Hand mit gespreizten Fingern auf die Metallplatte.
Sie fühlte sich warm an. Fast sofort hörte er ein Klicken. Die Wand vor ihm senkte sich in den Boden und gab den Blick auf einen dunklen Korridor frei.
Kaum war er über die Schwelle getreten, fuhr die Wand wieder hoch und schloss sich mit einem Zischen. Gleichzeitig gingen grelle Lichter an und erhellten den Flur.
»Mr. Yoder, willkommen in der Türkei.«
Die körperlose Stimme klang herzlich und sprach mit einem schwer einzuordnenden Akzent. Möglicherweise aus dem Nahen Osten.
»Bitte begeben Sie sich zum Ende des Korridors und stellen Sie die Füße auf die Bodenfliesen vor der Innentür. Schauen Sie geradeaus und strecken Sie die Arme seitlich von sich.«
Levi ging den 15 Meter langen Korridor hinab und platzierte die Füße vor einer Metalltür auf den Bodenfliesen. Mehrere Scheinwerfer strahlten ihn an, so grell, dass er in der plötzlichen Helligkeit instinktiv die Augen zusammenkniff.
»Identität bestätigt.«
Die Metalltür senkte sich. Vor ihm stand ein Mann mittleren Alters mit schwarzem Haar und dichtem schwarzen Bart. Der Mann winkte ihn näher. »Willkommen in unserer Außenstelle. Ich glaube, Sie sind das erste Mal in der Türkei, richtig?«
Levi betrat einen Eingangsbereich. Wie zuvor schnellte die Tür hinter ihm zischend wieder nach oben. »Ja.« Er ließ den Blick durch die üppig mit Ledersesseln ausgestattete Umgebung wandern. Gänge führten sowohl links als auch rechts aus dem Raum.
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. »Ich bin Mr. Osman, der Büroleiter. Da Sie einen Auftrag zu erfüllen haben, ist die Zeit knapp. Bitte folgen Sie mir.« Er winkte Levi weiter. Sie gingen nach links, vorbei an verwaisten Ledersesseln um einen Couchtisch, und betrat den Korridor dort.
Die Lichter gingen automatisch an und aus, während sie das Labyrinth der Gänge in dem Komplex durchquerten. »Mr. Osman, haben Sie für mich russische Kleidung, die ...«
»Keine Sorge, wir sind gerade unterwegs zum Vorratsraum. Ich denke, es ist alles berücksichtigt, was Sie brauchen werden. Und falls nicht, sollten wir in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit zu beschaffen, was immer fehlt.«
Als sie weitergingen und mehrere Verzweigungen passierten, wurde Levi allmählich klar, wie riesig dieser Ort sein musste. »Wie ist die Anlage hier entstanden? Muss ja Jahre gedauert haben, das alles aus dem Untergrund zu graben.«
Osman sah ihn an und lächelte. Seine dunklen Augen reflektierten die Lichter. »Viele der Tunnel hier hat es schon lange vor der Gründung des Outfits gegeben. Ob sie von den Römern oder später vom Osmanischen Reich errichtet wurden, ist ungewiss. Die genaue Geschichte der Tunnel liegt im Dunkeln, ist sozusagen in der Zeit verloren gegangen. Aber sie sind in der Tat ein technisches Wunderwerk.«
Sie betraten eine große Kammer, und Levi musste bei dem vertrauten Anblick grinsen, der ihn erwartete. Spinde säumten die Ränder, ähnlich wie in der Außenstelle New York und eigentlich kaum anders als in praktisch jeder Highschool.
Sein Begleiter deutete auf eine ungekennzeichnete Metallplatte an der Wand. »Bitte legen Sie die Hand darauf, dann beginnen wir, Sie für die Mission auszurüsten.«
Levi drückte die Hand auf die warme Metallplatte und hörte Klickgeräusche, als sich mehrere Spinde im Raum öffneten.
»Sir«, sagte Osman gestikulierend, »lassen Sie uns auf dieser Seite beginnen, ja?«
Levi ging zum ersten offenen Spind und entdeckte einige Paar Unterwäsche, weiße T-Shirts, Socken, einige Jeans und Pullover. Als er an den obersten Teilen Etiketten russischer Marken bemerkte, lächelte er.
»Bitte, Mr. Yoder.« Osman deutete auf die Kleidung. »Mir wurde gesagt, Sie sollen alles mit amerikanischer Kennzeichnung zurücklassen – Kleidung, Brieftasche, Militärausweis und alles Sonstige, das auf Ihre Herkunft hinweist.«
Levi ergriff eine Unterhose. Im Augenblick trug er welche der Marke Hanes. »Mit anderen Worten, ich soll mich umziehen.«
»Bitte.« Osman nickte und hielt einen mittelgroßen Stoffbeutel hoch. »Das ist für Ihre abgelegten Sachen.«
Rasch zog sich Levi aus und wechselte Unterwäsche, Socken und T-Shirt.
