KAPITEL DREIZEHN

Spät am Abend verließ Alicia mit ihren drei Mitbewohnerinnen das Wohnheim in Richtung der Bibliothek des Campus. Sie hatten gerade begonnen, sich übers Abendessen zu unterhalten. Alicia konnte kaum fassen, wie die anderen reagierten, als sie Pizza vorschlug.

»Wie kannst du so was essen?« Min verzog das Gesicht, während sie dem Gehweg zum Elm Drive folgten. »Der Käse da drauf ist aus verdorbener Milch, oder? Das kann nicht gesund sein.«

Alicia lachte. »So könnte man es vielleicht ausdrücken, aber die Milch ist nicht wirklich verdorben. So oder so, Pizza schmeckt spitze.« Sie sah Ruth und Ting an. »Hat echt keine von euch je Käse gegessen?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Dann holen wir uns auf jeden Fall Pizza. Ihr seid jetzt in Amerika, also muss ich euch ...«

»Warum ist es so dunkel?«, fragte Ting mit einem Anflug von Besorgnis in der Stimme.

Als sie die Metallskulptur vor dem Whitman Gebäude passierten, fiel Alicia auf, dass sämtliche Straßenlaternen in der Nähe ausgefallen waren.

»He, Alicia.« Eine Männerstimme von einer schemenhaften Gestalt in der Nähe des Metallgebildes.

Alicia drehte sich in die Richtung, und plötzlich schien alles in Zeitlupe abzulaufen.

Der Mann kam näher. Etwas Metallisches funkelte in seiner rechten Hand.

Min griff ihn an. Ihr Tritt traf wuchtig den Arm, und der Gegenstand in der Hand flog davon.

Auf dem Elm Drive heulte ein Motor auf, und die Scheinwerfer eines Autos gingen an.

Ruth packte Alicia am Oberarm und rief: »Komm mit!« Sie zog Alicia zurück in Richtung des Wohnheims.

Mitten im Schritt zögerte Alicia. »Was ist mit ...«

»Die beiden kommen klar.« Rachel zog kräftiger, als ein Schuss ertönte.

Mit wild hämmerndem Herzen zog Alicias ihre Taschenlampe, wusste jedoch, dass es zu spät war, um sie noch einsetzen zu können, also rannte sie weiter zum Wohnheim.

Keine halbe Minute später stürmten sie in die Sicherheit des Gebäudes.

Alicia wollte sofort die Polizei verständigen, doch als sie in ihrer Gesäßtasche nach dem Telefon tastete, verzagte sie. »Ich muss mein Handy draußen verloren haben.«

Sie näherten sich gerade der Treppe, als Ruths Telefon vibrierte. Sie hielt es sich ans Ohr. »Ja?«

Die dünne junge Frau nickte mehrmals und brummte bestätigend. »Habt ihr das Kennzeichen?«

Ein zweimaliges Brummen.

Alicias Gedanken überschlugen sich, als sie Revue passieren ließ, was passiert war.

Das metallische Funkeln ... So ungern sie es für möglich halten wollte, es hatte sich wahrscheinlich um eine Waffe gehandelt. Wären es Schlüssel gewesen, hätte sie ein Klimpern gehört, als Min sie ihm aus der Hand getreten hatte.

Und die Stimme – das war kein Student gewesen. Der Mann hatte sich älter angehört. Und er hatte einen russischen Akzent.

Sie kannte keine Russen. Wer könnte es gewesen sein? Und woher kannte er ihren Namen?

Die Eingangstür öffnete sich, und Ting kam herein.

Alicia wurde mulmig zumute, als die junge Frau auf sie und Ruth zugelaufen kam. »Wo ist Min?«

Ting umarmte Alicia und fragte: »Geht’s dir gut?«

»Wo ist Min?« Alicia wischte sich Tränen aus den Augen, während ihr Herz wild in der Brust pochte.

