Levi stieg die Treppe aus dem unterirdischen Bunker von Incirlik hinauf und atmete den Geruch von Flugzeugabgasen ein, als er die Rollbahn des türkischen Flughafens betrat. Im hellen Sonnenlicht kniff er die Augen zusammen, holte tief Luft und lächelte. Was er einatmete, fühlte sich nach Freiheit an. In seiner Reisetasche befand sich sein Anzug, der nach Schweiß und Urin stank. Stattdessen trug er den dunklen Einsatzanzug, während er den Blick über das Rollfeld wandern ließ. Jemand in Uniform kam mit etwas in der Hand auf ihn zugerannt.
»Lieutenant Jennings, Ihr Ausweis, Sir.« Der Mann streckte Levi seinen Militärausweis entgegen.
»Danke, Airman.« Levi heftete sich den Ausweis an den Einsatzanzug und fragte: »Wissen Sie, wann mein Transport in die USA eintrifft?«
Der Soldat zeigte nach Nordosten. »Die große graue Maschine, die in unsere Richtung rollt. Sie fliegt direkt nach Andrews, und an Bord sind nur Sie.«
Levi schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, was der Pilot angestellt hat, dass er dafür eingeteilt worden ist. Wahrscheinlich so was wie: ›Sie fliegen ein Frachtflugzeug voller Plastikhundescheiße aus Hongkong.‹ Nur mit mir statt der Hundescheiße.«
»Sir?« Der Soldat schaute verwirrt drein.
»Vergessen Sie’s, Airman. Ist aus einem Film vor Ihrer Zeit.«
»Sir, mir wurde gesagt, dass Sie sich so schnell wie möglich in der Zentrale melden sollen.«
Levi holte sein Handy heraus, stellte fest, dass er endlich wieder Empfang hatte, und wählte Brice’ Nummer. Der Anruf wurde fast sofort angenommen. »Levi, hast du schon mit Mason geredet?«
»Danke der Nachfrage, es geht mir gut. Ich bin gerade in der Türkei, und nein, hab ich nicht. Mir wurde gerade ausgerichtet, dass ich mich in der Zentrale melden soll, und dort bist du mein üblicher Ansprechpartner, nicht er. Wieso, was ist denn los?«
In der Leitung herrschte Stille, was nie etwas Gutes verhieß.
»Warte, ich versuche, Mason zu erreichen ...«
»Verdammt, Brice, sag mir einfach, was los ist. Bist du zum Computer durchgekommen?«
»Oh ja. Ich analysiere gerade das Material von dort. Leider hab ich keinen vollständigen Download bekommen, bevor das Signal abgerissen ist. Ich vermute, jemand hat den Virus bemerkt und den Stecker gezogen.«
Levi runzelte die Stirn. »Wie lange war das Signal aktiv, bevor du es verloren hast?«
»Ungefähr zweieinviertel Stunden.«
Karpows Männer sollten Anjas Abholung in der Moskauer Innenstadt arrangieren. Die ungefähr eine Autostunde von Porschenkos Anwesen entfernt lag.
Levi grinste. »Tja, vielleicht solltest du dich mal umhören, ob in Russland der Chef eines Energiekonzerns unverhofft in die Luft geflogen ist.«
»Nein! Nicht dein Ernst. Wie hast du ... Ach was, vergiss es. Ich recherchiere das mal.«
Ein großes, ungekennzeichnetes Frachtflugzeug kam wenige Hundert Meter von Levi entfernt langsam zum Stehen.
»Hör mal, Brice, ich steige gleich in eine Maschine nach Andrews. Was will Mason denn von mir?«
»Verdammt, ich kriege ihn einfach nicht an die Strippe. Hab’s die ganze Zeit versucht, während wir reden. Ich werd’s dir sagen, weil ich es wissen wollen würde. Und weil ich nicht will, dass du später sauer auf mich bist, weil ich nicht damit herausgerückt bin, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
Levis Herz pochte lauter in der Brust.
