Alicia richtete sich ruckartig auf. Ihr Herz raste, während sie panisch in die Dunkelheit des Zimmers im Wohnheim starrte. Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr auf der Kommode ihrer Mitbewohnerin. Drei Uhr morgens.
Als sie die Beine unter der Bettdecke hervorschob, rührte sich Ruth in deren Bett und flüsterte: »Wo willst du hin?«
»Nirgends, nur auf die Toilette.«
Ruth schlug die Decke zurück, griff nach ihrem Kulturbeutel und verkündete: »Ich muss auch.«
Alicia gähnte, als sie in ihre Pantoffeln schlüpfte und Tings Stimme aus dem Gemeinschaftsraum hörte. »Was habt ihr denn vor?«
Ruth drehte sich der Stimme aus dem anderen Zimmer zu und wischte die Frage weg, als Alicia den Kopf in den Nebenraum steckte.
Ting saß mit dem Telefon in der Hand auf dem Futon und zog gerade ein Paar Flipflops an.
»Warum bist du überhaupt wach?«, fragte Alicia.
Ting zuckte mit den Schultern. »Die Umgebung ist so neu. Ich hab immer Schwierigkeiten dabei, in neuen Umgebungen zu schlafen. Wo wollt ihr zwei denn hin? Kann ich mitkommen?«
Alicia lachte und zeigte auf sich. »Ich muss aufs Klo. Ihr solltet wahrscheinlich eher schlafen.«
»Jetzt, wo du’s sagst, muss ich auch.« Als Ting nach ihrem Kulturbeutel griff, rutschte er vom Futon und landete mit einem dumpfen metallischen Laut auf dem Boden.
»Was um alles in der Welt hast du denn da drin?«, fragte Alicia.
Ting lief rot an und schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Toilettenartikel«, murmelte sie leise.
Nach dem verlegenen Blick ihrer Mitbewohnerin zu urteilen, log sie wohl.
Alicia spürte, wie ihr Hitze in die Wangen schoss, während sie versuchte, sich nicht vorzustellen, was in dem Reißverschlussbeutel sein könnte. Als amisches Mädchen brauchte sie solche Bilder so was von überhaupt nicht im Kopf. Sie ging zur Tür hinaus und hörte Ruth etwas flüstern. Dann eilte ihre Mitbewohnerin hinter ihr her.
* * *
Als das Taxi vor dem KFC langsamer wurde, tippte Levi dem Fahrer auf die Schulter. »Das ist nah genug. Halten Sie hier.«
Der Fahrer fuhr rechts ran, blieb am Bürgersteig stehen und schaute über die Schulter zu Levi. »Soll ich warten? Ich kann warten.«
Levi schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich bin zum Essen verabredet und werde später von einem Freund abgeholt.« Er reichte dem Fahrer einige Scheine, die fast den doppelten Fahrpreis ausmachten, und stieg aus.
Nadia hatte ihn davor gewarnt, dass man Taxifahrern nicht trauen durfte. Viele versuchten, ihre Fahrgäste zu betrügen – in Russland herrschten verzweifelte Zeiten. Und nicht wenige meldeten der Geheimpolizei alles, was ihnen ungewöhnlich erschien, weil sie dafür auf eine kleine Vergütung hofften.
Der Taxifahrer wartete fast eine Minute, bevor er den Gang einlegte, sich in den Mittagsverkehr auf dem Zubowski-Boulevard einreihte und schließlich auf die Autobahn auffuhr.
Levi atmete den vertrauten Duft von frittiertem Hähnchen ein und trat den Weg in westlicher Richtung zu seinem Ziel an.
Es handelte sich um ein Gewerbegebiet mit kleinen Geschäften. Alles wirkte recht gepflegt und modern.
Er ging an einer Bank zu seiner Linken vorbei. Als er sein Ziel erblickte, verspürte er Belustigung.
In Amerika fand man nicht oft eine Bank unmittelbar neben einem Striplokal. Hier schon. Über dem rot umrahmten Eingang stach der Name Rasputin in grellroter Schrift hervor - die kyrillischen Buchstaben ergaben den Namen des berüchtigten Mystikers aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Mit einem schnellen Blick in alle Richtungen vergewisserte sich Levi, dass niemand ihn beobachtete, dann betrat er das Lokal.
