Levi spürte, wie der Zug langsamer wurde. Die körperlose Stimme meldete sich wieder. »Wir treffen in einer Minute an der Station Roter Platz ein. Bitte steigen Sie erst aus, wenn der Zug vollständig zum Stehen gekommen ist.«
Die Türen öffneten sich, und Levi stieg aus. Die schwach erhellte Station erwies sich als verwaist. An der Betonwand stand eine dünn gemalte Botschaft auf Russisch, die grob übersetzt lautete: »Ein ungebetener Gast ist schlimmer als ein Tatar.«
Levi wusste nicht recht, was das bedeuten sollte, aber es fühlte sich wie eine Art düstere Warnung an. Nach dem Motto: »Falls du unerwartet hier angekommen bist, dreh lieber wieder um und verschwinde.«
Er fand es merkwürdig, dass ihn niemand in Empfang nahm. Vielleicht hatte es ein Missverständnis in der Kommunikation gegeben. Seine Missionsunterlagen enthielten nicht viel über die Struktur des Outfits in Russland.
Levi ließ den Blick über die kahle Station wandern, dann ging er zum hinteren Ende, wo er einen dunklen Gang entdeckt hatte.
Als er sich näherte, gingen flackernd Lampen in dem Tunnel aus Stein an. Ein seltsam vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase, als er ihn betrat.
Der Gang führte zu einer Treppe, die er rasch erklomm. Der Geruch von Essen wurde stärker.
Das Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich, das er irgendwo unter dem Schwarzen Meer gegessen hatte, stillte zwar noch seinen ärgsten Hunger, dennoch ließen die zunehmend deutlicheren Aromen Levis Magen vorfreudig knurren.
Als er das Treppenhaus verließ, fand er sich in einer provisorischen Küche wieder.
Der große Raum wies rechts eine offene Tür zu einem Gang auf. Gegenüber säumte eine Reihe von Herden die Wand, in der Mitte befand sich eine Kücheninsel mit Gaskochfeldern neben einer Arbeitsfläche aus Holz, auf der eine alte Frau eifrig einen großen Haufen Pilze schnippelte. Als sie aufschaute und ihre Blicke sich begegnete, wirkte sie in keiner Weise überrascht darüber, einen Fremden von der Bahnstation heraufkommen zu sehen.
Sie winkte ihn näher und rief etwas, das er nicht verstehen konnte.
Levi ging zu ihr. Die mindestens 70-Jährige deutete mit einem dicken, runzligen Finger auf den Hocker neben der Kücheninsel und sagte barsch mit starkem russischem Akzent: »Setzen Sie sich.«
Mit zunehmender Belustigung nahm Levi den Rucksack ab, stellte ihn zusammen mit der Reisetasche auf den Boden und ließ sich auf dem Hocker nieder. »Genossin Petrowa?«
Die alte Dame schwenkte wegwerfend die Hand, bevor sie mit Ofenhandschuhen ein Tablett voller gebratener Hähnchen ergriff und das Fett in eine große Pfanne abließ, in der ein vertraut duftendes Gebräu brodelte.
»Was kochen Sie da?«, fragte Levi. »Es riecht köstlich.«
Die Frau warf eine Handvoll geschnittener Pilze in die Pfanne, dann schwenkte sie den Inhalt schwungvoll hin und her, wobei es ihr gelang, nichts zu verschütten. »Sie sind hungrig. Das sehe ich Ihnen an. Von Kascha werden Sie satt.«
Levi lächelte. Kascha. Er hätte es wissen müssen. Seine Großmutter hatte das Gericht vor langer Zeit für ihn zubereitet. Es handelte sich um einen Buchweizenbrei, aber er hatte ihn zum Frühstück mit Milch und Honig gegessen. Diesmal würde er ihn wohl anders serviert bekommen.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Flüssigkeit und der Hühnersaft von den braunen Körnern aufgesogen wurde. Aus einem anderen Topf fügte die Frau Bandnudeln hinzu, bevor sie mit einem großen Servierlöffel eine Holzschale mit dem dampfenden Gericht füllte und vor Levi stellte.
»Essen Sie«, forderte sie ihn gebieterisch auf und legte einen Löffel neben die Schüssel.
Levi schöpfte die braunen Körner heraus und achtete darauf, auch ein Stück Pilz und eine der Nudeln zu erwischen. Er hielt den ersten Löffel hoch, sah die alte Frau an und nickte. »Danke, Genossin ...«
Das Gesicht der alten Frau verzog sich, als sie ihn anstarrte. »Ich bin eine Babuschka . Das bin ich, und so nennen Sie mich.«
Babuschka war das russische Wort für Großmutter.