»Lass mich einleitend sagen, dass es allen gut geht. Ehrlich. Es ist alles in Ordnung. Aber vielleicht bist du froh, dass du dich um Porschenko gekümmert hast – oder wer auch immer. Kurz, nachdem du für uns nicht mehr erreichbar warst, hab ich nämlich ein Gespräch zwischen ihm und unserem freundlichen Beamten abgehört. Porschenko wollte unbedingt wissen, wie er an dich rankommt, und unser Beamter wusste von Alicia und Princeton.«
»Wie bitte?«, brüllte Levi ins Telefon, als eine Einstiegstreppe zu dem großen Jet gerollt wurde. »Was ist passiert? Erzähl mir alles.«
»Na ja, Mason hat daraufhin Lucy Chen angerufen ...«
* * *
»He, kein Problem, Levi«, sagte Dino. Levi drückte sich das Handy fester ans Ohr, um den Mann über den Lärm der zum Start aufheulenden Triebwerke besser hören zu können. »Ich an deiner Stelle würde dasselbe tun. Sag Bescheid, wenn du in der Stadt bist. Wir machen ein Fest daraus.«
»Danke, Dino.«
Levi wurde in der schweren C-5 heftig gegen die Rückenlehne des Sitzes gepresst, als die Maschine in den Himmel stieg. Er schaute zurück in den riesigen leeren Frachtraum. Sein Sitz war als einziger heruntergeklappt.
Sobald er wieder in den USA wäre, würde er mit einer Menge Leuten reden müssen. Ein Zwischenstopp in der Zentrale war nötig. Es musste eine Nachbesprechung erfolgen, und vor allem musste er mehr darüber erfahren, was mit Alicia los war, bevor er mit ihr reden würde. Wenigstens wusste er, dass sie unversehrt war. Trotzdem würde er keine Ruhe finden, bis er selbst mit ihr gesprochen hätte.
Levi schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung.
Er hatte zehn Stunden bis zur Landung.
Die Zeit wollte er nutzen, um sich zu erholen.
* * *
Levi hatte im Frachtraum zwar keine Fenster für einen Blick nach draußen, aber seit dem Start waren über neun Stunden vergangen. Außerdem hatte er durch die sinkende Flughöhe bereits mehrfach eine Druckveränderung in den Ohren gespürt.
Fast zu Hause.
Plötzlich vibrierte sein Handy. Also befanden sie sich bereits tief genug, um wieder Empfang zu haben. Er holte es aus der Tasche und stellte fest, dass er mehrere Textnachrichten hatte.
Er entsperrte das Telefon, öffnete die Nachrichten und konzentrierte sich auf eine von Lucy.
Sie textete ihm so gut wie nie.
»Levi, ich weiß, dass du gerade in der Luft bist. Ruf mich an, sobald du gelandet bist. Es ist wichtig.«
Sein Rücken versteifte sich, als er ihre Nummer wählte.
Es klingelte einmal ... zweimal ... Dann ertönte Lucys Stimme laut in seinem Ohr. »Levi, bist du wieder in den Staaten?«
»Ich sitze gerade hinten in einem Militärtransporter. In ungefähr 20 Minuten lande ich in Andrews. Was am wichtigsten ist – geht’s Alicia gut?«
»Ja. Es geht ihr gut, und ich glaube, sie ist in der letzten halben Stunde zu Hause bei deiner Mutter angekommen.«
Levi seufzte erleichtert. »Gott sei Dank. Deine Nachricht hat mich ziemlich ...«
»Aber du musst erfahren, was passiert ist! Ein Russe ...«
»Brice hat mich schon informiert. Aber ich will noch ein paar Dinge überprüfen, bevor ich Alicia anrufe. Sag mir, was sie weiß und was sie gesehen hat.«
»Okay, das ist ziemlich einfach. Drei meiner Mädchen haben sich als Mitbewohnerinnen ausgegeben und waren bei der Orientierungsveranstaltung, an der Alicia teilgenommen hat. Alicia hält sie für Studentinnen aus China. Die Tarnung ist nicht aufgeflogen. Als ein russischer Mafiosi versucht hat, etwas abzuziehen, konnte ihn eine von ihnen entwaffnen, während eine andere Alicia schnell außer Sichtweite gebracht hat.«
»Und der Mafioso?«
»Aus der Gleichung genommen. Das Outfit hat bei der Entsorgung geholfen. Der Typ hatte einen Fluchtwagenfahrer. Mit Dennys Hilfe konnte ich den Wagen aufspüren und sogar die Identität des Fahrers rausfinden. Im russischen Unterschlupf ist ein bedauerliches Feuer ausgebrochen. Keiner hat es nach draußen geschafft. Eine echte Tragödie. Das haben meine eigenen Leute aufgeräumt. Ich wollte Mason nicht in eine unangenehme Lage bei seinen geheimnisvollen Bossen bringen.«
Levi nickte und spürte, wie sich das Flugzeug nach links neigte und wahrscheinlich zum Landeanflug ansetzte.