»Es geht ihr gut. Sie redet gerade mit der Polizei und nennt den Beamten das Kennzeichen.« Sie zog ein Mobiltelefon aus der Tasche und reichte es Alicia. »Hier, das hab ich im Gras gefunden.«

»Was ist mit dem Mann mit ...«

»Der Mann an der Skulptur ist zum Auto gerannt und damit entkommen.«

»Ich hab einen Schuss gehört.«

»Glaub ich nicht.« Tings Miene wirkte trotz der Ereignisse völlig ruhig. Beinah so, als wäre das alles für sie völlig normal. »Vielleicht hatte der Fluchtwagen beim Davonrasen eine Fehlzündung. Bestimmt hast du das gehört.«

»Kommt.« Ruth legte die Arme um die beiden. »Gehen wir zurück ins Zimmer und entspannen uns ein bisschen. Min hat mich vorhin angerufen. Sie kümmert sich draußen um alles. Sobald sie fertig ist, können wir vielleicht diese Pizza bestellen, die du uns schmackhaft machen willst.«

Alicias Herz raste noch immer, und ihre Hände zitterten, als sie die Treppe hinaufstieg.

Warum könnte es jemand auf sie abgesehen haben?

* * *

Doug Masons Telefon vibrierte. Er tippte an seinen Ohrstöpsel. »Ja?«

»Doug.« Er erkannte auf Anhieb die Stimme von Lucy Chen. »Wir hatten einen versuchten Kontakt mit Levis Tochter.«

Mason setzte sich aufrechter hin. »Geht’s ihr gut?«,

»Sie ist wohlbehalten im Wohnheim bei meinen Leuten. Ich brauche ein Beseitigungsteam für eine Leiche, und es muss schnell gehen. Wir wollen schließlich nicht, dass sich irgendwelche Studenten zum Rummachen in die Büsche schlagen und dabei über einen Toten stolpern. Außerdem hab ich das Kennzeichen vom Auto des Fluchtwagenfahrers. Und ja, er ist entkommen.«

»Irgendwelche Zeugen?«

»Glauben meine Leute nicht. Wir hatten Glück. Ich glaube, Alicia ist ziemlich erschrocken, aber wir haben sie vom Geschehen weggeschafft, sobald es losgegangen ist. Wahrscheinlich hält sie es bloß für ein zufälliges Ereignis.«

Mason runzelte die Stirn. »Sie vermutet mit Sicherheit mehr als das.«

»Na schön, kann sein. Aber um Alicias Gemütszustand kümmern sich meine Leute. Von dir brauche ich die Aufräummannschaft.«

»In Ordnung, schick mir die GPS-Koordinaten, wo ihr die Leiche versteckt habt, und das Kennzeichen. Ich kümmere mich darum. Brauchst du vor Ort sonst noch etwas? Ich kann ein Team hinschicken.«

»Nein. Meine Leute bewachen Alicia rund um die Uhr, bis sie nach Pennsylvania zurückkehrt. Wir haben noch zwei Tage. Wann kommt Levi zurück? Er wird in die Sache eingreifen wollen. Und deine Spielchen mache ich nicht mit. Er erfährt von mir davon, ganz gleich, was du sagst.«

»Levi ist immer noch auf seiner Mission. Wenn alles wie erhofft verläuft, sollte er ungefähr dann auf der Rückreise sein, wenn auch Alicia wieder nach Hause fährt. Wir sprechen uns demnächst wieder.«

Lucy legte auf, und Mason lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er starrte an die Decke und murmelte ins Leere: »Levi wird Amok laufen, wenn er davon erfährt.«

* * *

Konstantin Porschenko stand vom Computer auf, entfernte die Heizdecke von seiner schmerzenden Schulter und wollte gerade in sein Schlafzimmer, als das Telefon klingelte.

Niemand rief auf dieser Leitung an, schon gar nicht so spät. Sein Blick heftete sich auf die digitale Anzeige. Irgendein Unternehmen namens Schlafsysteme . Offensichtlich ein automatischer Werbeanruf. »Das sollte verboten sein«, brummte er bei sich.

Er wartete, bis der Anruf nach viermaligem Klingeln endete.

Fast sofort schrillte das Telefon erneut.