Levi atmete schnell durch den Mund, um das zu heiße Essen abzukühlen, das er sich voreilig in die Fressluke geschoben hatte. Rasch kaute er und schluckte.
Während er spürte, wie die sengende Hitze hinunter in seinen Magen wanderte, schöpfte Levi einen weiteren Löffel aus der Schüssel. Diesmal jedoch nahm er sich die Zeit und pustete darauf, bevor er aß. Mit einem Lächeln schaute er zu der runzligen alten Frau auf.
Sie schenkte ihm keine Beachtung, schien nicht auf ein Kompliment zu warten. Offenbar wusste sie, dass sie gut kochte. Sie hatte die Aufmerksamkeit einem grapefruitgroßen Klumpen Teig gewidmet, den sie geschäftig knetete.
Die Tür auf der anderen Seite des Raums schwang weiter auf. Eine andere Frau trat ein, erblickte Levi und kam breit grinsend auf ihn zu. »Genosse Yoder, wie ich sehe, haben sie meine Babuschka schon kennengelernt.«
»Genossin Petrowa?«
Die Frau nickte und antwortete mit rauchiger Stimme, gefärbt von einem starken russischen Akzent. »In Fleisch und Blut.«
»Nadia!« Die Stimme der alten Frau klang wie ein Peitschenknall. Die Frau wechselte zu Russisch, als sie sich an ihre Enkelin wandte. »Flirte nicht mit diesem Mann.«
Nadia machte eine abwiegende Geste in die Richtung der Greisin, die einen Gehstock ergriffen hatte und ihn bedrohlich schwenkte. Die jüngere Frau richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Levi und streckte die Hand aus. »Nadia Petrowa. Besitzerin dieses kleinen Orts, den wir unter dem Roten Platz verstecken.«
Levi bemerkte die Münze, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Er ergriff die ihm angebotenen Hälfte, und das Licht im Auge der Vorsehung leuchtete auf. Nadia schien ungefähr Mitte dreißig zu sein. Ihr dunkles Haar steckte unter einer grauen Zeitungsausträgermütze, was ihr einen gewissen Retro-Look verlieh. Eine Narbe erregte seine Aufmerksamkeit. Die weiße, dünne Linie verlief vom Haaransatz über die Schläfe und die linke Wange bis zum Kinn. Er wechselte zu Russisch. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Angesichts der anderen Außenstellenbesitzer, die ich kennengelernt habe, hätte ich jemanden erwartet, der älter ist« – er lächelte – »und nicht so attraktiv.«
»Sie sprechen Russisch!« Nadia strahlte, die alte Frau im Hintergrund hingegen knallte den Teigklumpen geräuschvoll auf die Arbeitsfläche. Sie brummelte etwas Unverständliches, bevor sie wuchtig weiterknetete.
Nadia deutete mit dem Daumen auf die Greisin. »Achten Sie nicht auf sie. Babuschka ist bloß sehr gluckenhaft.« Sie fasste in ihr Gesicht und zeichnete mit dem Zeigefinger die Narbe nach. »Vor allem, seit mein Mann mir das hier verpasst hat.«
»Das war Ihr Mann?« Levi starrte die Frau an und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte.
Nadia legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Wie sich herausgestellt hat, war er Informant für den FSB. Das wusste ich bei unserer Hochzeit nicht. Ich persönlich habe ein Problem damit, wenn jemand in meinem Umfeld die derzeitige Regierung unterstützt. Und natürlich hatte er ein Problem damit, dass ich ihm nicht verraten habe, wo ich mich tagsüber herumtreibe.«
Der FSB war die moderne Version des sowjetischen KGB, besser bekannt als Geheimpolizei.
»Das hat er mir verpasst. Revanchiert habe ich mich mit einem Stich in die ...« Mitten im Satz verstummte sie und lachte. »Also, das unerfreuliche Thema wollte ich eigentlich nicht gleich bei unserer ersten Begegnung auspacken.« Nadia schaute zu ihrer Großmutter und fragte: »Machst du gerade Klöße?«
»Natürlich. Sonst würdest du ja nur den Müll von der Straße essen. Heute gibt es Hühnchen und Kascha mit Pilzen.«
»Wir sind bald zum Abendessen zurück.« Nadia bedeutete Levi, ihm zu folgen. »Ich habe für Sie einen Raum, in dem Sie Ihre Sachen vorübergehend unterbringen können. Danach können wir die nächsten Schritte Ihrer Mission besprechen.«
Levi stand vom Hocker auf und ergriff sein Gepäck.
