KAPITEL ELF

Obwohl es in den unterirdischen Räumen des Outfits deutlich kälter als gewohnt war, hatte Levi einigermaßen gut geschlafen. In seinem Zimmer fand er mehrere Garnituren Straßenkleidung und sogar eine Jogginghose, die er mit einem weißen, ärmellosen T-Shirt angezogen hatte. Als er den Fitnessraum betrat, überraschte ihn die gute Ausstattung. Umso mehr, da er sich 15 Meter unter der Erde befand.

An den Wänden waren vom Boden bis zur Decke reichende Spiegel montiert. Die topmoderne Einrichtung reichte von Ergometern über Laufbänder bis hin zu einer Reihe von Gewichtsstationen.

Levis Aufmerksamkeit heftete sich auf den Mann auf der Hantelbank, der gerade mindestens 150 Kilo beim Bankdrücken stemmte. Nach zehn Wiederholungen platzierte der Mann die Stange ohne Ermüdungserscheinungen auf der Metallhalterung, setzte sich auf, nickte Levi zu und ging zu einer Ablage mit schweren Kurzhanteln weiter.

Er ging davon aus, dass es sich um Nadias Bruder handelte, der stark genug wirkte, um auf der Straße ein beeindruckender Gegner zu sein.

Als Levi die Aufmerksamkeit auf die andere Seite des Raums richtete, entdeckte er einen schweren Sandsack, der an einer Kette von der Decke hing.

Lächelnd ging er hin und begann, sich mit ein paar Abfolgen von Schlägen und Tritten aufzuwärmen.

Nach etwa fünf Minuten spürte er, wie das Blut in seine Muskeln strömte und sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Levi grunzte, als er eine Reihe von schnellen Tritten ausführte. Die schweren Treffer seines Schienbeins hallten dumpf durch den Raum und schwenkten den schweren Sack in verschiedene Richtungen.

Nadias Bruder zeigte darauf und fragte in gebrochenem Englisch: »Ich soll halten?«

Levi nickte, und der große Kerl packte den Sandsack, beendete dessen Schaukelbewegungen.

Mit stetig steigendem Tempo entfesselte Levi einen Hagel von Geraden, Tritten und Schlägen gegen das nunmehr fixierte Ziel. Die Intensität seiner Treffer stieg, bis sich der Mann dem Ansturm entgegenstemmen musste.

Nach fast zwei Minuten Dauerangriffen beendete Levi die Abfolge mit einem Rückwärtstritt aus der Drehung, der Nadias Bruder zwei Schritte zurückstieß. Schwer atmend verharrte Levi.

»Gut gemacht, Levi«, lobte Nadia, als sie den Fitnessraum betrat. »Wie ich sehe, haben Sie meinen Bruder Iwan schon kennengelernt.«

Iwan bot Levi die Ghettofaust an, bevor er sich auf Russisch an Nadia wandte. »Ich gehe duschen. Braucht ihr noch was von mir, bevor ich nach oben gehe?«

Nadia schüttelte den Kopf, und ihr Bruder verließ den Raum. Grinsend näherte sie sich Levi, wischte mit dem Finger über seinen schweißnassen Arm und kostete ihn. »Sie sind auch nicht, wie ich Sie erwartet hätte, Genosse Yoder.« Sie zeigte zur Tür. »Falls Sie fertig sind, gehen Sie jetzt duschen. Wir treffen uns danach im Besprechungsraum. Ziehen Sie am besten Ihren Anzug an. Damit haben Sie den Look, den Sie brauchen.«

»Meinen Anzug? Also haben Sie eine Idee, wie ich an Porschenko rankommen können?«

Nadia zuckte mit den Schultern. »Reden wir im Besprechungsraum darüber.«

Damit wandte sie sich ab und ging. Levis Gedanken überschlugen sich.

Was um alles in der Welt meinte sie mit »dem Look, den der brauchte« ?

Unter Nadias Anleitung legte Levi die Finger auf die fleckige Betonwand.