Das Etablissement wirkte dafür, was es war, recht zahm, vermutlich aufgrund der Tageszeit. Es erinnerte Levi an eine Lounge in Las Vegas. Es gab mehrere Bereiche, in denen Speisen und Getränke serviert wurden, in der Mitte eine Bühne mit kleineren Tischen ringsum sowie etliche schattige Winkel und Ecken, in denen sich anderes abspielen konnte.
In Augenblick sah er nur mehrere normal, wenn auch knapp gekleidete Kellnerinnen sowie ein paar Dutzend Gäste, die an den Tischen aßen.
In der Nähe des Eingangs standen zwei große Kerle, die ihn aufmerksam im Auge behielten, als er zum Pult der Tischdame ging, wo ihn ein Schild zum Warten aufforderte.
Eine wunderschöne Blondine mit Modelmaßen in einem hautengen Kleid näherte sich mit einem scheinbar echten Lächeln. »Willkommen, Genosse. Mittagessen für eine Person?«
Ein rotes Rechteck umrahmte das Gesicht der Frau und lenkte Levis Aufmerksamkeit auf die von der Kontaktlinse angezeigten Informationen.
Katarina Pawlowa
Mitglied des russischen FSB.
Abteilung Spionageabwehr.
Interessant.
Da er den Großteil seines Lebens in der Mafia verbracht hatte, war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen, nie etwas für ihn Belastendes von sich zu geben. Dennoch würde er sich in Gegenwart dieser Frau doppelt davor hüten.
Levi erwiderte ihr Lächeln und hielt die Visitenkarte hoch, die Karpow ihm gegeben hatte. »Genosse Karpow und ich haben einen Termin.«
Die Frau nickte. »Ihr Name bitte.«
»Yoder.«
Sie ergriff den Hörer eines Telefons hinter dem Pult, hielt ihn ans Ohr und sagte: »Genosse Yoder ist für den Genossen Karpow hier. Soll ich ihn im Salon warten lassen?« Ihre Augen weiteten sich. »Oh, in Ordnung. Ich sage es ihm.« Die Frau legte auf und wandte sich wieder an Levi. »Genosse Karpow beendet nur noch ein Telefonat und kommt dann sofort.« Die Blondine zeigte zur Bar. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Genosse Yoder?«
Levi schüttelte den Kopf. »Ich möchte nichts.«
Die Frau beugte sich näher und sprach mit leiser Stimme. »Sie haben einen interessanten Akzent. Ich merke daran, dass Sie aus dem Ausland sind. Woher kommen Sie?«
»Moskau«, antwortete Levi grinsend. Er zeigte erst auf die leere Bühne, dann auf den spärlich besuchten Nachtclub. »Ist das tagsüber normal? Dass ... so wenig los ist?«
Nach einem kurzen Ausdruck von Unbehagen in ihrem Gesicht verlieh sie ihrer Stimme eine unbeschwerte Note. »Es ist zwar ein bisschen ruhiger als früher, aber so können wir uns vor dem abendlichen Ansturm ausruhen, der uns alle ganz schön auf Trab hält.«
»Kann mir vorstellen, dass ihr hier viel zu tun habt. Vor allem, wenn alle hier so aussehen wie Sie.« Levi zwinkerte.
Die Frau lachte und schüttelte den Kopf. »Sie sind zu freundlich und sollten sich vielleicht mal die Augen untersuchen lassen. Die anderen Mädchen sind wirklich umwerfend. Sie sollten abends herkommen und sie sich ansehen.« Am anderen Ende des Lokals öffnete sich eine Tür. Katarina zeigte in die Richtung. »Da ist Genosse Karpow. Ich hoffe, Sie beide haben eine produktive Besprechung.« Sie klopfte ihm auf die Schulter und fügte im Flüsterton hinzu: »Falls Sie danach noch Zeit haben, wäre es nett, sich mit jemandem aus ... Moskau zu unterhalten.« Sie schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln, und ihre Wangen röteten sich leicht.
»Es freut mich sehr, Sie zu sehen«, rief Karpow laut, packte Levi an den Schultern und drückte ihm auf beide Wangen einen Kuss. Er legte Levi den Arm um die Schultern und führte ihn in den hinteren Bereich des Etablissements. Die gleichen Leibwächter, die Levi am Vortag gesehen hatte, folgten dicht hinter ihnen.