Die alte Frau schaute vom Teigkneten auf und richtete den Blick auf ihn. »Seien Sie vorsichtig auf den Straßen. Fremde verschwinden hier gern mal, hören Sie?«
Levi nickte. »Danke für die Warnung.«
Als sie den Küchenbereich verließen, senkte Nadia die Stimme. »Man hat mir Namen von Leuten genannt, die Sie erreichen wollen. Vor Ihrer Ankunft habe ich ein wenig recherchiert. Einer davon könnte tot sein.«
»Welcher?«
Nadia schüttelte den Kopf. »Kein Wort mehr, bis wir im stillen Raum sind.«
Nach ein paar Quergängen bog sie in einen Raum, der kaum größer als ein begehbarer Wandschrank war, etwa anderthalb mal anderthalb Meter.
Levi folgte ihr und drehte sich zur Tür um, wie sie es getan hatte. Nadia warnte ihn: »Machen Sie sich bereit.« Sie drückte die Hand auf eine Metallplatte in Hüfthöhe links neben dem Eingang.
Plötzlich schoss der gesamte Raum nach oben. Sie wurden in Dunkelheit getaucht, während das Geräusch rauschender Luft sie umgab.
Als die Aufwärtsbewegung ziemlich abrupt endete und der zum Aufzug gewordene Raum in einer neuen Ebene anhielt, fühlte sich Levi einen Moment lang beinah schwerelos.
Nadia drehte sich ihm zu und gab sich keine große Mühe, ihren amüsierten Gesichtsausdruck zu verbergen. »Alles gut?«
Levis Magen war von der abrupten Beschleunigung und Bremsung zwar ziemlich überrumpelt worden, dennoch grinste er. »Das hat Spaß gemacht. Sollten wir wiederholen.«
Mit einem Zwinkern bedeutete sie ihm, ihr zu folgen. »Wir sind hier ungefähr 15 Meter unter den Straßen. Verstauen wir Ihr Gepäck, danach können wir zur Sache kommen.«
* * *
Der Besprechungsraum befand sich in dem Teil, den Nadia als den »stillen Trakt« der Außenstelle des Outfits bezeichnete. Zwischen dem Raum selbst und den anderen, die er gesehen hatte, konnte Levi zwar keinen Unterschied feststellen, sehr wohl jedoch fiel ihm die Dicke der Tür auf – mit ziemlicher Sicherheit schalldicht. Und tatsächlich hörte er nur das Pochen des eigenen Herzens und Nadias leise Atemgeräusche, als sie ihm gegenüber am Tisch im Besprechungsraum Platz nahm und einen Stapel Fotos und Ausdrucke sortierte.
Levi konzentrierte sich auf die grausigen Bilder auf dem Tisch vor ihm. Den Uniformen nach handelte es sich um russische Soldaten. Alle tot, blutig und in einigen Fällen verstümmelt, als hätten Tiere an ihren Händen und Gesichtern genagt. Einige waren eindeutig verbrannt, andere wiesen große Risse in den Uniformen auf. Manchen fehlten sogar Gliedmaßen, vermutlich von einer Explosion.
»Ah, gefunden.« Nadia ergriff einen Zeitungsausschnitt und begann, vorzulesen. »Das russische Oberkommando hatte nicht mit den Herausforderungen in den Wäldern von Isjum gerechnet. Sie haben zu verheerenden Verlusten bei den Selbstständigen 64. und 38. Garde-Mot-Schützenbrigaden geführt.
Ihre Gesamtzahl wird jetzt auf weniger als 100 einsatzfähige Soldaten geschätzt.
Anscheinend wurde den Kampfeinheiten in dem bewaldeten Terrain keine geeignete Ausrüstung zur Verfügung gestellt. Ein Großteil der schweren Artillerie war nicht funktionstauglich. Offenbar konnten die Truppen auch nicht elektronisch mit dem Oberkommando kommunizieren und mussten auf Kuriere zurückgreifen, vermutlich durch den Mangel an verschlüsselten Telefonen.
Die ukrainischen Streitkräfte griffen die vorgerückten russischen Stellungen mit Drohnen an, ohne ihre Leute zu gefährden. Die russischen Söldner der Gruppe Wagner verweigerten die Teilnahme am Gefecht, wodurch man entlang der Isjum-Achse nicht vorankam.