Es handelte sich um denselben Anrufer. Porschenkos Wut schoss durch die Decke. Er schnappte sich den Hörer und brüllte: »Ich will nichts, was auch immer Sie verkaufen!«

»Genosse! Genosse! Tut mir leid, Sie zu stören, aber hier ist der Sicherheitsdienst im Matratzenladen, und ich habe hier jemanden, der mir diese Nummer gegeben hat. Die junge Frau ist betrunken oder unter Drogen, und ich glaube, jemand hat sie ausgeraubt. Sie hat mich mit ihrer Handtasche beworfen. Nur ihr Führerschein war drin.«

Porschenko lief ein Schauder über den Rücken, als er zielstrebig auf Anjas Flügel des Hauses zusteuerte. »Wer hat Ihnen diese Nummer gegeben?«

»Die junge Frau. Laut Führerschein heißt sie Anja Porschenko.«

Der Mann sprach weiter, während Porschenko die Küche passierte und den Weg durch den Flur fortsetzte. Er riss die Tür zur Zimmerflucht seiner Tochter auf und rief: »Anja!«

Wie immer lag überall Kleidung verstreut. Die Dienstmädchen putzten täglich, trotzdem gelang es seiner Tochter nie, Ordnung zu halten. Er verließ das Schlafzimmer und kehrte zurück in sein Büro.

»Lassen Sie mich mit ihr reden.«

»Genosse, sie ist auf einem unserer Ausstellungsmodelle wieder ohnmächtig geworden. Sie riecht nicht allzu stark nach Alkohol, aber irgendwas stimmt nicht mit ihr. Kurz hat sie irgendwas von einem verlorenen Diadem gerufen. Wenn ich versuche, sie zu wecken, wehrt sie sich ziemlich heftig.«

Porschenko holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Das klang eindeutig nach seiner Tochter. »Ich schicke jemanden, der sie abholt.«

»Tut mir leid, aber in dem Zustand kann ich sie nicht irgendwelche Fremde übergeben. Wahrscheinlich wäre sie bei der Polizei am besten aufgehoben. Ich habe Sie nur angerufen, weil sie darauf bestanden hat, bevor sie wieder das Bewusstsein verloren hat.«

»Sie werden nicht die Polizei anrufen.«

»Genosse, ich muss. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Sie ist in den Laden eingebrochen, und ich weiß noch nicht, was für Schaden sie angerichtet haben könnte. Ich bin gerade allein hier und will nicht für sie oder dafür verantwortlich sein, was sie womöglich kaputt gemacht hat.«

»Ich komme sie selbst abholen.«

»Genosse, wer sind Sie? Und sind Sie in der Nähe?«

»Ich bin ihr Vater.« Porschenko setzte sich an den Schreibtisch, gab den Namen der Firma ein, die er auf dem Display gesehen hatte, und rief ihn auf einer Karte auf. »Sie sind am Universitetski Prospekt?«

»Ja.«

»Ich bin in 45 Minuten da.«

»Genosse, ich muss jemanden anrufen ...«

»Wie heißen Sie?«

»Boris.«

»Hören Sie mir zu, Boris. Ich bin Konstantin Porschenko, der Leiter des staatlichen russischen Energiekonsortiums. Ich bin sowohl mit dem Leiter des FSB als auch mit dem Präsidenten unserer großen Nation persönlich befreundet. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder warten Sie, bis ich da bin, und werden für Ihre Geduld und Ihr Schweigen entschädigt. Oder Sie tun, was Sie für nötig halten, und tragen gegebenenfalls die Konsequenzen. Was darf es sein, Boris?«

»Äh ... t-tut mir leid, Genosse Porschenko. Ich wusste nicht ...«

»Wie lautet Ihre Antwort?«, brüllte er ins Telefon, als sich der Rest seiner Geduld in Luft auflöste.

»Ich w-warte. Genosse, ich p-passe auf sie auf und s-sorge dafür, dass ihr nichts passiert.«

»Ich fahre jetzt los.« Damit legte Porschenko auf, schnappte sich den Autoschlüssel und verließ das Büro.

Auf dem Weg aus dem Haus wandte sich der Oligarch an einen Mitarbeiter seines Sicherheitsdiensts. »Ich muss kurz in die Stadt. In ein paar Stunden bin ich zurück.«

Der Wachmann zog ein Funkgerät vom Gürtel. »Ich wecke Ihren Fahrer und ...«

»Nein.« Porschenko wischte den Vorschlag weg. »Ich fahre allein.«

Das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren weitere Zeugen dafür, was sich Anja angetan hatte – schon wieder.