Kaum hatten sie eine schwere Tür passiert, die sich mit einem dumpfen Pochen schloss, sagte Karpow: »Lazarus, ich bin sehr ...«
»Einen Moment.« Levi blieb abrupt stehen und zog sein Jackett aus.
Sofort zogen die Leibwächter die Waffen. Karpow brüllte ihnen entgegen: »Njet! Njet!«
Einer zeigte auf Levi und dessen nunmehr deutlich sichtbare Waffen.
Zorn blitzte in Karpows Augen auf, als er sich an Levi wandte. »Was machen Sie da?«
Levi strich mit den Händen über den Rücken seines Jacketts und spürte es, bevor er es sah.
Es handelte sich um ein fingernagelgroßes Stück Stoff. Zumindest sah es so aus. Levi schälte es vom Jackett. Die Farbe stimmte perfekt überein. Levi drückte den Flicken und spürte etwas Hartes, darin Eingewobenes.
Levi bedeutete seinen Begleitern zu schweigen, kniete sich hin, legte das Stück Stoff auf den Boden, zog einen Dolche und hieb wuchtig mit dem Griff auf den Flicken.
Ein metallisches Knacken hallte durch den Flur.
Levi steckte das Wurfmesser wieder weg, hielt das dunkle Objekt hoch und rieb es zwischen den Fingern. Die zerbrochenen Teile knirschten aneinander.
Levi deutete mit dem Daumen in den Gästebereich des Lokals. »Was wissen Sie über Ihre Empfangsdame?«
Karpow grinste breiter, als es möglich zu sein schien. »Sie sind sehr, sehr gut, Genosse Yoder.« Er streckte die Hand aus. »Lassen Sie mal sehen.«
Levi schlüpfte wieder in sein Jackett, reichte Karpow das zerstörte Gerät, und der Oligarch bedeutete der Gruppe, den Weg durch den Flur fortzusetzen.
Nach einer weiteren Tür blieben die Leibwächter draußen, während Levi von einem anderen Mann mit einem Stabdetektor überprüft wurde. An Levis Jacketttasche hielt er inne. »Telefon?«
Levi nickte und zog das Gerät hervor.
»Bitte ausschalten.«
Er tat, wie ihm geheißen, und der Mann beendete die Überprüfung.
Karpow gab ihm den Flicken. Der kleine Mann begutachtete das Objekt, bevor er nickte. Er zog eine kleine Metallbox aus der Hosentasche, legte den Flicken hinein und verließ den Raum.
Levi ließ den Blick durch das geräumige Büro wandern. Dabei fiel ihm auf, dass die Regale an den Wänden etliche Fachbücher enthielten. Werke über Technik und Physik sowie Ringordner, beschriftet mit Themen wie geologische Studien über sibirische Permafrostgebiete, geothermische Studien aus Nowosibirsk und dergleichen. Offenbar handelte es sich bei dem Mann nicht bloß um einen Handlanger der Regierung, der sich Energieverträge erschlichen hatte. Es schien durchaus möglich zu sein, dass er sich seine Position tatsächlich erarbeitet hatte. Jedenfalls war Karpow vielleicht nicht der Bürokrat, für den Levi ihn anfangs gehalten hatte.
Der Oligarch deutete auf einen von zwei Sesseln. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Als sich Levi niederließ, schenkte der ältere Mann eine bernsteinfarbene Flüssigkeit in ein altmodisches Glas ein.