Die Ukrainer unternahmen mehrere Drohnenangriffe auf eine gut bewaffnete Gruppe, die sich abseits des bewaldeten Terrains in nachgelagerter Stellung befand. Es wird vermutet, dass einige Schlüsselpersonen der Gruppe Wagner dabei umgekommen sind.
Eine visuelle Identifizierung ist nicht möglich, auf DNA-Analysen der Toten wird derzeit gewartet.«
Nadia beugte sich über den Tisch und tippte mit dem Finger auf eines der Fotos vor Levi. »Wir halten diesen Mann für Juri Popow. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort war irgendwo vor Slowjansk, und die Stadt liegt zwischen dem Donbass und Isjum.«
Levi betrachtete das Bild eingehend. Das halbe Gesicht war zerfetzt, vermutlich von Granatsplittern. Auf der Schulter hatte der Mann ein verstümmeltes Abzeichen mit einem Totenkopf in der Mitte. Man konnte noch das Wort »Gruppe« lesen. Wer auch immer der Tote sein mochte, er wies das Logo der Gruppe Wagner auf, einer russischen paramilitärischen Organisation, die aus der Ukraine operierte.
Nadia zog ein anderes Foto aus dem Stapel und schob es Levi zu. »Das ist das einzige Bild, das wir von Popow aus den letzten drei Jahren haben.«
Während Levi das Foto betrachtete, reagierte seine Kontaktlinse nicht, die er nach wie vor trug. Tatsächlich hatte sie seit dem Besteigen des Zugs in der Türkei nicht mehr angesprochen. Wahrscheinlich befand er sich dafür zu tief unter der Erde, wo sein Handy mit der Bluetooth-Verbindung praktisch nutzlos war.
Er verglich die Fotos des Lebenden und des Toten miteinander. Es ließ sich kaum sagen, ob es sich um denselben Mann handelte. Das Gesicht des Verstorbenen war dünner, hagerer, zudem verdeckte ein ungepflegter Bart viel von dem Teil des Gesichts, der die Drohnenangriffe unbeschadet überstanden hatte.
Die Tür zum Besprechungsraum öffnete sich. Die alte Frau trat humpelnd ein. Mit der einen Hand stützte sie sich auf ihren Gehstock, in der anderen trug sie einen Teller mit gebratenen Klößen, überzogen von glänzenden Zwiebeln.
Levis Augen wurden angesichts all der auf dem Tisch verstreuten, sensiblen Informationen groß. Er empfand es als unverantwortlichen Sicherheitsverstoß, dass sich die Großmutter in diesem Raum aufhielt. Sein Blick wanderte zwischen der alten Frau und Nadia hin und her.
»Lasst euch nicht zu lange Zeit, sonst werden die Klöße kalt.« Die alte Dame stellte den Teller mit zwei Gabeln mitten zwischen die grausigen Fotos und verschiedenen Berichte auf den Tisch. Dann ließ sie sich auf einem Stuhl am Kopfende nieder und deutete auf die Mahlzeit. »Ihr könnt gleichzeitig arbeiten und essen.«
Nadia warf ihrer Großmutter einen Kuss zu und grinste in Levis Richtung. »Sie halten mich für verrückt, weil ich meine Großmutter das hier sehen lasse.«
Es war keine Frage.
Die alte Frau richtete die Aufmerksamkeit auf Levi und schenkte ihm ein zahnloses Grinsen. »Ich habe schon für dieselbe Organisation wie sie gearbeitet, bevor Sie überhaupt geboren wurden, junger Mann.«
Nadia griff sich eine Gabel, stach in einen der Klöße, steckte sich den Bissen in den Mund und sagte: »Meine Großmutter war während des Zusammenbruchs der Sowjetunion die Besitzerin hier.«
Levi streckte sich über den Tisch und kostete von einem der Klöße. Die dazu servierten Nudeln schmeckten köstlich und wiesen knusprig angebratene Ränder auf, und als er in den Kloß biss, breitete sich in seinem Mund die warme Füllung aus Buchweizen, perfekt gerösteten Zwiebeln, Pilzen und Hähnchenstücken aus. Delikat.
Die Großmutter nickte. »War eine seltsame Zeit damals. So viele Jahre unter kommunistischer Diktatur, und der KGB hat alles und jeden überwacht. Dann auf einmal Perestroika , Reformen. Das war der Anfang vom Ende für die Sowjetunion. Viele von uns haben ihren Untergang bejubelt. Auch ich.
Aber die Dinge haben sich geändert. Noch vor ein paar Jahren haben wir geradezu unvorstellbaren westlichen Wohlstand erlebt. Bevor sich schließlich wieder alles normalisiert hat.« Die alte Frau schaute verkniffen drein.