* * *

Levi starrte auf die Sichtschutzwände entlang der Fernstraße Rubljowo-Uspenskoje, als die Limousine langsamer wurde. In den USA gab es nichts Vergleichbares, doch in dieser Gegend verlief entlang der Straße eine deutlich sichtbare Wellblechbarriere, leicht nach außen gewölbt, wodurch es so gut wie unmöglich wäre, über sie zu klettern. Gelegentlich entdeckte er eine Lücke dazwischen, und trotz fehlender Straßenbeleuchtung konnte er die Umrisse von Villen erkennen, in denen hinter dem Sichtschutz friedlich Lichter brannten.

Falls es ein Oligarchenviertel gab, musste es dieser Ort sein. Tagsüber mochte das Gebiet wunderschön sein, nachts jedoch wirkte der abgelegene, dunkle Straßenabschnitt eher bedrohlich als einladend.

Karpow hatte ihm die ursprünglichen Baupläne von Porschenkos Villa zur Verfügung gestellt, außerdem Satellitenaufnahmen von Google Earth.

Letztere hatten Levi bei der Ausarbeitung seines Plans geholfen. Einer von Karpows Männern war losgeschickt worden und hatte bestätigt, dass die Bilder noch stimmten. Damit hatte festgestanden, wie Levi sich Zugang verschaffen würde.

Trotz aller Planung des Outfits und Levis Vorsatz, immer vorbereitet zu sein, befand er sich ohne seine Ausrüstung nur knapp einen halben Kilometer vom Ziel entfernt. Normalerweise drang man nicht ausgerechnet in Anzug und Krawatte in eine feindselige Umgebung ein.

Zudem wollte er es unbemerkt bewältigen, um sich Daten zu beschaffen. Und je nachdem, ob es ihnen gelingen würde, Porschenko aus dem Haus zu locken, kam entweder ein Mordanschlag oder die Vorbereitung dafür hinzu.

Der Fahrer fuhr rechts ran und deutete nach vorn. »Das Haus ist auf der linken Seite. Ich warte an der Tankstelle einen halben Kilometer weiter an der Straße nach Porschenkos Villa.« Er drehte sich auf dem Sitz um und hielt Levi eine handgroße flache Schachtel hin. »Genosse Karpow hat gesagt, ich soll Ihnen das als Geschenk anbieten. Vielleicht finden Sie da drin Verwendung dafür.«

Levi nahm die Schachtel entgegen, nahm den Deckel ab und erblickte eine kleine Handfeuerwaffe.

»Genosse Karpow war besorgt darüber, dass Sie die Lebedew als Waffe bei sich trugen. Das ist eine PSS-2, schallgedämpft. Wird vom FSB bei schmutzigen Operationen eingesetzt.«

Der alte sowjetische Begriff für Mordanschläge. Oder Ähnliches, bei dem es blutig werden konnte.

»7,62x43-Millimeter-Unterschallmunition. Ob Sie’s glauben oder nicht, das Geräusch der fallenden Hülsen wird wahrscheinlich lauter sein als die Waffe selbst.«

Levi überprüfte das Magazin. Voll. Er zog den Schlitten zurück, lud eine Patrone ins Lager und steckte die kompakte Waffe in die Anzugtasche. »Also gut ...«

»Moment noch!« Der Fahrer zog abrupt eine Landkarte aus Papier hoch, um die Sicht von draußen zu blockieren, dann wandte er sich an Levi. »Jemand verlässt gerade Porschenkos Grundstück.«

Levi duckte sich auf dem Rücksitz. Eine halbe Minute später fuhr ein Auto vorbei.

Der Fahrer warf die Karte beiseite. »Die Luft ist rein. Das Tor ist wieder geschlossen.«

Levi klopfte auf die Rückenlehne des Fahrersitzes, dann stieg er aus der dunklen Limousine in die Schwärze der einsamen Straße aus.