»Alicia hält den Russen für einen gewöhnlichen Straßenräuber und glaubt, eines der Mädchen hätte Anzeige bei der Polizei erstattet. Anscheinend hat sie es ziemlich gut weggesteckt. Sie ist hart im Nehmen. Die Kleine hat schon viel Schlimmeres erlebt, bevor du sie von der Straße geholt hast. Zuletzt hab ich heute von meinen Mädchen gehört, als sie alle gepackt und das Wohnheim verlassen haben. Masons Leute haben Alicia auf dem Weg nach Hause aus der Ferne beobachtet. Brice hat mir getextet, dass sie wohlbehalten angekommen ist. Das war’s so ziemlich.«
Mit einem warmen Gefühl in der Brust lächelte Levi. »Lucy, ich bin dir was schuldig.«
»Und ob. Und ich erwarte, dass du mich zu Hause besuchst, wenn du mit deiner Nachbesprechung fertig bist. Es ist zu lange her. Mir fehlt dein hübsches Gesicht.«
Er lachte. »Sollte das nicht eigentlich der Mann sagen?«
»Du hast in dieser Beziehung nicht die Hosen an – was ich dir beweisen werde, wenn du später vorbeikommst. Jetzt ruf Alicia an. Ich weiß, dass du’s kaum erwarten kannst. Wir sehen uns bald.«
Damit war die Leitung tot, und Levi tat, was Lucy vorausgesagt hatte.
Kaum hatte es einmal geklingelt, meldete sich Alicias aufgeregte Stimme in der Leitung. »Ahbah! Ich versuche schon eine ganze Weile, dich zu erreichen, aber ich bin nie durchgekommen.«
»Ich war im Ausland und bin gerade auf dem Weg zurück. Wie war die Orientierungsveranstaltung, bei der du warst?«
»Das weißt du genau ...«
»Woher soll ich das wissen?«
»Komm schon, Dad. Ich bin nicht dumm. Drei ältere asiatische Mädchen als Mitbewohnerinnen? Das hast du arrangiert, kann gar nicht anders sein. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass sie alle bewaffnet waren.«
»Warte, wovon redest du? Bewaffnet?«
»Na ja, eine hat ihren Kulturbeutel fallen gelassen. Das Geräusch dabei hat verdächtig nach einer Pistole geklungen. Oder nach dem schwersten je hergestellten Metallvibrator.«
»He, woher weißt du etwas über ... ach, egal.« Levis Gedanken überschlugen sich. Lucy lag völlig falsch. Alicia hatte offensichtlich ziemlich klar durchschaut, was sich abgespielt hatte. »Will ich gar nicht wissen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie war die Orientierung?«
»Cool. Das kommende Jahr wird bestimmt spitze. Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du es mir ermöglichst. Ich weiß, dass es teuer ist ...«
»Kleines, das ist kein Problem. Wenn’s eines wäre, würde ich es dir sagen. Alles gut. Bist du grade zu Hause angekommen?«
»Ja. Und du kannst deinen Freunden sagen, dass sie aufhören können, mir überallhin zu folgen. Ruth, Ting und Min hab ich zwar nicht bemerkt, aber die Männer im Cadillac, der mir den ganzen Weg von Princeton nachgefahren ist. Viel haben sie ja nicht drauf, wenn sie dachten, ich würde sie ein paar Autos hinter mir nicht bemerken.«
»Ich weiß nicht, was ...«
»Dad, komm schon ... trau mir doch auch mal was zu, ja?«
Ein Gefühl von Stolz stieg in Levi auf, als er kopfschüttelnd lächelte. »Schon gut, schon gut. Vielleicht wollte ich nur sicherstellen, dass meinem Mädchen nichts passiert, während ich nicht da war. Kannst du’s mir verübeln?«
Das Geräusch des ausfahrenden Fahrwerks hallte laut durch den Frachtraum.
»Hab dich lieb, Ahbah.«
»Ich dich auch, Kleines. Wir sehen uns noch diese Woche.«
Damit beendete er das Telefonat, und durch die Maschine ging ein Ruck, als die Räder auf der Landebahn aufsetzten.
* * *
Levi saß in Brice’ Büro und lauschte dem Techniker, der etwas von einem Ausdruck ablas.