»Es hat nicht lange gedauert, bis die derzeitigen Machthaber angefangen haben, einen Wandel einzuleiten. Mit ähnlichen Methoden wie in den alten Zeiten.«
In der Stimme der Frau schwang eine traurige Note mit. Levi fragte: »Inwiefern haben sich die Dinge geändert? Ich war vor ein paar Jahren mal in Russland, kann mein Erlebnis damals aber mit nichts vergleichen.«
Nadia schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Allein in den letzten Jahren hat sich viel verändert.«
»O ja, und ob.« Die alte Frau sah ihre Enkelin an. »Nadia, die Veränderungen ... steuern in eine üble Richtung, und du hast keine Ahnung, wie schrecklich sie wirklich ist. Ich selbst konnte mich zwar nicht daran erinnern, was in den 1950er Jahren passiert ist, damals war ich dafür zu klein, aber was meine Mutter mir über Stalins Schreckensherrschaft erzählt hatte, sollte jeden in Panik versetzen, der heute in Russland lebt.
Stalin hat die Geheimpolizei als persönliche Streitkraft in der Sowjetunion benutzt.« Sie hielt die Hand hoch, Daumen und Zeigefinger dicht beisammen. »Wer nur so viel gegen Stalin gesagt hat, ist spurlos verschwunden. Millionen Menschen.
Und jetzt erleben wir, wie sich alles wiederholt.
Unsere Machthaber verwandeln unser schönes Land in einen Schurkenstaat. Wer weg will, wird daran gehindert. Wer sich gegen die Reformen ausspricht, die sich 15 Meter über uns vollziehen, verschwindet genau wie damals die Menschen unter unserem großen Schreckensherrscher ... das macht mich alte Frau traurig.« Sie warf eine Kusshand in Nadias Richtung. »Nicht wegen mir selbst, sondern weil meine arme Nadia das alles durchmachen muss. Ich hoffe, ihre Ausbildung reicht, um sie zu schützen.«
Levi sah Nadia an, die über den Tisch hinweg die Hand ihrer Großmutter ergriffen hatte. Ein emotionaler Moment, mit dem er in der geheimen Außenstelle des Outfits unter dem Roten Platz nicht gerechnet hatte. »Ausbildung?« Er konzentrierte sich auf Nadia. »Ich weiß sehr wenig darüber, wie die Außenstellen geführt werden. Braucht man als Besitzer eine spezielle Ausbildung?«
Nadia grinste und deutete mit dem Kopf auf ihre Großmutter. »Sie hat mir alles beigebracht, was ich über das Spionagehandwerk und Nahkampf weiß. Es mag heute schwer vorstellbar sein, aber meine Großmutter hatte den schwarzen Gürtel dritten Grads im Judo.«
»Pah!« Die alte Frau grummelte, griff sich ihren Gehstock und erhob sich vom Stuhl. »Den habe ich noch immer, Nadia! Noch immer.« Ein verlegener Ausdruck trat in das faltige Gesicht, und sie seufzte. »Aber allmählich holt mich wohl doch das Alter ein.« Sie deutete mit einer ausladenden Geste auf die beiden am Tisch und verkündete: »Ich gehe jetzt ins Bett.«
Damit humpelte die alte Frau aus dem Zimmer und schloss lautlos die Tür hinter sich.
Grinsend schaute Levi ihr nach, bevor er sich an Nadia wandte. »Sie können sich glücklich schätzen sie zu haben.«
Nadia nickte, dann zeigte sie auf die Fotos vor ihm. »Popow ist ein übler Bursche. Er hat die Finger mit Sicherheit in verschiedenen Unternehmungen des organisierten Verbrechens sowohl hier in Russland als auch in den USA und Kanada. Aber als Freund der russischen Führung existiert er, weil er ein nützliches Werkzeug ist, mehr nicht. Ich würde wetten, dass sich ein Großteil seiner lose geknüpften Organisation auflöst, wenn er tot ist, vor allem durch die angespannte Lage vor Ort. Trotzdem behalte ich die eingehenden Informationen aus der Region weiter im Auge. Mal sehen, ob die Ergebnisse der DNA-Tests irgendetwas beweisen. Ihnen würde ich raten, ihn vorerst zu ignorieren.
Bei den anderen Namen habe ich ein wenig in ihrer Vergangenheit gegraben. Ich habe mit Leuten gesprochen, die mehr über sie wissen als die meisten, und so erfahren, dass Konstantin Porschenko und Jewgeni Karpow beide für Wladimir Porschenko gearbeitet haben.«
Levi nickte.