Der Fahrer brauste davon, und Levi schlenderte am Eingang zu Porschenkos Anwesen vorbei, ohne auch nur hinzuschauen.

Das Grundstück selbst säumte die Straße auf einer Länge von 300 Metern und wies einen Metallzaun mit Stacheldrahtkrone auf.

Irgendwo in der Nähe brummte ein Generator. Levi wäre nicht überrascht, wenn sogar der Stacheldraht unter Strom stünde.

Levi überquerte die Straße und betrat eine Baustelle auf Porschenkos Nachbargrundstück. Im Licht des Monds konnte er einige Teile des gegossenen Fundaments ausmachen.

Aus einigen Baumaschinen wucherte Efeu, was das Gefühl vermittelte, dass die Fertigstellung dieses Hauses wohl noch auf sich warten lassen würde. Vielleicht waren die Bauarbeiten wegen der Unruhen im Land ins Stocken geraten. Der Nachbar konnte auch in die Fänge der Geheimpolizei geraten sein oder eine falsche Geschäftsentscheidung getroffen haben und von einem der größeren Fische im Teich geschluckt worden sein.

Levi gab es auf, darüber zu rätseln, warum die Bauarbeiten offensichtlich schon vor längerer Zeit eingestellt worden waren. Stattdessen schritt er das Gelände vorsichtig ab, bis er entdeckte, wonach er suchte.

Auf dieser Seite wies Porschenkos Grundstück eine Mauer auf. Eine schwere Maschine parkte unmittelbar daneben. Genau wie auf den Satellitenbildern zu sehen.

Levi holte ein dünnes Nylonseil aus der Tasche und sprang auf die Gleiskette der großen Erdbewegungsmaschine. Innerhalb weniger Augenblicke kletterte er auf das Kabinendach, band ein Ende des Seils an eine Metallöse und warf den Rest des Seils über die Mauer.

Dann ging er in die Hocke und ließ den Blick prüfend über das Grundstück wandern.

In der Nähe des Tors befand sich ein Wachposten. Auf der Seite, die zu Levi wies, gab es einen zweiten Eingang ins Haus.

Den Eingang, den Anja benutzte.

Nachdem Levi das Gelände etwa fünf Minuten beobachtet und keinerlei Bewegung ausgemacht hatte, griff er sich das Seil, sprang vom Dach der Kabine über die Mauer und ließ sich rasch zu Boden. Er befand sich um die 50 Meter vom Seiteneingang entfernt.

Levi holte die Schlüsselkarte aus dem Jackett, schlich vorwärts und zog die Karte über die Tafel neben der kunstvoll geschnitzten Tür.

Als ein Klicken ertönte, schob Levi die Tür auf und rückte ins Haus vor.

* * *

Mit der schallgedämpften Waffe in der Hand bewegte er sich über weiße Marmorfliesen und rief sich den Grundriss ins Gedächtnis, den er auf den Bauplänen gesehen hatte.

Bislang stimmte alles.

Er hatte das Gästefoyer durchquert und an Anjas Schlafzimmer sowie ihren Wohn-, Ess- und Kochbereich passiert, bevor er zu der Tür gelange, die in den Hauptteil der Villa führen sollte.

Levi streckte gerade die Hand nach dem Knauf aus, als die Tür aufschwang.

Ein großer Mann mit kantigen Zügen tauchte auf. Als er vor Überraschung die Augen weit aufrisse, schien sich die Zeit zu verlangsamen.

Der Mann griff nach etwas in seinem Jackett, Levi drückte den Abzug und verteilte seinen Hinterkopf über die Wand.

Der Wachmann sackte zusammen wie eine Marionette mit gekappten Fäden. Sein Aufprall auf dem Boden verursachte mehr Lärm als die Pistole.

Levi hatte keine Ahnung, wie viele Leute sich im Haus aufhielten, aber er konnte keine Blutspuren gebrauchen, die darauf aufmerksam machen würden, dass etwas nicht stimmte.

Er schloss die Tür, holte Küchentücher, wischte damit bestmöglich das Blut von der Wand und vom Boden, stopfte die Tücher in einen ebenfalls aus der Küche besorgen Müllsack und stülpte ihn über den Kopf des Toten. Dann schleifte er den Wachmann am Kragen den Flur hinunter und in ein Badezimmer.

