Das bebrillte, pummelige Gesicht von Brice schwebte über Levi, als er sich in einem Krankenhausbett abrupt aufsetzte und nach Luft rang.
»Sachte, Levi!« Brice legte ihm die Hand auf die Schulter. »Schon gut. Du bist in einer unserer Zimmerfluchten im Walter Reed Militärkrankenhaus.«
Levis Herz hämmerte wild in der Brust, während er blinzelnd versuchte, sich zu orientieren. Sein ganzer Körper fühlte sich geprellt und geschunden an, seine rechte Schulter pochte dumpf.
Ein Arzt mit einem Klemmbrett trat ein. »Yoder, wir müssen aufhören, uns so zu treffen.«
Levi schaute zu dem Mann auf. Seine Sinne arbeiteten schaumgebremst. Es dauerte einen Moment, bis er den Arzt erkannte. Dann breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus, und er bot ihm mit dem unversehrten Arm die Ghettofaust an. »Doc Spears. Lange nicht gesehen.«
Brice schaute zwischen den beiden hin und her. »Ihr beide kennt euch?«
Levi schmunzelte – und zuckte zusammen, als ihm ein stechender Schmerz durch die Schulter fuhr. »Wir haben uns zuletzt bei einem Einsatz in Argentinien gesehen. Richtig, Doc?«
Der großgewachsene Arzt nickte. Er gehörte nicht nur dem Outfit an, sondern war früher auch bei den Special Forces gewesen. »Ist immer schön, einen Sieg für die Heimmannschaft zu holen.« Er klopfte Levi auf die unversehrte Schulter. »Sie sind schon ’ne harte Nuss. Ich kann mich noch an unseren ersten gemeinsamen Tango erinnern. Damals sind sie nicht bloß einmal, sondern gleich zweimal von einer .338 Lapua getroffen worden und hatten lediglich ’ne kollabierte Lunge.«
»Gutes Gedächtnis. Aber mein Zustand zu dem Zeitpunkt war wohl eher meiner Körperpanzerung zu verdanken.« Levi hob den rechten Arm und spürte ein Kribbeln von der Schulter bis zu den Fingerspitzen. »Was ist diesmal der Schaden?«
»Werden wir gleich wissen. Schwingen Sie die Beine von der Liege und sehen Sie mich an. Ich brauche ein paar Tests mit Ihnen in wachem Zustand.«
Levi kam der Aufforderung nach.
Doc Spears hielt einen Stift hoch. »Augen auf den Stift gerichtet lassen.«
Levi ließ den Arzt einige grundlegende motorische und kognitive Untersuchungen an ihm durchführen. Als Spears fertig war, wandte sich Levi an Brice.
»Wie lang war ich weggetreten?«
Brice sah auf die Armbanduhr. »Wir haben noch nicht mal Mittag. Ein paar Stunden. Zehn Minuten, nachdem du das Chaos dort angerichtet hattest, hab ich dich von einem Team rausholen lassen.«
»Das war nicht meine Schuld«, rechtfertigte sich Levi. »Du hättest draußen die Augen offen halten sollen.«
Er rieb sich die Arme. An mindestens sechs Stellen spürte er Nähte. Als er sein Gesicht abtastete, entdeckte er weitere entlang der Kieferpartie. »Und, Doc? Wie lautet das Urteil? Werd ich’s überleben? Sehe ich aus wie Frankensteins Monster?«
Spears lachte leise. »Wenn man bedenkt, dass Sie entschieden zu nah an einer explodierenden Granate waren und aus einem Fenster im ersten Stock geschleudert worden sind, würde ich sagen, Sie sind in bemerkenswert guter Verfassung. Die CT-Aufnahmen sind unauffällig. Wir mussten Sie zwar reichlich nähen, aber nichts davon ist was Ernstes. Und die Schulter wird auch wieder, die ist nur übel malträtiert. Hab gehört, Sie sind mit einer kugelsicheren Weste angeschossen worden. Tut höllisch weh, das weiß ich, aber es ist nichts gebrochen.«
Levi bewegte den rechten Arm. »Was ist mit dem schmerzhaften Kribbeln? Ist ziemlich unangenehm.«
»Der Projektileinschlag läuft auf ein Trauma durch stumpfe Gewalteinwirkung hinaus und war in einem Bereich mit dicht gebündelten Nerven. Aber während Sie bewusstlos waren, haben wir die Nervenleitfähigkeit getestet. Alle Werte sind im grünen Bereich. Sie spüren nur die Reaktion Ihres Körpers auf das Trauma. Betrachten Sie es als Ermahnung, mal eine Weile kürzer zu treten. Falls das Kribbeln in den nächsten Tagen nicht nachlässt, können wir weitere Tests durchführen, aber ich denke, es wird sich legen, sobald die Schwellung zurückgeht.«
»Heißt das, er kann gehen?«, fragte Brice.