»Wladimir war im postsowjetischen Russland ein sehr mächtiger Mann. Er war früher beim KGB und beinah wie ein Bruder des aktuellen Präsidenten. Er war unfassbar reich. Dank einiger entscheidender Unfälle und durch seine Beziehung zur Regierung hatte er nahezu die gesamte Energiebranche in Russland fest im Griff. Jetzt ist er tot. Obwohl ein Herzinfarkt als offizielle Todesursache gilt, behaupten mehrere Berichte, er wäre ermordet worden.«
Levi verzog bei den Worten keine Miene, um nicht unnötig etwas zu verraten, das nur er wusste. Er war dabei gewesen, als Wladimir seinen so angeblichen Herzinfarkt hatte.
»Nach Wladimirs Tod haben seine linke und rechte Hand um die Mehrheitsanteile gestritten und sie letztlich gesplittet. Porschenko hat sich den größeren Anteil gesichert.« Nadia blätterte in ihrem Papierstapel und überflog einen Zettel, der ihre Aufmerksamkeit erregte. »Ich habe hier eine Kopie von Untersuchungsergebnissen zu Wladimirs Tod, in Auftrag gegeben von Karpow.« Sie sah Levi mit belustigter Miene an und tippte mit dem Zeigefinger auf den Zettel. »Hier steht, dass man auf Überwachungsvideos sieht, wie jemand wenige Stunden vor dem Fund von Wladimirs Leiche das Gebäude betreten hat. Wen auch immer Karpow mit der Untersuchung beauftragt hat, derjenige hat das Überwachungsmaterial durch Gesichtserkennungssoftware laufen lassen und dabei jemanden namens Lazarus Yoder identifiziert.«
Levi zuckte mit den Schultern. »Was Sie nicht sagen.«
»Ja.« Nadia grinste. »Und merkwürdigerweise finden sich keine Aufzeichnungen darüber, dass ein Lazarus Yoder je nach Russland eingereist ist. Zumindest nicht auf herkömmlichen Wegen. Vermutlich habe ich deshalb Ihren Namen in einer Suchanzeige in der Zeitung entdeckt, aufgegeben kurz nach Wladimirs Tod.«
Levi seufzte. »Also denkt dieser Karpow wahrscheinlich, ich hätte seinen ehemaligen Boss umgebracht und will sich rächen?«
Nadia lehnte sich auf dem Stuhl zurück und runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht. Karpow steht im Ruf, skrupellos ehrlich zu sein, was in der heutigen russischen Gesellschaft geradezu lächerlich selten ist, vor allem in seinen Kreisen. Und wenn Sie Wladimir nicht umgebracht hätten ...«
»Ich hab nie gesagt, dass ich ihn umgebracht habe«, warf Levi ein.
»Natürlich, natürlich.« Mit einer beschwichtigenden Geste grinste Nadia wissend. »Ich bin sicher, es war nur ein Zufall. Jedenfalls wäre Karpow inzwischen wohl nicht mehr am Leben, wenn Wladimir nicht gestorben wäre. Die Porschenkos haben die unerfreuliche Eigenart, dass Menschen in ihrem Umfeld sterben, wenn sie in irgendeiner Weise Missfallen erregen oder keinen Nutzen mehr haben. Wladimir war berüchtigt dafür, eine blutige Spur auf dem Weg an die Spitze hinterlassen zu haben. Ich habe zwar keine Ahnung, warum Karpow Sie treffen will, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er aufgebracht über Wladimirs Tod ist.« Sie zeigte mit dem Finger auf Levi. »Konstantin Porschenko hingegen ist eine andere Geschichte. Er ist als Wahnsinniger bekannt. Auf der Straße erzählt man sich, er hätte seinen Zwillingsbruder wegen eines Mädchens umgebracht, für das sie als Jugendliche beide geschwärmt haben.«
»Na toll.« Levi seufzte. »Und an den Kerl soll ich in Wirklichkeit ran.«
Nadia schüttelte den Kopf. »Meiner Meinung nach eine ungesunde Zielperson. Er steht unter dem ständigen Schutz der Geheimpolizei. Seine Büros hat er im Lubjanka-Gebäude. Haben Sie davon schon gehört?«
»Ja.« Bei seinem letzten Aufenthalt in Russland Levi das Gebäude von außen gesehen. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie viele gefolterte Seelen darin gestorben waren. »In der Sowjetzeit die Heimat des KGB, heute die des FSB.«
»Richtig. Was ist Ihr oberstes Ziel?«