»Vom Riss zwei Zentimeter nach rechts und einen nach unten.«

Mit gerunzelter Stirn konzentrierte sich Levi auf den haardünnen Riss in der Wand. »Wenn ich den biometrischen Scanner schon mit Ihrer Hilfe kaum finde, wie soll ich’s dann allein schaffen, wenn ich wieder rein will?«

Nadia klopfte ihm auf die Schulter und antwortete in beruhigendem Ton. »Der Riss ist nicht echt. Es ist ein Muster im Beton. Draußen werden Sie genau dasselbe sehen. Außerdem haben wir überall in der Gasse Bewegungsmelder. Sie verhindern, dass sich die Tür öffnet, wenn sich andere Personen im Umkreis von drei Metern zum Eingang aufhalten.«

Levi warf ihr einen Blick zu, und sie grinste.

»Es ist unwahrscheinlich, dass sich Leute rein zufällig in dieser Gasse herumtreiben. Sie werden gleich wissen, warum.« Nadia deutete auf die Betonwand. »Nur zu ...«

Levi maß von dem Riss zwei Zentimeter zur Seite, was der ungefähren Breite seines Zeigefingers entsprach, dann einen Zentimeter nach unten, bevor er den Finger auf die kühle Betonoberfläche legte.

Nach etwa einer Sekunde ertönte ein lautes Klicken. Nadia flüsterte: »Los, drücken Sie.«

Levi kam der Aufforderung nach. Die Wand schwang auf geölten Scharnieren auf.

Intensiver Ammoniakgeruch bestürmte ihn, als er hindurchging.

Der beißende Uringestank trieb ihm das Wasser in die Augen. Kaum war ihm Nadia durch die Tür gefolgt, schloss sie sich automatisch hinter ihr.

»Gehen wir.« Nadia schwenkte nach links und eilte an Levi vorbei.

Ohne zu zögern, folgte er ihr. Unterwegs versuchte er, herauszufinden, woher der widerliche Gestank von Pisse stammte.

Nadia sah ihn an und flüsterte: »Der Geruch kommt aus der Kanalisation.«

Als sie sich dem Ende der Gasse näherten, nahm man ihn praktisch nicht mehr wahr. Abgelöst wurde er vom leichten Schimmelaroma der feuchten Straßen.

Sie betraten einen breiten Bürgersteig, und Nadia bog nach rechts. »Wir sind jetzt in der alten Mjasnizkaja-Straße. Dazu kann ich Ihnen ein paar Informationen geben. Wie Sie ja wissen, ist mjaso das russische Wort für Fleisch. Vor ungefähr 500 Jahren hat sich in dieser Straße eine Metzgerei an die andere gereiht. Auch heute noch findet man überall entlang der Straße Geschäfte und Teehändler.«

Levi schwenkte den Blick in beide Richtungen und fand die Umgebung eigenartig. Auf einer Seite der Straße befanden sich verschiedene Läden, auf der anderen die Rückseiten von Gebäuden. Etwas Vergleichbares hatte er bei all seinen Reisen um die Welt noch nie gesehen. Normalerweise zeigte die sogenannte Fassade eines Gebäudes immer zur Straße. Nicht so hier. Die Rückseiten der Häuser wiesen Graffiti auf. Viele hatte man schlampig mit weißer Farbe überdeckt, bevor neue Graffiti über den halbherzigen Reinigungsversuch gemalt worden waren. Er zeigte auf ein Geschäft, dem sie sich näherten, und fragte: »Ist das der Laden, aus dem sich Karpow laut ihrem Bruder seinen Tee und sein Gebäck besorgt?«

Nadia nickte, verlangsamte die Schritte und blieb schließlich stehen.

Es war noch früh am Morgen, mindestens 30 Minuten vor dem täglichen Spaziergang des Oligarchen aus seiner wenige Blocks entfernten Luxuswohnung.

Mit zerfurchter Stirn sah sie ihn an. »Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?«

Levi betrachtete die Schaufensterfront, bevor er den Blick auf die verwaisten Bänke auf der anderen Straßenseite richtete. Er nickte. »Ich mache es.«

Nadia legte ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn leicht. »Na schön, ich muss los. Man darf mich sicherheitshalber nicht in Ihrer Nähe sehen. Kann ich noch irgendwas für Sie tun?«

Levi schüttelte den Kopf, und sie ging den Bürgersteig weiter entlang.

Levi zog einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts und kritzelte eine Nachricht auf einen Zettel, während er die Straße zum Perlow Teehaus überquerte.

Als er den Laden betrat, stieg ihm sofort der Duft von frischem Gebäck in die Nase. Zuckeraroma beherrschte die Luft.