Er bot Levi den Drink an. »Amerikanischer Whiskey. Über ein Vierteljahrhundert alt. Und ich muss zugeben, dass er mir ans Herz gewachsen ist.«
Levi schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich trinke nicht.«
»Auch gut. Dann bleibt mehr für mich.« Lächelnd nippte Karpow an dem Glas. Er deutete zur Tür seines Büros. »Ja, ich weiß alles über Katarina. Sie ist ein Spitzel. Die denken, so könnten sie etwas über mich herausfinden, mich belasten oder erfahren, was ich als Nächstes vorhabe, damit sie mich ausbremsen können.«
»Und die sind ...«
»Die Machthaber. Ob Porschenko, seine Handlanger oder die Regierung selbst, die Leute schickt, um mich auszuspionieren. Meist ist es sogar recht unterhaltsam, manchmal aber auch ein wenig beleidigend. Immerhin betreibe ich dieses Katz-und-Maus-Spiel schon mein Leben lang.«
Levi achtete eingehend auf Karpows Verhalten. Ihm gefiel das selbstbewusste Auftreten des Mannes, und ihn beeindruckte, dass der Mann eine bekannte Spionin in seiner Nähe duldete. Levi würde es wahrscheinlich nicht tun, und wenn er noch so sehr das Gefühl hatte, die Kontrolle zu haben. Man könnte zu leicht einen Fehler begehen. »Lassen Sie mich raten – Sie waren früher beim KGB?«
Karpow zwinkerte. »Unter anderem, junger Mann. Unter anderem.« Er klatschte mit einem fleischigen Laut in die Hände und deutete mit dem Kopf auf Levi. »Erweisen Sie mir die Höflichkeit, mir zu erzählen, was wirklich mit Wladimir passiert ist? Das ist ein Rätsel, das ich schon lange lüften will.«
»Ich kann sogar noch mehr tun.« Mit belustigter Miene holte Levi eines seiner Wurfmesser hervor und legte es auf den Beistelltisch zwischen ihnen. »Das ist das Messer, das ihm umgebracht hat.«
Ein überraschter Ausdruck huschte über die Züge des Oligarchen, als er das Messer ergriff und betrachtete.
Levi schilderte, was sich vor einigen Jahren ereignet hatte. Der Todesstoß war zwar mit Levis Waffe erfolgt, allerdings erst bei einem Handgemenge, nachdem Levi selbst angeschossen worden war.
Karpows begutachtete mit großen Augen das Messer, drehte es in den Händen und schien sich dabei vorzustellen, wie es quer durch Raum geschnellt war und seinen ehemaligen Boss getroffen hatte. Einen Moment lang schien der Mann in einer anderen Welt, einer anderen Zeit zu verweilen. Dann jedoch kehrt er abrupt in die Gegenwart zurück, richtete den Blick auf Levi und hielt die Klinge hoch. »Darf ich das behalten?«
Levi nickte. »Ich habe noch andere, aber ich dachte mir, das Exemplar könnte für Sie etwas Besonderes sein.« Tatsächlich wusste er nicht mehr, mit welchem seiner vier Wurfmesser der Todesstoß erfolgt war, doch das musste Karpow nicht erfahren. Und Levis Geschenk würde sich hoffentlich für ihn lohnen.
Der Oligarch drehte sich auf dem Sessel um, legte das Messer auf den Schreibtisch hinter ihm und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Levi. »Danke dafür. Kommen wir jetzt zu Konstantin, dem anderen Porschenko.
Sie sagen, Sie brauchen Zugang zu seinen Akten. Ich habe darüber nachgedacht. Sie haben ein schweres Problem – diese Akten befinden sich in Porschenkos Haus. Es ist im Wesentlichen eine Festung. Um sich Zugang zu verschaffen, bräuchte man eine kleine Armee. Und selbst, wenn Sie eine solche Armee hätten, dürfen Sie nicht vergessen, dass der Mann geschützt wird. Er ist mit dem Präsidenten befreundet. Jeder Gesetzesvertreter im Umkreis würde im Nu zum Ort des Geschehens rasen.«
Levi runzelte die Stirn. »Wissen Sie etwas über die Sicherheitsvorkehrungen dort? Ich habe etwas Erfahrung damit, Alarmanlagen zu umgehen. Unter anderem.«