Die Frage hatte sich Levi schon selbst gestellt, seit er den Auftrag übernommen hatte. »Um ganz ehrlich zu sein, glauben wir, dass es Porschenko völlig egal ist, wer stirbt, solange er nur sein Öl und Gas durch die Pipelines bekommt. Um das zu erreichen, benutzt er kompromittierte Ressourcen innerhalb der US-Regierung. Obwohl das Outfit gern sehen würde, dass die Gerechtigkeit siegt ...«
»Gerechtigkeit!« Nadia schnaubte höhnisch. »In Russland?«
»Manchmal scheint die Leitung des Outfits idealistische Ziele zu verfolgen.« Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, Gerechtigkeit wird es wahrscheinlich wohl nicht geben, trotzdem muss das Problem gelöst werden.«
»Sie sind hier, um der Schlange den Kopf abzuschlagen?«
Levi grinste. »Sehr gut ausgedrückt.«
Nadias Miene wurde ernst. »Dann müssen Sie wohl dringend zu Ihrem Gott beten, welcher es auch ist. Das ist nämlich eine Aufgabe, die vielleicht sogar unsere Möglichkeiten übersteigt.«
»Das ist nicht unser Problem, sondern meines.« Levi begegnete ihrem steten Blick. »Wir werden sehen, wie es sich entwickelt.« Levi sah auf die Armbanduhr. Mittlerweile war es später Abend.
Nadia stand auf und deutete auf den Tisch. »Ich sichere den Raum hier, damit wir vorerst alles liegen lassen können. Es wird allmählich spät. Da ich jetzt weiß, was Sie vorhaben, rede ich mal mit meinem Bruder. Auch er ist Agent bei unserem gemeinsamen Auftraggeber. Sobald er von seinem aktuellen Einsatz zurück ist, spreche ich mit ihm über Ihr Problem. Mal sehen, ob uns bis morgen früh Möglichkeiten für Sie einfallen, die nicht zwangsläufig mit Ihrem Tod enden.«
Levi stand auf und streckte die Arme über den Kopf. Dabei hörte er ein Knacken aus der Wirbelsäule. »Sie haben hier nicht zufällig einen Fitnessraum und Duschen, oder?«
»Haben wir tatsächlich.« Nadia öffnete die Tür des Besprechungsraums und bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Aber ich schlage vor, Sie warten damit bis morgen früh. Diese Außenstelle hier ist an die staatliche Stromversorgung angeschlossen. Die wird nachts rationiert. Deshalb reicht der Saft vielleicht nicht für die Beleuchtung und die Geräte, die Sie wollen.«
Levi nickte. Von einer Energierationierung in Russland hatte in den Missionsunterlagen nichts gestanden. Allmählich hörte es sich wirklich nach den Geschichten an, die er über die Sowjetunion gelesen hatte.
Als er Nadia aus dem Besprechungsraum und durch den düsteren Flur folgte, fragte er: »Wann fließt der Strom wieder uneingeschränkt?«
»Ab sechs Uhr morgens. Wir kommen auf dem Weg zu Ihrem Zimmer am Fitnessraum vorbei. Trainieren und duschen Sie morgen früh, danach treffen wir uns um sieben im Besprechungsraum. Bis dahin habe ich hoffentlich einige Vorschläge, über die wir diskutieren können.«
* * *
»Lucy, ist eine Weile her, seit wir uns zuletzt gesprochen haben.«
Lucy Chen verstärkte den Griff um das Lenkrad, während sie die Flatbush Avenue entlangfuhr. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Stimme von Doug Mason aus den Lautsprechern ihres Autos dringen würde. »Stimmt. Ich dachte, wir reden gar nicht mehr miteinander.«
»Das hat nicht an mir gelegen. Du wolltest Abstand vom Outfit. Und obwohl du immer noch Mitglied bist, habe ich mich bemüht, deinen Wunsch zu respektieren.«
»Aber? Bei dir gibt’s immer ein Aber , Doug.«
»Das ist ein wenig kompliziert. Aber du kennst Alicia Yoder, richtig?«
»Natürlich kenne ich sie.« Lucy spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief: Sie fuhr rechts ran, um sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Es verhieß nie etwas Gutes, wenn jemand vom Outfit den Namen eines Zivilisten oder einer Zivilistin erwähnte. Und trotz Levis Tätigkeit waren seine Kinder vollkommen unschuldig. Ihre Stimme wurde schärfer, als sie sagte: »Ich habe sie schon gekannt, bevor Levi sie von der Straße geholt hat. Wieso erwähnst du sie?«