»Die meisten Ärzte würden empfehlen, dass er über Nacht zur Beobachtung bleibt.« Spears zwinkerte Levi zu. »Aber ich denke, das ist nicht nötig. Dafür ist unser Freund hier aus zu hartem Holz geschnitzt. Ich unterschreibe seine Entlassung.«
Bevor Doc Spears ging, ließ er noch eine Packung Schmerzmittel zurück. Auf einer gelben Haftnotiz stand: Falls Sie doch weich werden, können Sie die gegen die Schmerzen einnehmen.
Levi lachte, zuckte prompt zusammen und lachte erneut. Er mochte den Mann.
Schließlich wandte er sich an Brice. »Wo sind meine Sachen?«
»Ich suche eine Krankenpflegerin und lasse sie dir bringen. Und übrigens, es überrascht mich, dass du noch nicht danach gefragt hast, aber – du hast’s geschafft. Dank dir konnte ich den Computer leer saugen. Die Leute im Büro analysieren gerade die Daten. Mason kommt heute noch an. Sehen wir zu, dass wir dich hier rauskriegen, damit wir ihn später zusammen informieren können.«
* * *
Levi betrat den Besprechungsraum in Straßenkleidung aus Russland. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Sein Anzug stank immer noch nach Urin, seinen Einsatzanzug hatten Granatsplitter zerfetzt.
Brice und Mason saßen am Tisch und unterhielten sich über Haftbefehle. Als sie Levi erblickten, stand Mason sofort auf und kam auf ihn zu.
»Levi, alles in Ordnung?«
Levi lächelte. »Es geht mir gut.«
»Sind Sie sicher? Sie sehen aus wie ein Haufen ausgespuckter Kaugummis.« Der Mann wirkte aufrichtig besorgt. »Tut mir ehrlich leid, wie die Operation abgelaufen ist. Wir hatten dabei katastrophales Versagen auf mehreren Ebenen.« Er deutete auf die Stühle. »Kommen Sie, nehmen Sie Platz.«
Levi setzte sich neben Brice und versuchte, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, obwohl sich sein rechter Arm immer noch anfühlte, als ob Tausende Ameisen daran knabberten.
Mason ließ sich ihnen gegenüber nieder. »Man könnte wohl sagen, die gute Nachricht ist, dass die Sache mit den Porschenkos ausgestanden ist. Brice, Sie müssen so schnell wie möglich eine Nachbesprechung mit dem gesamten Team arrangieren. Dass jemand in die Luft gesprengt wurde, wird den Leuten nicht schmecken, denen ich Rechenschaft ablegen muss. Aber vorerst geben Sie mir die Kurzfassung.«
Brice kritzelte etwas auf einen Block und drehte seinen Stuhl so, dass er sowohl Levi als auch Mason ansah. »Fangen wir mit dem in Washington, D. C. als Alex Conway bekannten Lobbyisten an. Wir wussten von einer Beziehung zwischen ihm und Porschenko. Anfangs haben wir sogar gemutmaßt, es könnte ’ne romantische Verstrickung sein. Dem war nicht so. Alex Conway war in Wirklichkeit Alexej Porschenko, Konstantins Zwillingsbruder, in der Sowjetunion geboren und vor fast 40 Jahren vom KGB als Langzeitagent hergeschickt.«
Mason runzelte die Stirn. »Aber der KGB ist 1991 zusammen mit der Sowjetunion zerbrochen. Wie konnte seine Tarnung nicht auffliegen?«
Brice zuckte mit den Schultern. »Die Sowjets müssen einen Insider gehabt haben. Conway hatte lauter legitime Dokumente, sogar eine Geburtsurkunde aus Bethesda mit einem kleinen Fußabdruck drauf.« Er deutete mit dem Daumen auf Levi. »Levi hat zwei und zwei zusammengezählt und vermutet, dass er Porschenkos Bruder war ...«
»Das war keine Vermutung. Ich hatte ja ein Foto von Konstantin Porschenko gesehen. Bei Conways Anblick dachte ich anfangs, ich hätte einen Geist vor mir. Conway war Porschenko wie aus dem Gesicht geschnitten. Dann ist mir eingefallen, dass unsere Kontaktperson in der russischen Außenstelle das Gerücht erwähnt hat, Konstantin hätte als Kind seinen Zwillingsbruder beim Streit um ein Mädchen umgebracht. Da wurde mir klar, dass er wirklich einen Zwilling hatte, nur hatte er ihn nicht umgebracht – und jetzt wissen wir, was aus ihm geworden ist.«
»Interessant«, merkte Mason an. »Aber noch mal: Wie konnte dieser KGB-Agent vom Untergang der Sowjetunion unberührt bleiben?«
Brice ergriff einen seiner Ausdrucke. »Ich kann nur sagen, dass er in erster Linie mit der Absicht platziert wurde, sich als Akteur in Washington zu etablieren. Erste Berufserfahrung hat er als kleiner Angestellter einer der großen Lobbying-Agenturen in der K Street gesammelt. Vermutlich hat er nach der Auflösung des KGB seine Mission einfach fortgesetzt. Zu dem Zeitpunkt hat er hier bereits ordentlich verdient und war autark.«