»Davon bin ich überzeugt, Genosse Yoder.« Karpow grinste. »Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Konstantin keine Kosten gescheut hat, um sein Haus zu sichern. Sie dürfen nicht vergessen, dass er dort alle seine Geschäfte tätigt. Das Büro in der Lubjanka ist nur Fassade.«
Levi seufzte. »Sie malen kein besonders erfreuliches Bild, Genosse Karpow.«
»Nun ja ... wie gesagt, ich habe viel darüber nachgedacht.« Ein Lächeln erschien im Gesicht des Mannes. »Konstantins Sicherheitsvorkehrungen haben eine Schwachstelle. Und da ich Sie nun kennengelernt habe, denke ich, Sie könnten in der Lage sein, sie ausnutzen.«
»Welche Schwachstelle?«
Karpow richtete den Blick auf die Wanduhr. »Konstantin hat eine Tochter. Ich habe dafür gesorgt, dass sie einen recht wertvollen Preis gewinnt. Ein Radiosender hat ihr mitgeteilt, dass sie eine ›präsidentenwürdige‹ Party für einen Damenabend mit ihren Freundinnen gewonnen hat. Die junge Dame hat sich bereits beim Moderator des Radiosenders gemeldet. Eine Limousine holt sie in etwa sechs Stunden ab.«
Levis Gedanken rasten, während er verarbeitete, was der Mann gerade gesagt hatte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihrer Logik folgen kann. Was nützt es mir, dass Porschenko eine Tochter hat? Wollen Sie damit sagen, ich soll versuchen ... Nein, ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.«
Der Oligarch lehnte sich auf dem Sessel zurück und trommelte mit den Fingern auf der ledergepolsterten Armlehne. »Sagen wir einfach, ihr Vater würde alles tun, um sein kleines Mädchen zu retten. Ich habe ein paar Ideen, wie Sie Zugang zu seinem Anwesen erlangen können – durch seine Tochter. Für Ihre anderen Ziele sollten Sie und ich die Köpfe zusammenstecken. Mir stehen Mittel zur Verfügung, die helfen könnten.« In Karpows stahlgrauen Augen blitzte etwas auf, während die Rädchen im Kopf des Mannes rotierten. »Ich bin hochmotiviert, Ihnen zum Erreichen Ihrer Ziele zu verhelfen, wenngleich aus völlig anderen Gründen als die Leute, die Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Bestimmt spricht bei Ihrem Auftrag nichts dagegen, dass auch andere davon profitieren, oder?«
Levi musterte den Mann eindringlich und dachte an Brice’ Worte über ihn.
Er ist nachweislich als geradlinig bekannt, so ehrlich, wie man in Russland sein kann.
Karpow mochte vielleicht ehrlich sein, doch das schloss nicht aus, dass der Mann ein skrupelloser Psychopath war. Die Vorstellung, sich an jemandes Familie zu vergreifen, gefiel Levi überhaupt nicht. Andererseits wusste er noch nicht wirklich, was dem Mann vorschwebte. Und selbst, wenn es so schlimm wäre, wie er es sich ausmalte – falls dadurch langfristig Leben gerettet werden konnten, zählte unter dem Strich vielleicht nur das.
Die Entscheidung, was das kleinere Übel wäre, würde er erst noch treffen müssen.
Er nickte Karpow zu. »Ich habe nur meine Ziele vor Augen. Wenn andere davon profitieren, soll es mir recht sein.«
Der Oligarch griff nach hinten und drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch.
Fast sofort öffnete sich die Tür, und seine Leibwächter spähten herein.
Karpow gab ihnen ein Zeichen. »Sagt Grigori, er soll meine Ausrüstung in den Sicherheitsraum bringen.«
Einer der Männer verschwand. Der Oligarch stand auf und bedeutete Levi, ihm zu folgen. »Kommen Sie. Planen wir ein wenig Schabernack.«
* * *
Levi saß in der Sicherheitszentrale des Rasputin vor einer Reihe von Monitoren, die zwischen Ansichten verschiedener Stellen im Lokal wechselten. Das Sicherheitspersonal war hinausgeschickt worden. Neben Levi hielten sich nur Karpow und Grigori, der Techniker des Oligarchen, im Raum auf. Mittlerweile war der Abend angebrochen, und Levi spürte sie Vibrationen von Musik durch die Dielen.
Karpow telefonierte gerade und hatte sich vom Pult entfernt.