Er näherte sich einer Ladentheke. Trotz des knalligen Schaufensters und der etwas heruntergekommenen Gebäude auf der anderen Straßenseite handelte es sich eindeutig um ein Geschäft der gehobenen Klasse. Das vielfältige Angebot stellte die meisten New Yorker Bäckereien in den Schatten.

Und obwohl alles hochwertig aussah, erwiesen sich die Preise als relativ moderat. Auf jeden Fall deutlich günstiger als für Gleichwertiges in Manhattan.

Ein älterer Herr hinter der Theke sah Levi an und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«

Die Kontaktlinse reagierte und legte ein grünes Rechteck um das Gesicht des Mannes. Er hieß Michail Poljudow.

Levi zückte eine 1000-Rubel-Banknote und einen Zettel. »Michail, ich glaube, Jewgeni Karpow kommt regelmäßig her, stimmt das?«

Der Mann presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und wirkte sofort misstrauisch.

Levi setzte ein herzliches Lächeln auf und verlieh seiner Stimme einen beschwichtigenden Ton. »Er hat vor langer Zeit nach mir gesucht, und ich habe eben erst davon erfahren.« Er reichte dem Mann das Geld und den Zettel. »Wenn Sie ihn sehen, können Sie ihm das von mir geben? Das Geld ist für Ihre Mühe.«

Der ältere Mann nahm beides so entgegen, als wäre es vollgepinkelt. »Ich weiß nicht ... das erscheint mir nicht richtig.«

Levi holte einen Fünftausend-Rubel-Schein hervor und zerriss ihn in zwei Hälften.

Die Augen des Mannes weiteten sich entsetzt.

5.000 Rubel entsprachen für einen Durchschnittsrussen fast einem Wochenlohn.

Levi legte eine der zerrissenen Hälften auf den Tresen und schob sie dem Mann zu. »Wenn Sie ihm den Zettel geben, erfahre ich davon und komme mit der anderen Hälfte zurück.«

Kaum hatte der Mann die Hälfte des Geldscheins an sich genommen, machte Levi kehrt und verschwand zur Tür hinaus.

Es würde entweder funktionieren oder nach hinten losgehen.

Levi überquerte die Straße zu einer der verwaisten Holzbänke und ließ sich zum Warten darauf nieder.

* * *

Alicia verspürte einen Anflug von Aufregung, als sie den Flur im zweiten Stock des Whitman Wohnheims entlangging. Sie hatte bereits ihren Studentenausweis, der zugleich als Schlüsselkarte fast überall auf dem Campus diente. Natürlich auch für ihr Zimmer im Wohnheim.

Man hatte ihr ein Viererzimmer zugeteilt, also würde sie es sich mit drei anderen Mädchen teilen. Einerseits freute sie sich auf Mitbewohnerinnen, zugleich jedoch fand sie die Vorstellung irgendwie beängstigend. Da sie ihre Jugendjahre in einer amischen Gemeinde verbracht hatte, sorgte sie sich darüber, für wie uncool man sie halten könnte. Zwar hatte Alicia in der Bibliothek in Lancaster im Internet recherchiert, womit sich junge Leute in ihrem Alter normalerweise die Zeit vertrieben, dennoch wusste sie, dass sie das Mädchen vom Land sein würde. Sie hatte beispielsweise keine Ahnung von Videospielen. Dafür wusste sie alles darüber, wie man Kühe molk und Käse herstellte. Außerdem verstand sie sich ziemlich gut darauf, Zäune zu reparieren, wenn der 900 Kilo schwere Bulle mal wieder das Hinterteil an einem Pfosten gerieben und ihn unweigerlich umgestoßen hatte.

Mit bereitgehaltener Schlüsselkarte wanderte ihr Blick über die Nummern an den Türen. Als sie ihr Zimmer erreichte, zog sie die Karte über das elektronische Schloss.

Sofort klickte es. Als Alicia die Tür öffnete, schlug ihr Gelächter entgegen.

Das Zimmer erwies sich als recht klein. Es bot gerade genug Platz für zwei Einzelbetten und eine Kommode. Zu ihrer Linken jedoch befand sich eine Tür zu einem größeren Raum. Ein Mädchen kam breit grinsend auf sie zu.

Eine Asiatin! Was für ein cooler Zufall.