»Ganz ruhig, Drachenlady, ich will nur helfen.« Mason seufzte, und einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. »Levi ist gerade bei einem Einsatz im Ausland. Er weiß nichts davon, und es würde seine Mission gefährden, wenn er davon wüsste. Bestimmte Mitglieder der russischen Mafia wollen an Levi ran. Und um es kurz zu machen, sie haben erfahren, dass Alicia nach Princeton geht.«
»Aber erst im Herbst.«
»Leider wurde sie zu einer speziellen Einführungsveranstaltung im Wohnheim eingeladen. Sie bricht morgen von der Farm ihrer Großmutter auf.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es einfach. Unsere verdeckten Ressourcen, die bei dem Fall helfen könnten, sind spärlich und bereits mit anderem beschäftigt. Ich lasse die Farm zwar gerade von Agenten beobachten, und wir können ihr bis zur Uni folgen, aber danach wird es haarig.«
Lucy runzelte die Stirn. »Wenn ihr das Haus von Levis Mutter verwanzt habt – und das traue ich euch ohne Weiteres zu –, dann rastet er aus.«
»Lass das jetzt mal beiseite. Kannst du aushelfen?«
»Und wie zum Teufel hat die russische Mafia von Alicia erfahren?«
»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.«
»Wie glaubwürdig ist die Bedrohung?«
»Leider halten wir sie für sehr glaubwürdig. Sonst hätte ich nicht angerufen.«
Lucy rief sich Alicias glückliches Gesicht von ihrem letzten Besuch auf der Farm ins Gedächtnis. Sie hatte sich so darauf gefreut, diese Hochschule zu besuchen. Und das Mädchen war so verdammt unschuldig ... Alicia hatte keine Ahnung, wer ihr Vater in Wirklichkeit war. Mit wachsender Frustration platzte sie heraus: »Was schwebt dir vor? Was soll ich unternehmen? Schwebt sie in Gefahr, entführt zu werden, um an Levi ranzukommen? Oder könnte ein Anschlag auf sie verübt werden?«
»Entführung ist die Hauptsorge. Alicia wird am Whitman College auf dem Campus von Princeton sein. Ich kann ins System eingreifen und dir vielleicht einen Platz bei der Orientierungsveranstaltung verschaffen. Vielleicht als ihre Mitbewohnerin.«
Lucy schnaubte höhnisch. »Wir haben uns zwar eine Weile nicht mehr gesehen, aber ich kann dir garantieren, dass ich nicht mehr als Studentin durchgehen würde. Ich bin die Falsche, aber ich hätte da eine Idee ...«
»Die Leute, mit denen wir es wahrscheinlich zu tun haben ...«
»Doug, um es ungeschönt auszusprechen, ich bin ehemalige Berufskillerin und weiß, was Alicia zum Schutz braucht. Ich lasse dich wissen, was mir vorschwebt, sobald ich ein paar Dinge arrangiert habe.«
»Perfekt.«
Lucy verengt die Augen zu Schlitzen, während sie durch die Windschutzscheibe des Autos starrte. Im Verlauf der Jahre hatte sie gelernt, Mason zu verabscheuen. In gewisser Weise gab sie ihm die Schuld an ihren Schwierigkeiten mit Levi. Dennoch hatte der Mann noch nie wirklich sein Wort gebrochen. »Du hast gesagt, sie fährt morgen zur Uni los?«
»Ja. Im Augenblick essen die Yoders zu Abend. Danach werden sie bald ins Bett gehen. Morgen früh bricht Alicia von der Farm nach Princeton auf.«
»Wenn Levi dir nicht den Arsch dafür aufreißt, dass du das Haus seiner Mutter verwanzt hast, bist du ein waschechter Glückspilz. Du kannst dich nämlich drauf verlassen, dass ich es ihm sagen werde.«
Masons Seufzen dröhnte laut aus den Lautsprechern des Autos. »Schick mir einfach so schnell wie möglich irgendwas, ich muss nämlich in den nächsten zwölf Stunden ein paar Wunder wirken.«
Lucy legte den Gang ein, reihte sich wieder in den späten Berufsverkehr ein und steuerte die Upper East Side an. »Kriegst du innerhalb der nächsten Stunde.« Ein bedrohlicher Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Pass bloß auf das Mädchen auf. Die Kleine ist nicht nur ihrem Adoptivvater lieb und teuer.«