Während er sich neu einkleidete, holte Osman eine kleine, ungekennzeichnete Ledertasche. »Darin können Sie Ihre Missionsausrüstung verstauen, die nicht in den Rucksack soll.«
Levi entschied, seinen Anzug zu behalten, und packte den Rest der russischen Kleidung in die Reisetasche.
Osman zeigte auf den nächsten Spind.
Levi ging hin. Er enthielt eine schwarze Kampfmontur. Auch sie wanderte in die Tasche, bevor er den Rest der offenen Spinde durchsah.
Die nächsten enthielten Soldatenausrüstung, darunter Kampfstiefel und eine Einsatzweste mit ballistischen Einsätzen, Lastverteilungssystem und Frontplatten sowie Seitenkeramikplatten. Alles stammte aus russischer Produktion und war auffallend dunkel. Auf einem schneebedeckten Feld würde er damit hervorstechen. Dafür würde es ihn nachts wohl ziemlich gut tarnen.
In einem Spind befand sich ein dicker Spazierstock, der Levi gefiel. Spontan gingen ihm mehrere Ideen durch den Kopf, wie er ihn einsetzen könnte.
Dem letzten offenen Spind entnahm Levi eine Brieftasche mit russischem Bargeld und einer von einer russischen Bank ausgestellten Platinkarte von Visa. Er steckte sie ein.
In dem Stoffbeutel deponierte er seine alte Brieftasche, seine beiden Glocks sowie die Unterwäsche und die Socken, die er ausgezogen hatte. Der Rest seiner Sachen war maßgefertigt und wies keinerlei Erkennungsmerkmale auf. Er reichte Osman den Beutel und sagte: »Ich hoffe, das bekomme ich bei meiner Rückkehr wieder.«
»Keine Sorge.« Osman nickte. »Ich verwahrte die Sachen für Sie.« Der Mann mittleren Alters bedeutete Levi, ihm zu folgen. »Es ist Zeit für die nächste Etappe der Reise.«
Sie folgten demselben Gang, durch den sie gekommen waren. Im Gegensatz zu den seltsamen Verschiebungen zu anderen Räumen in der Außenstelle New Yorker schienen sie hier an Ort und Stelle zu bleiben. Sie durchquerten den Eingangsbereich von zuvor und betraten einen anderen Korridor. Etwa hundert Meter später bogen sie in eine Kammer mit einer nach unten führenden Treppe.
Osman deutete zu den Stufen und erklärte: »Wie andere Außenstellen haben wir mehrere Transportverbindungen zu verschiedenen Orten.«
Mehrere Transportverbindungen zu verschiedenen Orten?
Sollte das heißen, dass es auch in der Außenstelle New York nicht nur den Tunnel nach Washington gab? Beherbergte jede eine Art Knotenpunkt für ein geheimes U-Bahnsystem?
»Unten erwartet Sie ein Zug, der Sie über die Grenze, unter dem Schwarzen Meer hindurch und auf russisches Gebiet bringt. Sie werden in Moskau ankommen und dort von Ms. Petrowa in Empfang genommen. Sie kümmert sich darum, was Sie in Russland brauchen.« Er reichte Levi eine Papiertüte. »Das ist für die Reise. Sie wird eine Weile dauern, und Sie könnten hungrig werden.«
Levi warf einen Blick hinein und grinste über den Inhalt. Es hätte ein klassisches Lunchpaket sein können, das Eltern ihren Kindern in die Schule mitgaben – ein Sandwich, ein Apfel, eine kleine Tüte mit gemischten Nüssen, eine versiegelte Packung türkischer Datteln. Er hielt die Tüte hoch und drehte sich um, wollte Osman danken.
Levi schaute verdutzt drein, als er aus der Kammer trat und sich im Flur umsah.
Kein Osman. Der Mann hatte sich in Luft aufgelöst.
Einen Moment lang starrte er mit offenem Mund nach links und rechts. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie der unscheinbare Mann in den wenigen Sekunden spurlos verschwunden war, die Levi seine Mahlzeit begutachtet hatte. Schließlich rief Levi einfach ein »Danke« ins Leere und kam sich dabei ein wenig dumm vor. Danach stieg er mit dem Rucksack über der Schulter die Treppe hinunter. Den Spazierstock hatte er daran befestigt, die Reisetasche trug er in der linken Hand.
Unten am Fuß der Treppe erwartete ihn ein schnittiger Eisenbahnwaggon mit geöffneten Türen. Es sah genauso aus wie der in New York City. Levi stieg ein.
Eine körperlose Stimme verkündete: »Willkommen. Der Zug fährt aus Incirlik zur Station am Roten Platz. Die Strecke beträgt knapp 2.000 Kilometer. 200 davon führen unter dem Schwarzen Meer hindurch. Der Zug wird das Ziel in etwa sechs Stunden erreichen.
Sie haben zehn Sekunden Zeit, um die Abfahrt dieses Waggons zu verhindern. Unterwegs gibt es keine Zwischenstopps. Bitte halten Sie sich an einer Stange fest, sonst werden Sie wahrscheinlich rückwärts geschleudert. Dies ist die einzige Warnung.«
Levi nahm Platz und griff nach einer der Stangen.
»Fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei. Eins.«
Levi rutschte nach hinten, als der Zug ähnlich beschleunigte, wie er es sich in einem Formel-1-Rennwagen vorstellte. Innerhalb von Sekunden wurde der Fahrtwind heftiger, als der Waggon durch die Dunkelheit raste.
In der Kabine herrschte gedämpfte Beleuchtung, aber im Gegensatz zu dem Zug in New York City wies dieser Knöpfe auf. Die Abbildungen darauf deuteten darauf hin, dass man ihn nach hinten neigen konnte.
Levi drückte einen Knopf, und sein Stuhl senkte sich langsam in eine recht bequeme Position. Er stellte den Wecker auf seinem Handy ein, schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu schlafen.
Wenn er aufwachte, würde er sich in Feindesland befinden.
* * *
Es war Mittag, als Brice an seinem Computer seine Tabelle mit den zuletzt aufgezeichneten Alarmen aufrief. Er überflog Hunderte von den Sendern erfasste Aufzeichnungen.
Während sein Blick über die Reihen und Spalten mit Daten raste, stach ihm eine neue Übertragung aus der Pizzeria ins Auge. Er klickte auf den Link dazu.
Das System rief die Audiodatei auf und gab sie über die Lautsprecher des Monitors wieder.
»Banks, Sie haben ein Problem.« Porschenkos Stimme. Brice hatte sich genug Aufnahmen von dem Mann angehört, dass er keine computergestützte Stimmanalyse mehr brauchte, um ihn zweifelsfrei zu identifizieren.
»Welches Problem?«
Der Beamte klang nervös.
»Ich habe Ihnen einen Link zu einem Überwachungsvideo aus dem Laden geschickt, den Sie regelmäßig aufsuchen. Ein Mann war vor ein paar Tagen dort, hat Ärger gemacht und ist wieder gegangen. Ich brauche ihn identifiziert.«
Brice’ Augen weiteten sich, während er dem Gespräch lauschte. Sprach Porschenko über Levi?
»Ich kann es von einem Freund beim FBI durch die Computer laufen lassen. Moment, ich sehe mir kurz an, was Sie geschickt haben ... Oh Mist, den Kerl kenne ich. Das ist Lazarus Yoder. Ein Mafioso aus der Region – ich bin ihm schon mal begegnet.«
»Ich kann es nicht gebrauchen, dass Fremde die Nase in meine Angelegenheiten stecken. Sagen Sie mir, wo ich ihn finde.«
»Äh, das könnte ein Problem werden.« Ein leichtes Zittern schlich sich in Banks’ Stimme. Er war nervös. »Das FBI hat eine dicke Akte über ihn. Ich hab sie gesehen. Er ist so was wie ein Geist. Nicht mal die scheinen zu wissen, wo er sich aufhält. Wenn sie ihn kontaktieren müssen, benutzen Sie ein Postfach, das ...«
»Inakzeptabel. Ich brauche seinen Aufenthaltsort.« Porschenkos Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an. »Ich muss wissen, warum er in der Pizzeria war und wonach er gesucht hat.«
»Na ja, ich weiß vielleicht, wo seine Tochter ist.«
Brice’ Herzschlag beschleunigte sprunghaft, und er notierte den Timecode der Stelle. »Oh Scheiße, das ist gar nicht gut!«
»Er hat eine Tochter?«
»Ich glaube schon. Offenbar besucht Alicia Yoder ab diesem Herbst ein College. Man hat mich beauftragt, die Namen der Neuzugänge einiger der besten Universitäten im Land zu überprüfen, um sie für Praktika zu rekrutieren. Dabei ist mir der Nachname aufgefallen. Ich hab ein wenig rumtelefoniert. Dabei hat sich herausgestellt, dass Alicias Vater Lazarus heißt. Die Straßenadresse wurde aus irgendeinem Grund leer gelassen, aber als Stadt ist New York City angegeben. Dort arbeitet der Mafioso angeblich.«
»Gut.«
Brice konnte das Lächeln in Porschenkos Gesicht praktisch vor sich sehen, während er hektisch notierte, was gesagt wurde.
»Ich will, dass Sie mir Yoders Adresse beschaffen ... oder vielleicht ... Welche Universität besucht dieses Mädchen?«
»Ich muss noch mal nachsehen«, erwiderte Banks, der äußerst nervös klang. »Aber ich glaube, es ist Princeton.«
Brice schüttelte den Kopf und wählte Masons Nummer. Das Outfit musste etwas unternehmen, und das lag weit über seiner Gehaltsklasse.
»Na schön, besorgen Sie mir Yoders Adresse und überprüfen Sie, welche Universität das Mädchen besucht. Beschaffen Sie mir die Informationen. Und ich erwarte eine Antwort innerhalb von Stunden, nicht Tagen. Verstanden?«
»J-Ja«, stammelte Banks.
Damit endete die Datei. Brice hielt sich das Telefon ans Ohr, als Mason ranging. »Was gibt’s?«
»Boss, wir haben ein Problem.«