Die junge Frau war groß und schlaksig. Langes schwarzes Haar umrahmte ein schmales Gesicht. Sie streckte die Hand aus und ergriff auf Englisch mit starkem chinesischem Akzent das Wort. »Hi, ich bin Liu Ruxia, aber mein englischer Name ist Ruth.« Sie zeigte auf eines der Betten mit einem rosa Teddy darauf. »Ich bin deine Mitbewohnerin.«

Alicia schob ihren Rollkoffer zu ihrem Bett, schüttelte Ruth die Hand und antwortete auf Mandarin. »Hi, ich bin Alicia. Woher kommst du?«

»Oh!« Ruths Züge hellten sich auf, als sie auf Mandarin antwortete. »Ich bin in Taiyuan geboren.« Ruth bedeutete Alicia, ihr ins andere Zimmer zu folgen. »Ist ja so was von cool, dass du Chinesin bist!«

Alicia betrat den größeren Raum, den ein Futon, mehrere Stühle und zwei Schreibtische beherrschten. Zwei andere asiatische Mädchen sprangen auf, als Ruth mit kindlichem Überschwang in die Hände klatschte.

Sie zeigte auf eine große, sportlich gebaute junge Frau mit einem langen, geflochtenen Pferdeschwanz. »Feng Min, das ist Alicia, unsere Mitbewohnerin.«

Alicia schüttelte die Hand ihrer Kommilitonin, die sofort den Blick abwandte und errötete.

»Und das ist Ye Ting.«

Ein zierliches Mädchen näherte sich Alicia und umarmte sie. »Schon seltsam, wie sie die Chinesinnen zusammenpacken.«

Alicia grinste. »Ehrlich gesagt bin ich aus Hongkong.«

»Echt jetzt?«, riefen die drei anderen Mädchen teils auf Mandarin, teils auf Kantonesisch, dem in Hongkong gesprochenen Dialekt. »Wir auch!«

»Wow. Lebt ihr in den USA oder ...«

»Erst seit kurzem.« Ruth zeigte auf die beiden anderen Mädchen und erklärte: »Wir sind in dieselbe Gastfamilie gekommen, aber die chinesische Regierung finanziert uns auch das Studium. Was ist dein Hauptfach?«

»Mein Schwerpunkt wird Neurowissenschaft. Was ist mit euch?«

Ruth sah die beiden anderen an und zuckte mit den Schultern. »Die Regierung zahlt dafür, dass wir uns auf Bauingenieurwesen konzentrieren.«

Alicia nickte, obwohl sie sich nicht viel darunter vorstellen konnte. Gerade mal, dass es damit zu tun haben musste, etwas zu bauen. Von daher schien es eine sinnvolle Investition der chinesischen Regierung zu sein.

Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr und stellte fest, dass es fast Mittag war. »Die Einführung fängt um drei an. Wollt ihr vorher noch eine Kleinigkeit essen?«

Alle drei nickten, und Ting fragte: »Weißt du, wo die Cafeteria ist? Wir haben schon darüber gesprochen, dass wir uns einen Campusplan oder so besorgen müssen.«

»Oh, keine Sorge.« Alicia wischte über ihr Handy und rief eine Karte auf, die sie als Lesezeichen gespeichert hatte. »Ich habe einen hier.«

Ruth schnappte sich einen Rucksack. Die beiden anderen folgten ihrem Beispiel, und sie deutete mit ihrem breiten Grinsen zur Tür. »Die mit dem Plan geht voraus.«

* * *

Levi ließ den Blick unablässig die Straße hinauf und hinunter wandern. Als er drei gut gekleidete Männer bemerkte, die um die Ecke in seine Straße einbogen, setzte er sich aufrechter hin. Sie bewegten sich auf der Mjasnizkaja-Straße in Richtung Süden. Und obwohl er durch die Entfernung ihre Gesichter noch nicht ausmachen konnte, fiel ihm auf, dass sich der Mann vorn nur darauf konzentrierte, was sich vor ihm befand, während die beiden anderen stetig die Köpfe drehten.

Bei den Letzteren handelte es sich um Leibwächter, daran bestand für Levi kein Zweifel. Er sah auf die Armbanduhr.

Pünktlich auf die Minute.

Alle drei betraten das Perlow Teehaus.

Es mussten Karpow und seine Leute sein.

Levi wartete.

Würde der alte Mann schon auf Karpow warten und ihm den Zettel sofort überreichen, weil er wusste, dass ihm dafür ein zusätzlicher Wochenlohn winkte? Vielleicht würde er aber auch nicht riskieren wollen, in Schwierigkeiten zu geraten.