»Letztes Jahr hat es in einer Hähnchenverarbeitungsfabrik in Georgia gebrannt. Fünf Arbeiter sind dabei ums Leben gekommen, Dutzende weitere wurden verletzt. Einen Monat später ist bei einem Brand in einem Fleischverarbeitungsbetrieb in Nebraska ein Arbeiter gestorben und ein anderer schwer verletzt worden. Kurz danach ist ein Feuer in einer Speckfabrik in Iowa ausgebrochen. Zwei Tote, vier Verletzte. Zwei Monate später – ein Großbrand in einem Lebensmittelverarbeitungsbetrieb in Texas. Die gesamte Anlage wurde zerstört, über tausend Menschen haben ihren Job verloren. Dasselbe Spiel wenige Wochen später in Kalifornien. Danach noch mal in Ohio und Pennsylvania ...«
Levi hob die Hand. »Hör auf. Ich hab’s kapiert. Irgendjemand hat etwas gegen unsere Lebensmittelversorgung. Worauf willst du hinaus?«
»Alle diese Vorfälle haben sich 2021 ereignet. Und für jeden davon habe ich eine E-Mail an Porschenko von einer anonymen E-Mail-Adresse. Immer mit demselben Inhalt – jemand im Repräsentantenhaus oder Senat muss ›überzeugt‹ werden, und ein vorgeschlagenes Ziel für eine ›Botschaft‹ im Bundesstaat des jeweiligen Abgeordneten. Leider habe ich keine neueren E-Mails – nichts mehr nach Ende 2021. Deshalb weiß ich nicht, was seither noch passiert sein könnte.«
Levi lehnte sich vor. »Warte. Soll das heißen, jemand anders hat Porschenko die Vorschläge unterbreitet? Er war nicht der Kopf der Schlange?«
»Oh, er war schon der Kopf. Oder zumindest ein Kopf. Und mit den Daten können wir wasserdichte Verurteilungen gegen viele der Leute erreichen, mit denen er zusammengearbeitet hat. Allerdings könnten uns trotzdem etliche Schuldige durch die Lappen gehen. Und wichtiger noch, wir könnten es mit einer mehrköpfigen Schlange zu tun haben.«
Levi deutete auf den Notizblock auf Brice’ Schreibtisch. »Gib mir den Block und einen Stift.«
Levi schrieb eine Reihe von Zahlen auf den Block. »In Porschenkos Büro hab ich sein Telefon durchgesehen. Die Liste der letzten 200 ausgehenden und eingehenden Anrufe war noch drauf.«
Brice’ Augen wurden groß. »Heilige Scheiße, Levi. Du hast dir die Nummern alle eingeprägt? «
»Du weißt doch von meinem speziellen Gedächtnis«, erwiderte Levi, der immer noch schrieb.
»Schon, trotzdem ist es unfassbar, es live zu erleben. Hast du dein Gedächtnis je testen lassen? Von einem kognitiven Neurologen oder so?«
Das hatte Levi. Er hatte die Ergebnisse vernichtet und alle Beteiligten zu Verschwiegenheit verpflichtet. Allerdings hatte er nicht vor, Brice etwas davon zu verraten.
»Die Ärzte sagen, so was kommt einfach manchmal vor«, wiegelte er ab. Um das Thema zu wechseln, fügte er hinzu: »Wann ist Mason zurück?«
»In zwei Tagen. Er ist zu irgendeiner Krisensitzung in Europa gerufen worden.«
Kaum wurde Levi mit dem Aufschreiben der Telefonnummern fertig, erhielt er eine Nachricht von Dino.
Wir sind so weit. Bis du hier bist, liegt alles auf Eis.
Er schob Brice den Block zu. »Ich muss los. Sieh zu, ob du mit den Nummern irgendwas rausfinden kannst – vielleicht entdeckst du jemanden, den ihr noch nicht auf dem Radar habt.«
Brice nickte. »Ich lasse sie über das Rechenzentrum in Utah laufen. Man weiß ja nie.«
Levi winkte und ging zur Tür hinaus, um sich mit Dino zu treffen. Er würde dem Mann zwar einen großen Gefallen schulden, aber das war es ihm definitiv wert.
* * *
Als Levi den schalldichten Raum betrat, den die Familie Marino für ihn arrangiert hatte, schnappte der einzige Anwesende darin nach Luft. Tony Banks saß festgeschnallt auf einem stabilen, mit dem Boden verschraubten Holzstuhl. So wie es aussah, hatte er dort bereits den Großteil des Tags verbracht.
Levi lächelte. Gut.
Dino aß draußen vor dem Gebäude an einem Picknicktisch und scherzte mit seinen Leuten. Diese Sache war nicht ihr Problem.