»Und offensichtlich ist er in Kontakt mit seinem Bruder geblieben«, fügte Levi hinzu. »Beeindruckende Leistung, so was über fast vier Jahrzehnte geheim zu halten.«
»Na ja, er ist der ursprünglichen Sache verbunden geblieben«, sagte Brice. »Kurz vor der Explosion im Schlafzimmer hat er was auf Russisch gebrüllt. Levi weiß natürlich längst, was es bedeutet, aber ich musste es erst vom Computer übersetzen lassen. Seine Worte waren: ›Für Russland.‹ Buchstäblich seine letzten Worte auf Erden.«
Mason schüttelte den Kopf. »Und ich muss mir jetzt Sorgen darüber machen, dass eine ganze Armee ehemaliger KGB-Agenten übers Land verteilt in versteckten Winkeln lauern könnte. Manchmal würde ich solche Dinge am liebsten einfach gar nicht wissen. Wie sieht’s mit der Datenanalyse aus?«
»Wir arbeiten daran. Wird noch eine Weile dauern«, antwortete Brice. »Aber nach und nach fügen sich die Puzzleteile zusammen. Klar ist, dass Alexej anfällige Personen in Washington identifiziert hat, die direkt beeinflusst werden konnten, und Zielpersonen, die man einsetzen konnte, um die richtigen Leute indirekt zu beeinflussen. Die Information hat er an Konstantin weitergegeben, der praktisch das ausführende Organ hinter dem Chaos war.«
»Und obwohl die Brüder jetzt tot sind, bleiben ihre Kontakte kompromittiert«, murmelte Mason und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Wir müssen eindeutige Verbindungen zwischen den Akteuren herstellen und damit zu Verhaftungen kommen.«
Brice seufzte. »Ich weiß. Von Alexejs Heimcomputer hab ich fast 100 Gigabyte an Daten heruntergeladen, aus seinen Büros in der K Street holen wir uns gerade buchstäblich Terabytes. Ich wünschte nur, ich hätte Zugang zu mehr von Konstantins Daten. Bei seinen Kontakten könnten wir am ehesten sofort handeln. Oder zumindest könnten wir durch sie herausfinden, wonach wir suchen müssen.«
Levis Augen wurden groß. »Moment. Die Kontaktliste habe ich vielleicht.«
Beide Männer drehten sich ihm überrascht zu.
Levi schloss die Augen und rief sich die wenigen Minuten ins Gedächtnis, die er in Konstantin Porschenkos Büro verbracht hatte. Dort hatte er das Adressbuch des Mannes durchgeblättert. Es hatte Namen, Adressen und Telefonnummern aus aller Welt enthalten, viele davon jedoch aus den USA.
Er öffnete die Augen und grinste Brice an. »Ich hab Porschenkos Adressbuch gelesen. Gebt mir nur einen Notizblock und einen Stift.«
»Unmöglich.« Brice starrte ihn an. »Du hast dir sein gesamtes Adressbuch gemerkt?«
Mason lachte. »Da haben wir’s, Marty. Levi hat im Kopf, was Sie brauchen. Damit ist wohl klar, was Sie als Nächstes tun. Stellen Sie mir eine Liste mit Namen, Adressen und den jeweiligen Straftaten zusammen. Dann leite ich den Papierkram für die Haftbefehle in die Wege. Klingt, als hätten wir alle Hände voll zu tun.« Er zeigte mit dem Finger auf Levi. »Aber sobald zu Papier gebracht ist, was Sie im Kopf haben, müssen Sie sich ausruhen. Wenn Sie wollen, können Sie unsere Suite im Waldorf Astoria nutzen, das kürzlich in Washington eröffnet hat.«
Levi schüttelte den Kopf. »Ich will einfach zurück nach New York City. Mit Zwischenstopp in Pennsylvania. Ich will meine Kinder sehen. Apropos, wie sieht’s mit der Sicherheit bei meiner Mutter zu Hause aus?«
»Keine Sorge, Ihre Familie wird beschützt. Sie werden ja sehen, was wir vor Ort haben, wenn Sie dort sind.« Mason stand auf. Er wirkte zufrieden. »Trotz aller Kopfschmerzen und Pannen sieht’s so aus, als wäre es uns gelungen, den Sumpf von Washington wenigstens ein bisschen trocken zu legen.«
Levi verspürte einen Anflug von Erschöpfung, als er Revue passieren ließ, was sich in der vergangenen Woche ereignet hatte. Aber trotz allem, was sie erreicht hatten, wusste er instinktiv, dass der Job noch längst nicht erledigt war.
Um den Sumpf vollständig trocken zu legen, bedurfte es weit mehr als der Beseitigung eines Rings korrupter Lobbyisten und russischer Agenten.