Levi zählte die Sekunden mit, seit die Männer den Laden betreten hatten. Nur eine halbe Minute kam jemand mit etwas in der Hand zurück heraus.

Levi lächelte.

Der Mann stellte fast sofort Blickkontakt mit ihm her, als auch seine beiden Begleiter das Geschäft verließen.

Levi hob die Hand und winkte verhalten.

Karpow nickte. Seine beiden Leibwächter folgten ihm über die Straße direkt auf Levi zu.

Levis Kontaktlinse legte ein gelbes Rechteck um Karpows Gesicht. Umgehend erschienen darunter die dazugehörigen Informationen.

Jewgeni Karpow.

Als die Gruppe etwa vier Meter entfernt den Bürgersteig betrat, bedeutete Karpow seinen Männern zu warten. Er ging allein weiter, bis er knapp außerhalb von Levis Reichweite stehen blieb.

Levi achtete aufmerksam auf Karpows Leibwächter.

Sie behielten die Hände vorn, ähnlich wie Agenten des Secret Service in den USA bei Personenschutzeinsätzen.

Die beiden Männer hatten sich strategisch so postiert, dass sie freies Schussfeld hatten, falls sie zu den Waffen greifen müssten.

Karpow legte den Kopf schief und meinte: »Sie sind entweder ein sehr mutiger oder ein sehr dummer Mann.«

Levi zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein bisschen von beidem.«

Der Oligarch hielt den Zettel hoch und las laut vor: »Sie haben nach Lazarus Yoder gesucht. Ich weiß, wo er ist. Kommen Sie zu der Bank auf der anderen Straßenseite. Ich bin bewaffnet, will Ihnen aber nichts tun.« Er zerknüllte das Papier, warf es weg und ließ sich am anderen Ende der Holzbank nieder.

Ein Abstand von etwa einem Meter verblieb zwischen ihnen.

Der Mann drehte sich Levi zu und fragte: »Woher kennen Sie diesen Namen, und woher wissen Sie von meinem Interesse an dieser Person?«

Levi sah den Mann an und bemerkte strahlend blaue Augen im faltigen Gesicht eines Mannes deutlich über 60. »Woher ich den Namen kenne? Die Antwort ist einfach: Meine Mutter und mein Vater haben ihn mir bei der Geburt gegeben.«

Ein Lächeln breitete sich in Karpows Gesicht aus, und er ließ ein leises Lachen vernehmen. »Interessant. Wenn das so ist, dann sagen Sie mir, warum mich interessiert, wer Sie sind.« Der Oligarch warf einen Blick zu seinen Männern und nickte knapp.

Beide zogen ihre Pistolen und zielten direkt auf Levi. Die Finger auf den Abzügen. Bereit zu schießen.

Trotz der Anspannung in der Luft fühlte sich Levi ruhig, als er antwortete: »Sie haben für einen Mann namens Porschenko gearbeitet. Wladimir, um genau zu sein. Wladimir ist gestorben. Und Sie wollten die Wahrheit über seinen Tod herausfinden. Sie haben Ermittler beauftragt und erfahren, dass in Porschenkos Gebäude ein Besucher war, der sich nie ausgetragen hat.

Aber Sie haben sich nicht von dem Namen im Logbuch täuschen lassen und ...«

»Wie lautet der Name der Person im Logbuch?«, fragte Karpow dazwischen, dessen Augen größer wurden.

»Im Logbuch steht der Name Ronald Warren.«

Karpows Mund klappte auf, und er bedeutete Levi, fortzufahren.

»Ich weiß, dass sich die Ermittler von dem falschen Namen nicht haben täuschen lassen. Sie haben Ihnen mit Hilfe der Aufzeichnungen der Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware einen anderen Namen geliefert. Lazarus Yoder. Er war in dem Gebäude.