Levi zog ein Paar Lederhandschuhe an. »Mr. Banks«, sagte er. »Schon interessant, wie sich das Blatt wenden kann, finden Sie nicht auch? Bei unserem ersten Treffen haben Sie Spielchen mit mir getrieben. Jetzt bin ich damit an der Reihe. Sie dachten wirklich, Sie wären im Vorteil. Und wissen Sie was? Ich bin nicht kleinlich. Damals waren Sie meine Zeit und Energie nicht wert. Nur hat sich die Lage geändert.«
»Hören Sie mir zu«, sagte Banks geradezu flehentlich. »Ich habe Zugriff auf einer Menge Bargeld. Fast 800.000 Dollar in nicht markierten Scheinen. Sie gehören Ihnen, wenn Sie mich hier rauslassen. Ich sage zu niemandem ein Wort davon, was passiert ist.«
»Richtig. Sie werden kein Wort sagen.« Levi schüttelte den Kopf. »Geld lässt mich kalt. Im Gegensatz zu Ihnen beherrscht es nicht mein Leben. Wissen Sie, was mich nicht kalt lässt? Meine Familie. Ich habe erfahren, was Sie getan haben. Und ich will mehr darüber hören, warum. Schon eine Ahnung, wovon ich rede?«
Banks schüttelte den verschwitzten Kopf. Seine Augen quollen praktisch aus den Höhlen.
Levi holte eine Pistole und ein Messer hervor, zeigte Banks die Waffen und legte sie dann auf einen Tisch. »Sie haben sich mit jemandem in Russland über meine Familie unterhalten. Erinnern Sie sich daran?«
Banks’ Kinnlade klappte auf.
Levi lächelte. »Na also, Sie erinnern sich! Ausgezeichnet. Wissen Sie, das lässt mich nicht kalt. Es macht mich wütend, um genau zu sein. Dass jemand auch nur auf die Idee kommt , jemanden zu gefährden, den ich liebe ...«
»Aber ich habe nicht ...«
Das Wurfmesser schnellte rotierend durch die Luft und schlug zwischen Banks’ Beinen ein. Der Mann schrie vor Angst gellend auf, obwohl die Klinge ihn nicht mal berührte.
Levi ging zu ihm und riss das Messer aus dem Stuhl. Dann lehnte er sich an einen Holztisch gegenüber von Banks.
»Wo war ich? Ach ja, die Gefährdung von Menschen, die ich liebe. Und für ein solches Vergehen ... bieten Sie mir Geld an. Es gibt auf unserer schönen Erde nicht genug Geld, um sich da rauszukaufen. Ich habe das Gespräch gehört, das Sie mit Ihrem Freund in Russland geführt haben. Sie haben ihm meine Tochter angeboten, um sich bei ihm einzuschleimen.«
Banks stammelte: »Er h-hätte mich umbringen lassen, wenn ich ihm nicht besorgt hätte, was er wollte.«
Levi nickte. »Interessant. Sagen Sie, wie heißt Ihr Freund?«
Banks erstarrte.
Levi hob die Pistole auf, lud sie durch und legte sie auf seinen Schoß. »Nur zu, ich warte.«
»P-Porschenko«, stieß Banks hervor. »Seinen Vornamen weiß ich nicht.«
»Wie hat Porschenko Sie bezahlt?«
»Einer seiner Männer hat mich immer angerufen und mir gesagt, wohin ich kommen soll. Zum Beispiel zum Washington Monument oder so. Manchmal hat mich dann jemand angerempelt, und ich hatte plötzlich einen Umschlag in der Tasche. Oder jemand ist in der Zwischenzeit in mein Auto eingebrochen und hat etwas unter dem Sitz zurückgelassen. Bargeld. Immer in Hundertern.«
Levi lehnte sich auf die Hände zurück. »Was wissen Sie über seine Ziele?«
Banks krümmte sich. »Ich weiß, dass er versucht hat, Fürsprecher für die Pipeline zu bekommen.«
»Aber die USA haben mit dieser Pipeline nichts zu tun, oder?«
»Na ja ... nicht direkt.« Banks’ Stimme hörte zu zittern auf, als er etwas erklärte, wovon er eindeutig Ahnung hatte. »Der Kongress stimmt für Beschlüsse ab, die solche Dinge unterstützen oder nicht. Und über das Außenministerium verwenden wir das, um andere in unserer Wählergruppe zu beeinflussen.«
»Und was haben Sie für Porschenko gemacht – außer ihm meine Tochter als Köder anzubieten?«
»Ich habe mitgeholfen, Abstimmungen zu koordinieren.« Banks’ Kinn bebte. »Ich war für ihn Augen und Ohren im Kongress.« Tränen liefen dem Mann über die Wangen. »Bitte. Lassen Sie mich einfach gehen, und ich mache, was immer Sie wollen.«
Levi stand auf. »Haben Sie gewusst, dass ich gerade zurück aus Russland bin?«
Banks schüttelte den Kopf.