Grigori schob etwas vor Levi, das wie eine Zigarrenkiste aus Metall aussah. Darauf lag ein USB-Stick, der ein Computervirus enthielt. Levi ergriff die beiden Gegenstände. Die Zigarrenkiste fühlte sich für ihre geringe Größe ziemlich schwer an. »Das drin sind 750 Gramm Semtex, auslösbar über ein Handy.« Er zeigte auf den Streifen Doppelklebeband, der quer darüber verlief. »Die Nummer, die Sie sich eingeprägt haben, kann erst dann ein Signal empfangen, wenn Sie den Folienstreifen entfernen und das Gerät auf etwas kleben.«
Levi hatte den Plastiksprengstoff Semtex schon früher verwendet. Ähnlich wie das C4 des US-Militärs konnte man es gefahrlos mit sich herumtragen. Es detonierte nur, wenn man einen speziell angefertigten Auslöser benutzte. »Wie groß ist die tödliche Reichweite?«
Der Techniker runzelte die Stirn, als Levi die Box in der Innentasche seines Jacketts verschwinden ließ. »Das Stahlgehäuse ist so gebaut, dass es wie eine herkömmliche Granate in tödliche Splitter zerspringt. Ich würde sagen, dass alles in einem Radius von drei bis vier Metern durch die Schockwelle zerfetzt wird.«
»Verstehe.«
»Es ist ein langer Tag gewesen.« Karpow kam herüber und legte Levi die Hand auf die Schulter. »Und für manche fängt er erst richtig an.« Er sah Grigori an und fragte: »Ist alles vorbereitet?«
Der Techniker nickte. »Ich denke schon.«
Als es an der Tür der Sicherheitszentrale klopfte, zeigte Karpow hin. »Grigori, geh an die Tür. Ich habe uns Essen bringen lassen.«
Als der Techniker öffnete, drang laute Musik in den Raum. Er ließ eine nervös wirkende Brünette herein. Sie brachte ein großes Tablett mit Essen, während er durch die gleiche Tür ging.
Karpow zeigte auf einen freigeräumten Tisch. »Bitte, meine Liebe. Einfach auf den Tisch.«
Levi sah die Frau an. Ein grünes Rechteck umrahmte ihr Gesicht.
Natascha Lubow.
Er musterte ihre Züge. Sie war perfekt geschminkt, trug ein nahezu durchsichtiges Kleid, das ihre fantastische Figur zur Geltung brachte, und schien höchstens 19 oder 20 Jahre alt zu sein.
Sie stellte ihre Ladung ab. Mit samtiger Stimme, die vor Sinnlichkeit strotzte, präsentierte sie das erste Gericht. »Hier haben wir Räucherlachsroulade mit Frischkäse und rotem Kaviar.« Sie platzierte einen weiteren Teller auf dem Tisch. »Lachstatar mit gehackter Avocado, Schalotten und Lachskaviar.«
Die meisten Gerichte enthielten Eingemachtes, Salate und sonstige relativ leichte Kost.
Das letzte Gericht auf dem Tablett beschrieb sie als »frisch gepflückte Waldbeeren, bestäubt mit Puderzucker und einem Schuss gesüßter Sahne.«
Levi schaute zu der jungen Frau auf und lächelte. »Natascha, es sieht alles fast so schön aus wie Sie.«
Prompt färbten sich ihr Hals und ihre Wangen rosa. Sie stammelte einen Dank, bevor sie die Sicherheitszentrale mit dem leeren Tablett und gesenktem Kopf rückwärts verließ.
Levi schaufelte mit einem Löffel etwas Lachstatar auf eine Toastecke, während sich Karpow an den Tisch setzte.