Als er ihn abtastete, entdeckte er ein Handy, das er unter dem Absatz zertrat, außerdem eine 9-Millimeter-Pistole, eine SIG P365 aus Deutschland, die er einsteckte.

Schließlich trat er zurück hinaus in den Flur und schloss die Badezimmertür hinter sich.

Levi atmete langsam durch und nahm dabei keine Geräusche im Haus wahr. Er setzte den Weg fort. Auf den Marmorfliesen entdeckte er keine offensichtlichen Blutspuren, und die Reste an der Wand waren in der Düsternis vernachlässigbar. Schließlich betrat er eine luxuriös ausgestattete Küche.

Der Raum war locker so groß wie Levis Apartment. Porschenko mochte als Einsiedler verschrien sein, aber er besaß eine Küche, in der er mühelos ein Festmahl für eine ganze Horde von Gästen zubereiten könnte.

Levi entdeckte etliche amerikanische Marken, als er den Blick über die zwei Herde und den Kühlschrank wandern ließ. Er orientierte sich an dem Gebäudeplan in seinem Kopf, ließ die Küche hinter sich und passierte einen beigen Travertin-Esstisch mit 24 Stühlen.

Levi durchquerte einen Korridor, betrat einen offenen Bereich für die Bewirtung von Gästen, stieg eine Treppe hinauf und folgte einem langen Flur.

Karpows Informationen waren korrekt.

Die Doppeltür zu Porschenkos Büro stand weit offen. Der große Raum lag unmittelbar vor Levi. Das Büro erwies sich als auffallend ordentlich. Nicht eine einzige Büroklammer lag lose herum. Merkwürdig fand Levi nur, dass eine noch an eine Wandsteckdose angeschlossene Heizdecke über der Armlehne eines Ledersessels hing.

Anscheinend war Porschenko ziemlich überstürzt aufgebrochen. Wahrscheinlich war er in dem Auto gewesen, das sie wegfahren gesehen hatten.

Levi lächelte, als er den Desktopcomputer entdeckte. Der Monitor war ebenso eingeschaltet wie der Rechner.

Er holte den USB-Stick von Grigori hervor und schloss ihn an der Rückseite des Computers an. Eine LED blinkte erst grün, dann rot, bevor sie konstant grün leuchtete. Mehr musste er angeblich nicht tun, um den Virus zu installieren.

»In dem Behälter mit dem Sprengstoff ist ein Mobiltelefonempfangsteil. Im Grunde ist das ganze Ding eine Antenne, die aktiviert wird, sobald man die Folie abzieht und das Gehäuse auf etwas klebt. Sie müssen nur den Virus installieren. Wenn sich jemand am Computer anmeldet, ruft er automatisch einen Dienst auf, der die Nummer des Empfangsteils anruft – und bumm!«

Levi holte einen weiteren Stick aus der vorderen Tasche. Dieser stammte von Brice.

Er schloss ihn an einen der freien Steckplätze des Rechners an. Eine rote LED blinkte einmal auf und erlosch, wie es in den Missionsunterlagen beschrieben stand.

Ein weiterer Virus wurde installiert, allerdings bewirkte dieser etwas völlig anderes.

»Der Virus greift auf einen meiner öffentlichen Server zu. Über den Austausch eines privaten Schlüssels stellt er eine sichere Verbindung zu einer der Workstations des Outfits her. Sobald das passiert ist, beginnen meine Skripte automatisch, alle Daten abzusaugen, auf die ich zugreifen kann.«

Levi holte die noch inaktive Bombe aus der Jackentasche, entfernte die Folie vom Klebeband und platzierte das Semtex direkt unter dem Computer.

Damit war die Bombe scharf.

Levi sah auf die Armbanduhr. Er hatte sich vorgenommen, nicht länger als zehn Minuten zu bleiben.

Auf dem Schreibtisch stand ein Foto, das einen Mann händchenhaltend mit einer Frau zeigte. In den Augen und im Lächeln der Frau erkannte er Anja wieder. Auch der Mann hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr. Levi fragte sich, wo die Ehefrau stecken mochte. Plötzlich verspürte er den Drang, so schnell wie möglich zu verschwinden.