Levi hob das Messer an und grinste. »Wissen Sie, obwohl ich das Messer gereinigt habe, sind wahrscheinlich noch Spuren von Porschenkos Blut daran.«
Banks’ Augen weiteten sich.
Dann brachte Levi lächelnd die Pistole in Anschlag. »Und das hier ist eine SIG P365. Die bevorzugte Waffe von Porschenkos Leibwächter. Wissen Sie, woher ich das weiß?«
»W-Weil sie ihn auch umgebracht haben.« Mittlerweile schluchzte Banks. »Bitte – ich tue alles. Uneingeschränkt alles.«
Levi steckte das Messer in die Scheide und trat näher zu Banks. »Alles, was Sie mir erzählt haben, wusste ich schon. Sie müssen mir etwas liefern, das ich noch nicht über Porschenko weiß.«
Banks’ Blick zuckte hin und her. »Äh, ich weiß, dass er außer mit mir noch mit anderen in Kontakt war. Aber nicht, wer sie sind.«
»Wie hat er von Ihnen erfahren?«
Banks verlagerte die Haltung in den Lederriemen, die ihn an den Stuhl fesselten. »Er hat mich irgendwann einfach auf meinem Diensthandy angerufen. Das war vor Jahren. Ich hatte Geldprobleme. Einer seiner Leute ist mit mir zusammengestoßen und hat mir einen Umschlag zugesteckt. Es war genau so viel drin, wie ich bei der Bank mit meiner Hypothek im Rückstand war.«
Levi nickte. »Was hat er über diese anderen Kontakte gesagt?«
Banks schüttelte den Kopf. »Sie sind kaum je zur Sprache gekommen, und wenn, dann hat er sie immer nur als ›die anderen‹ bezeichnet.«
»Was glauben Sie , wer die anderen sind?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich andere Beamte im Kongress wie ich. Oder sogar Abgeordnete, obwohl er mit ihnen vielleicht gar nicht direkt reden musste, wenn er ihre Mitarbeiter hatte. Und möglicherweise auch Lobbyisten.«
»Lobbyisten?«
»Sie wissen schon, die Leute von der K Street. Spezielle Interessengruppen setzen sie ein, damit sie ungefähr dasselbe tun wie ich. Sie reden mit Kongressabgeordneten über Gesetzesentwürfe, die sie befürworten oder die sie abwürgen wollen. Gehört alles mit zum Sumpf von Washington, D. C.«
»Was haben Sie getan, das die Leute von der K Street nicht wollten oder konnten?«
»Na ja, ich habe einen besseren Zugang als sie. Ich darf an Orte, die Lobbyisten verschlossen bleiben.«
Plötzlich überkam Levi intensiver Hass auf den Mann vor ihm. »Sonst noch was?«
Banks presste die Lippen zusammen und schwieg einige Sekunden lang. »Offen gestanden glaube ich, dass die Mächtigeren unter denen so ziemlich alles machen können. Aber ich bin beharrlich. Zum Beispiel haben mir die Fotos von Ihnen geholfen, die Stimme eines Kongressabgeordneten zu beeinflussen.«
»Ich habe Sie neulich am Flussufer gesehen«, sagte Levi. »Sie haben diese Fotos verbrannt. Offensichtlich hatten Sie die Bilder bereits benutzt. Was hat Sie an dem Tag zum Fluss geführt?«
»Sie haben es gesehen.« Banks sprach es als Feststellung aus, nicht als Frage, und er schüttelte den Kopf. »Manchmal rede ich mit Leuten, die ... Na ja, ich glaube, sie sind vom russischen Geheimdienst, obwohl sie das nie ausgesprochen haben. Ich weiß, dass sie irgendwie zur Botschaft gehören. Die Sache am Fluss ist ziemlich einfach. Man hat mir erklärt, dass der Köder an der Angelrute ein Unterwassersender ist. Jemand in der Nähe, zum Beispiel am anderen Ufer, hat einen Empfänger dabei, der das von mir übertragene Signal aufzeichnet. Aber es gibt keine Ausrüstung, die über Wasser auch nur etwas von der Übertragung bemerkt.«
Levi nickte. Ein schlaues Arrangement.