Ich war im Gebäude. Und ja, ich war dabei, als Wladimir gestorben ist. Aber nicht an einem Herzinfarkt, wie in den Medien berichtet wurde.« Levi verstummte kurz und lächelte Karpow an. »Sie wollten die Wahrheit wissen. Ich kann Ihnen sagen, was wirklich passiert ist. Aber ich brauche dafür eine Gegenleistung.«

Karpow machte eine Abwärtsbewegung in Richtung seiner Männer. Sofort steckten sie die Waffen weg und nahmen wieder Bereitschaftshaltung ein. »Wie viel wollen Sie?«

Levi schüttelte den Kopf. »Ich will kein Geld. Ich brauche Informationen.«

»Wirklich?« Karpows Augenbrauen schossen in die Höhe. Er beugte sich näher zu Levi. »Ich habe Sie für einen Attentäter gehalten. Einen Auftragsmörder.«

»Man hat mich schon vieles genannt. Und ja, ich habe einen Auftraggeber. Aber ich brauche kein Geld, sondern Informationen.«

»Was für Informationen?«

Levi beugte sich seinerseits vor und flüsterte: »Ich brauche Hilfe dabei, an Konstantin Porschenko ranzukommen.«

Karpow atmete scharf ein und schüttelte den Kopf. »An Ihrem Akzent ist unschwer zu erkennen, dass Sie nicht aus diesem Land stammen, also muss ich Sie warnen. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen klar ist, was Sie verlangen. Er ist in diesem Land unantastbar. Der Mann genießt die Gunst und den Schutz des russischen Präsidenten.«

»Ist mir bekannt. Ich weiß auch, dass sich seine Büros im Lubjanka-Gebäude befinden. Und ich bezweifle schwer, dass es mir gelingen könnte, dort reinzukommen ...«

»Warum würden Sie das wollen?«

Levi seufzte. »Der Mann ist für den Tod vieler Unschuldiger verantwortlich. Er ist eine Gefahr für die internationale Stabilität. Ich bin damit beauftragt, dieses Risiko zu beseitigen.«

Karpow schüttelte den Kopf. »Sie missverstehen mich. Warum wollen Sie in seine Büros in der Lubjanka? Die hat er nur zum Schein. Das ist eine russische Eigenart – der Ruf der Lubjanka und die ›offiziellen‹ Büros darin sollen einschüchternd wirken. Sein eigentliches Büro hat er in seinem Haus in Rubljowka, etwa eine Stunde entfernt.«

»Wirklich?«

Der Oligarch nickte. »Warum wollen Sie in sein Büro?«

»Ich muss herausfinden, was für eine Bedrohung er für meine Auftraggeber darstellt.«

»Ihn auszuschalten, reicht nicht?«

Levi nickte. »Es gibt Leute, die mit Porschenko zusammenarbeiten. Ich muss wissen, wer sie sind. Entweder, indem ich ihn verhöre, oder indem ich seine Unterlagen durchsehe.«

Karpow kratzte sich am Kinn. »Und wenn Sie wissen, mit wem er zusammenarbeitet? Was dann?«

»Alle Bedrohungen für meinen Auftraggeber müssen beseitigt werden.«

»Also ... sind Sie doch ein Auftragsmörder.« Karpow grinste.

Levi zuckte mit den Schultern. »Ich beseitige Bedrohungen, das ist alles.«

Karpow beugte sich erneut näher und flüsterte kaum hörbar: »Ich stehe bereits wegen Wladimir in Ihrer Schuld. Wenn es Ihnen geling, sich um Konstantin zu kümmern, dann doppelt.« Er streckte die Hand aus und fuhr in normaler Lautstärke fort. »Also eine Abmachung. Ich gebe Ihnen die gewünschten Informationen, Sie kümmern sich um ein gemeinsames Problem. Fair?«

Levi schlug mit dem Oligarchen ein und nickte. »Fair.«

Karpow stand auf und reichte Levi eine Visitenkarte. »Wir treffen uns morgen früh bei dieser Adresse. Bis dahin habe ich alles, was Sie brauchen, und Sie helfen mir mit ein wenig Geschichtsunterricht aus.«

Levi reichte Karpow die zerrissene Hälfte des Fünftausend-Rubel-Scheins. »Wenn Sie zurück in den Teeladen gehen, können Sie dem Mann dort ...«

»Nicht nötig.« Karpow zog die andere Hälfte des Geldscheins aus der Tasche und drückte Levi beide in die Hand. »Michail hat mir erzählt, was Sie getan haben. Ich habe die Hälfte von Ihnen durch einen unversehrten Schein ersetzt.« Damit wandte sich der Mann ab und überquerte wieder die Straße. Seine Leibwächter folgten ihm dicht.

Grinsend beobachtete Levi, wie Karpow erneut in dem Teeladen verschwand.

Dann betrachtete er die Visitenkarte und fragte sich, welche Geschäfte an einem Ort namens Rasputin abgewickelt wurden.