Er zog eine der Schreibtischschubladen auf, die sie als vollkommen leer erwies. In den anderen fand er nur Kugelschreiber, Bleistifte und mehrere Packungen Pfefferminzbonbons.

Levi schlug etwas auf, das nach einem Adressbuch aussah. Er blätterte durch die Seiten und achtete darauf, sich auf die Einzelheiten zu konzentrieren.

Dann betrachtete er über den Schreibtisch gebeugt das Telefon und drückte den Aufwärtspfeil auf dem digitalen Display. Er grinste, als eine Liste der eingehenden und ausgehenden Nummern angezeigt wurde. Levi drückte die Pfeiltasten und scrollte durch die Aufstellung.

Er ging bis zum Ende des Speichers des Telefons zurück, was ungefähr zwei Wochen entsprach.

Levi ließ den Blick durch den Raum wandern, bevor er abermals auf die Armbanduhr sah. Zeit, zu verschwinden.

Er zog die USB-Sticks vom Computer ab, trat vom Schreibtisch zurück und verglich den Gesamteindruck dank seines fotografischen Gedächtnisses mit dem Zustand beim Betreten des Raums. Kein Unterschied erkennbar.

Mit der Waffe in der Hand und kribbelnden Sinnen verließ er zielstrebig das Büro, durchquerte das Haus und steuerte auf Anjas Eingang zu.

* * *

Brice eilte zurück in sein Büro, warf die Tüte mit dem hastig geholten, halb gegessenen Essen auf seine Werkbank, setzte sich an den Computer und tippte drauflos.

Er wollte bestätigen, was die auf seinem Handy empfangenen Mitteilungen besagten. Also versuchte er, über das Internet mit einem lokalen Prozess auf einen ungeschützten Netzwerkanschluss irgendwo in Moskau zuzugreifen. Als es funktionierte, breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus.

Kopfschüttelnd band er ein Remotelaufwerk auf seinem lokalen Rechner ein. »Heilige Scheiße, Levi. Du hast’s geschafft.«

Der mit Brice’ Backdoor-Virus infizierte Computer übertrug seit 20 Minuten Dateien.

Sein Telefon summte. Er tippte darauf und nahm den Anruf auf dem Lautsprecher entgegen, während seine Finger über die Tastatur rasten. »Was gibt’s?«

»Hat er den Kontakt hergestellt?« Mason.

»Sieht ganz so aus. Einen Moment, mal sehen, ob ich etwas bestätigen kann.« Brice durchsuchte die bereits übertragenen Verzeichnisse nach einer PST-Datei. Er fand eine, ließ sie durch seine Cracking-Software laufen und rief sie in einem Outlook-Viewer auf. »So weit, so gut.« Als er durch die Liste der E-Mails scrollte, hatte der automatische Übersetzungsfilter Mühe, mitzuhalten. Brice wählte einen Betreff aus, der interessant klang. »Mal sehen. Ich habe gerade eine E-Mail vor mir, von einem gewissen Konstantin Porschenko an einen stellvertretenden Minister einer Abteilung im Kreml, von der noch niemand je gehört hat. Wow, Levi hat’s tatsächlich geschafft. Keine Ahnung, wie. Aber wir sind drin. Und ich sauge die Daten so schnell ab, wie es Porschenkos Internetleitung zulässt.«

»Gut. Holen Sie sich, so viel Sie kriegen können. Wir wollen eine riesige Verhaftungswelle, aber es muss alles wasserdicht sein. Ich setze mich mit unserer Kontaktperson in Russland in Verbindung und veranlasse, dass Levi so schnell wie möglich aus dem Land geschafft wird. Er und ich müssen ein Gespräch führen.«

Innerlich zog sich Brice alles zusammen, als er sich vorstellte, wie dieses spezielle Gespräch mit Levi verlaufen würde. In dem Fall war er froh, dass die Zuständigkeit dafür weit über seiner mickrigen Gehaltsklasse lag. Menschen konnten sich unberechenbar verhalten, wenn sie erfuhren, dass Angehörige durch ihre Arbeit gefährdet wurden.