Banks leckte sich die spröden Lippen. »Darf ich Sie was fragen?«
»Nur zu.«
»Haben Sie Porschenko wirklich umgebracht?«
Levi grinste. »Der Mann ist tot.«
Banks runzelte die Stirn. Als er wieder das Wort ergriff, klang er unsicher. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ... ich glaube, er hat seine Tipps von jemandem bekommen, der Washington noch besser kennt als ich.«
Levi achtete darauf, sich nichts anmerken zu lassen, doch zum ersten Mal beschlich ihn das Gefühl, der Beamte könnte am Schorf von etwas Neuem kratzen. »Wieso sagen Sie das?«
»Weil er mich ein paar Mal aufgefordert hat, mit bestimmten Leuten zu reden. Er wusste, dass sie die Informationen haben würden, die ich gebraucht habe. Und manchmal waren es unscheinbare Leute, beispielsweise jemand irgendwo in einem FBI-Labor, der zufällig etwas Entscheidendes über das wusste, wobei ich helfen sollte. Das ist in den letzten Jahren mindestens ein halbes Dutzend Mal vorgekommen. Porschenko selbst kann diese Leute nicht gekannt haben, er war ja in Russland. Ich glaube, er ist im Leben nie in den USA gewesen. Deshalb denke ich mir, dass ihm jemand von hier, der sich in Washington wirklich gut auskennt, solche Dinge gesteckt haben muss.«
Levis Telefon vibrierte mit einem Anruf. Bevor er ranging, hielt er die Mündung der SIG ans rechte Auge des Beamten vor ihm. »Ein Mucks von Ihnen«, warnte er, »und ich drücke den Abzug.«
Dann tippte Levi auf seinen Ohrstöpsel. »Hi. Was gibt’s?«
»Kumpel, du wirst nicht glauben, was ich gerade ausgegraben habe.«
Levi grinste und richtete den Blick an die Decke. »Lass mich raten – du glaubst, der andere Schlangenkopf ist ein Lobbyist.«
»Woher um alles in der Welt weißt du das? Egal, spielt keine Rolle. Ich hab die Telefonnummern von dir mit den Aufzeichnungen im Rechenzentrum Utah abgeglichen. Die Leute von der NSA erfassen so gut wie jeden Anruf von außerhalb der USA. Die meisten von Porschenko waren verschlüsselt. Aber bei einer Telefonnummer wurde keine End-to-End-Verschlüsselungstechnologie benutzt. Zu der Nummer hab ich zwei Anrufe gefunden. Einer war vor ungefähr drei Wochen. Nur irgendwelcher Müll über Baseball in Russland. Der zweite hingegen stammt von kurz vor Porschenkos Tod. Warte, ich spiele ihn für dich ab.«
Gleich darauf drang eine neue Stimme über die Leitung. Die von Porschenko.
»Alex, sie ist genau wie Anna. Sie wird sterben, ich spüre es. Es wird wieder passieren. Und was mache ich dann? Ich kann das nicht mehr lange machen. Sie braucht mich.«
Eine andere Stimme antwortete. Sie sprach Englisch mit amerikanischem Akzent.
»Hör auf! Reiß dich zusammen. Sonst gehst du unter. Du musst im Programm bleiben.«
»Du hast recht. Ich weiß, dass du recht hast. Wir sind ja fast am Ziel, nicht wahr?«
»Ja. Die Dinge entwickeln sich so, wie wir sie brauchen. Ich habe dir die Kontaktdaten von fünf weiteren Einflussnehmern geschickt. Die Letzten sind überzeugt worden. Ihre Stimmen gehören uns. Wir brauchen noch fünf im Repräsentantenhaus und zwei im Senat.«
»Du fehlst mir. Es ist 40 Jahre her.«
»Hast du mich gehört? Wir sind sehr nah dran. Tu, was getan werden muss.«
Nach einem Klicken meldete sich wieder Brice zu Wort. »Das war’s. Was hältst du davon?«
»Schräg«, befand Levi. »Was hast du über diesen Alex?«
»Ich hab die Nummer zu einer Adresse zurückverfolgt, die ich dir gerade per E-Mail geschickt habe. Das Haus gehört Alex Conway, Leiter einer Lobbying-Agentur in der K Street. Ich hab mir seinen Hintergrund angesehen, aber sofort gemerkt, dass er manipuliert ist. Zu sauber für jemanden in seiner Branche.«
»40 Jahre ...«, murmelte Levi nachdenklich. »Und ›du fehlst mir‹ eingestreut. Fast so, als wären die zwei ein Liebespaar. Falls ja, ist dieser Typ aus der K Street eindeutig der Dominante. Was passiert, wenn er von Porschenko erfährt?«
Brice Stimme nahm einen düsteren Ton an.