Der Mann sah Levi mit belustigter Miene an. »Sie sind ein geheimnisvoller Mann, Genosse Yoder.«
»Wieso das?«
Karpow steckte sich eine eingelegte Kirschtomate in den Mund und kaute langsam. Er deutete in die ungefähre Richtung der Tür. »Ich frage mich, woher Sie den Namen der jungen Frau kennen. Sie arbeitet erst seit einer Woche hier. Bei Katarina war es anders, sie ist schon lange bei uns. Über sie hätten Sie recherchieren können. Aber Natascha? Interessant ...«
Levi zuckte mit den Schultern. »Ich muss beim Flirten in Übung bleiben. Wie alt haben Sie gesagt, ist Porschenkos Tochter?«
»Sie ist 31. Und ich bin zuversichtlich, dass unser kleiner Plan funktionieren wird.« Karpows Blick wanderte zu einem der Monitore. Er steckte sich eine weitere Tomate in den Mund und zeigte hin. »Da ist sie.«
Levi schaute zu dem Bildschirm, auf den der Oligarch verwiesen hatte. Die Kamera erfasste den Bereich vor dem Eingang des Etablissements. Eine große Limousine war vorgefahren. Der Chauffeur öffnete gerade die hintere Tür. Ein halbes Dutzend junger Frauen strömte aus dem Fahrzeug. Alle trugen schillernde Outfits, eine sogar ein Diadem. Sogar durch die Überwachungskamera konnte Levi das Funkeln der Diamanten darin erkennen. Er sah Karpow an. »Ist sie die Frau mit dem Diadem?«
»Ja, das ist Anja Porschenko.« Karpow nickte, als die jungen Frauen in den Club geleitet wurden. »Der Barkeeper hat die Drogen für sie bereit. Aber wie Sie es wollten, wartet er, bis Sie Anja von den anderen getrennt haben.« Der Oligarch verlagerte den Blick vom Monitor auf Levi. »Wie wollen Sie es anstellen?«
»Was?«
»Sie von ihren Freundinnen wegbekommen.«
Levi steckte sich ein Stück der Lachsroulade in den Mund, kaute rasch und schluckte. In der Planungsphase hatte Karpow mehrere Möglichkeiten vorgeschlagen, die Levi unnötig gefährlich erschienen. Am Ende hatten sie sich auf seine Methode dafür geeinigt, die Tochter des anderen Oligarchen in ihre Gewalt zu bringen. Levi stand auf und rückte die Krawatte zurecht. »Das zeige ich Ihnen in ein paar Minuten.«
»Ich habe eine Frau beauftragt, nach Ihnen Ausschau zu halten, wenn Sie rausgehen. Sie wird Sie zu einem freien Tisch in der Nähe einer der dunkleren Nischen führen. Das sollte es vereinfachen – der Rest liegt bei Ihnen, Genosse Yoder.«
Levi betrachtete sein Spiegelbild, strich sich das Haar zurück und zuckte mit den Schultern. Was du heute kannst besorgen ...
Als Levi die Tür öffnete, bestürmte Techno-Musik seine Ohren.
* * *
Levi nippte an seinem Selters, während in dem Club pulsierendes Treiben herrschte. Zu seiner Linken befand sich die Hauptbühne, auf der mehrere Frauen gerade vor einem mit Handschellen an einen Stuhl gefesselten Mann strippten. Es wurde gejohlt, während die Kleidungsstücke fielen und jede Menge nackte Haut die Zuschauer animierte. Sein Blick jedoch ruhte auf den sechs jungen Frauen an der Bar.
Die mit dem Diadem war auffallend dünn. Zwar nicht ganz magersüchtig, dennoch vermutete Levi, er könnte selbst von Weitem mühelos ihre Rippen zählen, wenn er sie ohne Kleid vor sich hätte. Nichtsdestotrotz hatten die Damen eine Schar von jungen Männern angelockt, die sie mit Drinks versorgten und mit ihnen flirteten.
Levi trank sein Selters aus, bevor er das Etablissement in Richtung seines Ziels durchquerte. Er holte einen großen Geldschein aus der Brieftasche und steuerte direkt auf Anja zu.
Als sich ihre Blicke begegneten, drückte er ihr den Tausend-Rubel-Schein in die Hand und sagte: »Können Sie mir bitte noch ein Selters bringen?«
Damit drehte Levi um und kehrte zu seinem Tisch zurück, ohne zu wissen, ob sein Plan aufgehen würde.
»He!«, rief die Frau.
Er eilte weiter zu seinem Tisch und nahm wieder Platz. Levi schaute in Richtung der Bar und bewahrte eine versteinerte Miene, als die dunkelhaarige junge Frau mit dem Diadem zu ihm stapfte. In ihrem Gesicht zeichnete sich zunehmende Wut ab.