* * *

Auf der Heimfahrt umklammerte Konstantin Porschenko krampfhaft das Lenkrad. Sein gesamter Körper schmerzte vor Wut darüber, was Anja sich angetan hatte. Morgen würde er sich etwas überlegen können, in dieser Nacht jedoch stand im Vordergrund, sich um sein kleines Mädchen zu kümmern. Vielleicht würde er eine Vollzeitkraft einstellen, einen Aufpasser für sie. Er schaute zu ihr und zuckte zusammen, als er sah, wie ihr Kopf hin und her baumelte. Den Großteil der Fahrt nach Hause hatte sein einziges Kind zusammenhanglos gebrabbelt.

Irgendetwas von einem Preis.

Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie gewesen war oder mit wem. Zu seinem Verdruss konnte sie sich auch nicht erklären, warum ein Wachmann sie schlafend in einem Matratzenladen gefunden hatte.

Sein kleines Mädchen besaß dasselbe Gen, das ihre Mutter das Leben gekostet hatte. Es ließ sie der Versuchung nachgeben, sich zu betrinken und andere ungesunde Dinge anzustellen. Ein Gefühl der Verzweiflung überkam ihn, als ihm klar wurde, dass er mit ansah, wie sich das Einzige, das ihn bei Verstand hielt, langsam selbst umbrachte.

Er drückte im Auto auf den Knopf, und das Tor öffnete sich weit.

Der Wachmann nickte, als Porschenko vor den Haupteingang fuhr.

Er stellte das Auto ab, eilte zur Beifahrerseite und ignorierte die Schmerzen in der Schulter, als er sich seine Tochter in die Arme hob.

Anja lehnte den Kopf an seine Brust und wimmerte. »Papa, ich vermisse die Partys, die du und Mama geschmissen habt.«

»Ich auch, mein Schatz.« Er küsste sie auf den Kopf. Einer der Sicherheitsleute hastete voraus, um die Haustür für ihn zu öffnen.

Als er sich dem Eingang näherte, öffnete der Wachmann den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders und wandte den Blick ab. »Juri, um was es auch geht, es kann bis morgen warten.«

Er ging in sein Schlafzimmer, legte Anja auf die Decken und küsste sie erneut auf die Stirn. »Ich bin gleich wieder da.«

Nachdem er Schlafzimmertür geschlossen hatte, lief er die Treppe hinauf.

Er setzte sich auf seinen Bürostuhl, griff zum Telefon und drückte eine der Kurzwahltasten.

Am anderen Ende der Leitung klingelte es nur einmal, bevor ein Mann mit tadellos amerikanischem Akzent ranging. »Ja?«

Porschenkos Stimme wurde brüchig, als er die Stimme des Mannes hörte. Er sprach auf Russisch drauflos. »Alex, sie ist genau wie Anna. Sie wird sterben, ich spüre es. Es wird wieder passieren. Und was mache ich dann? Ich kann das nicht mehr lange machen. Sie braucht mich.«

»Hör auf! Reiß dich zusammen. Sonst gehst du unter. Du musst im Programm bleiben.«

Alex sprach weiterhin Englisch, brach nie aus seiner angenommenen Identität aus.

Porschenko atmete tief durch und stieß zittrig die Luft aus. »Du hast recht. Ich weiß, dass du recht hast. Wir sind ja fast am Ziel, nicht wahr?«

»Ja. Die Dinge entwickeln sich so, wie wir sie brauchen. Ich habe dir die Kontaktdaten von fünf weiteren Einflussnehmern geschickt. Die Letzten sind überzeugt worden. Ihre Stimmen gehören uns. Wir brauchen noch fünf im Repräsentantenhaus und zwei im Senat.«

»Du fehlst mir. Es ist 40 Jahre her.«

»Hast du mich gehört? Wir sind sehr nah dran. Tu, was getan werden muss.«

Damit war die Leitung tot, und Porschenko seufzte.

Er legte den Hörer auf, wandte sich dem Computer zu, gab sein Kennwort für den Bildschirmschoner ein, und ...

Grelles Weiß blitzte auf.