»Das bereitet mir Kopfzerbrechen. Aus demselben Grund, warum wir bei Porschenko nicht wollten, dass er durchdreht, wenn er das Gefühl bekommen hätte, es würde eng für ihn. Dieser Mann hat wahrscheinlich denselben Zugriff auf Senatoren, Generäle und dergleichen. Porschenko mag viel Drecksarbeit erledigt haben, aber dieser Conway könnte der Manipulator dahinter sein. Politische Unruhen, Informationslecks zum Aufwiegeln der Öffentlichkeit, Ausspielen einer Seite gegen die andere – das entspricht genau dem, worin Lobbyisten besonders gut sind. Manipulation der öffentlichen Meinung. Lässt man die richtigen Daten an die richtigen Stellen durchsickern, kann man dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in ihre Regierung verliert. Und wenn das passiert oder die Menschen glauben, ihre Stimme wäre ohnehin bedeutungslos ...«
»Ist es nicht mehr weit zum Bürgerkrieg.«
»Genau.«
»Also schickst du Sturmtruppen zu ihm nach Hause?«
»Geht nicht. Wir haben keinen Gerichtsbeschluss dafür. Und der Typ hat wahrscheinlich jeden Richter auf Kurzwahl gespeichert. Würde mindestens ein paar Tage dauern, selbst wenn nicht lauter geheime Daten im Spiel wären. Und für eine vertrauliche Anhörung vor dem richtigen Richter ... brauche ich Masons Hilfe.«
»Und in der Zwischenzeit könnte der Kerl munter weiter virtuelle oder buchstäbliche Bomben zünden. Wenn er glaubt, dass sich die Schlinge um ihn zuzieht, wird er alle Register ziehen.«
»Richtig.«
Levi lächelte. »Deshalb hab ich jetzt seine Adresse. Sag nichts mehr. Ich melde mich wieder.«
Er beendete das Gespräch und steckte die Pistole zurück ins Schulterholster. Um Banks’ rechtes Auge hatte sich durch den Druck der Mündung ein leichter Bluterguss gebildet.
»Okay, Banks, Sie haben gesagt, Sie haben 800.000 Dollar.«
Der Mann nickte. »Ja. Also, genau genommen 780.000.«
»Wo? Das ist Ihre einzige Chance. Sagen Sie mir, wo es ist und wie ich es überprüfen kann, dann erleben Sie morgen vielleicht den Sonnenaufgang.«
»Danke.« Banks’ Atem ging in abgehackten Stößen. »Es ist bei mir auf dem Dachboden. Unter der Isolierung. Dort habe ich mehrere Aktenkoffer versteckt.«
Levi verließ den Raum, knallte die Tür hinter sich zu und ging hinaus zu Marinos Leute.
Dino schaute auf. »Und?«
Levi grinste. »Habt ihr ihn von zu Hause geholt?«
Dino sah die anderen Gangster an. »Habt ihr Momos unseren Spitzel bei ihm zu Hause geschnappt?«
Die drei nickten.
Levi ging in die Hocke, bis er sich auf Augenhöhe mit Dino befand, und flüsterte ihm zu. »Seht oben auf dem Dachboden nach. Unter der Isolierung hat er Aktenkoffer mit fast 800 Riesen. Die gehören euch. Meine Bezahlung an dich und Don Marino.«
Dino stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Nett.« Er deutete mit dem Kopf auf das Gebäude. »Was ist mit ihm?«
»Das weißt du.« Levi spuckte ins Gras. »Er hat meine Tochter in Gefahr gebracht.«
Dino hob die Hand. »Sag nichts mehr. Wird erledigt.«
Die beiden Männer schlugen ein.
»War wie immer ein Vergnügen, mit euch Strandpennern Geschäfte zu machen«, sagte Levi.
Dino lachte. »Wir sehen uns.«
Levi ging zu seinem Mietwagen. Er musste noch einiges besorgen, bevor er durch die Stadt fahren würde.
Morgen würde ein ereignisreicher Tag werden.