Sobald sie in Sprechdistanz geriet, warf sie ihm den zerknüllten Geldschein zu und knurrte ihm entgegen. »Ich bin keine Kellnerinnen, Sie Idiot!«
Als sie auf dem Absatz herumwirbelte und wieder gehen wollte, platzte Levi heraus: »Ich weiß.«
»Sie wissen es?« Die Frau drehte sich zu ihm zurück. Der Ausdruck von Zorn legte sich ein wenig, als Levi den zerknitterten Geldschein aufhob und sich erhob. »Wieso um alles in der Welt ...«
»Wie hätte ich Sie sonst von all den Leuten wegbekommen sollen, damit ich der schönsten Frau hier einen Drink spendieren und unter vier Augen mit ihr reden kann?« Levi sprach so herzlich und aufrichtig, wie er konnte. Er winkte der Kellnerin, die auf diesen Moment gewartet hatte.
Sie eilte herbei und fragte: »Was darf ich Ihnen bringen?«
Levi sah Anja an und deutete auf die Kellnerin. »Was darf ich Ihnen bringen lassen?«
Der zornige Gesichtsausdruck der jungen Frau schmolz dahin. Stattdessen lächelte sie sogar. Sie besaß ein hübsches Lächeln. Ihr Blick fiel auf die Kellnerin. »Wodka mit Cranberry.«
Die Kellnerin wandte sich Levi zu, der ihr sein Glas reichte. »Noch mal das Gleiche.«
Dann deutete er in Anjas Richtung auf den freien Platz neben sich und lächelte sie an. »Tut mir leid, wenn Sie mein Vorgehen als unhöflich empfunden haben, aber mir ist nichts Besseres eingefallen.«
Die junge Frau streckte die Hand aus und stellte sich vor. »Ich bin Anja. Und wir können uns gern duzen.«
»Levi.« Lächelnd schüttelte er ihr die Hand, und sie nahmen beide Platz.
Die Kellnerin brachte ihre Getränke. Vor Anja stellte sie einen rosafarbenen Drink ab, vor Levi das Wasser. Die Kellnerin wandte sich an die junge Frau. »Der Barkeeper hat mich gebeten, nachzufragen, ob der Wodka in Ordnung ist. Es ist eine neue Premiummarke aus der Nähe von Moskau.«
Anja trank einen ausgiebigen Schluck, schloss die Augen und nickte. »Oh, er ist stark ... aber recht gut.« Sie öffnete die Augen und lächelte. »Sagen Sie ihm, er soll noch einen mixen. Ich glaube, der hier wird nicht lange vorhalten.«
»Gern.« Mit raschen Schritten entfernte sich die Kellnerin in Richtung der Bar.
»Levi«, sagte Anja laut genug, dass man es am Nebentisch hören konnte. Sie beugte sich vor und starrte ihn an. »Weißt du, wer ich bin?«
»Das würde ich gern erfahren. Vorerst kenne ich nur den Vornamen einer Frau, die mir an der Bar ins Auge gestochen ist.« Er lächelte. »Außerdem bin ich nicht aus der Gegend und kenne deshalb praktisch niemanden. Sollte ich dich kennen?«
Anja trank einen weiteren Schluck. Ihre Augen wurden glasig, als sie sich zu Levi beugte und ihm die Hand aufs Knie legte. »Du k-kennst mich nicht.«
Ihre Worte klangen leicht gelallt.
Levi rückte mit dem Stuhl näher und streckte die Hand aus.
Sie leerte das Glas und packte seine Hand, um sich an ihm abzustützen.
»Geht’s dir gut?«, fragte Levi, als er aus dem Augenwinkel mitbekam, dass sich mehrere Leute näherten.
Anja starrte ihn mit einem zittrigen Lächeln an. »Du h-hast wunderschöne b-blaue Augen, Levi. Hat dir ... hat schon mal jemand ... hat ...«
Ihre Lider fielen langsam zu.
Womit auch immer man ihren Drink versetzt hatte, es wirkte geradezu beängstigend schnell.
Levi hielt Anjas beide Arme fest, als ihr Kopf nach vorn baumelte. Rasch eskortierten zwei von Karpows Männern die halb bewusstlose junge Frau weg.
Levi nippte weiter an seinem Selters. Nur wenige Augenblicke später kam Grigori vorbei, reichte Levi eine Plastikkarte und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist ihre Schlüsselkarte. Der Fahrer von Genosse Karpow wartet vor dem Club auf Sie. Er bringt Sie dorthin, wohin Sie müssen.«
Levi steckte die Karte ein, ließ den zerknitterten Geldschein auf den Tisch fallen und verließ das Etablissement durch den Vordereingang.