VORSCHAU AUF:

Darwins Faktor

Jon LaForce stolperte auf unsicheren Füßen den steilen, steinigen Fußpfad hinunter, der ins Tikaboo-Tal führte. Für den Abstieg stärkte er sich noch einmal mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche – billiger Rotweinfusel, den er auf dem Weg hierher in einer Tankstelle gekauft hatte. Fast sofort verspürte er die wohlige Wärme, die vom Magen durch den Hals in seine Wangen strömte.

Er war gerade gefeuert worden – schon zum zweiten Mal in diesem Monat.

Im Moment wusste er nicht so recht, was ihn hier in diese gottverlassene Gegend im Südwesten von Nevada getrieben hatte. Früher, als er noch ein Junge gewesen war, hatte er mit seinen Freunden immer wieder mal darüber geredet, sich in diese verbotene Gegend zu schleichen und die Militärflugzeuge auszuspionieren, die hier abhoben oder landeten. Sie hatten im Flüsterton über geheime Experimente spekuliert, die hier durchgeführt würden, über mysteriöse Wolken und natürlich auch über UFOs. Denn das hier war schließlich der Ort, an dem sie die Aliens gefangen hielten. Die berühmte Area 51.

Jon glaubte natürlich längst nicht mehr an diesen Scheiß und hatte ernsthafte Zweifel, ob er oder einer seiner Freunde damals tatsächlich den Mumm aufgebracht hätten, sich auf das Militärgelände zu schleichen oder sich auch nur in seine Nähe zu wagen. Und wenn er sich jetzt umblickte, musste er zugeben, dass sie nichts versäumt hatten. Meilenweit nichts als dicht gewachsenes, silbrig-graues Gestrüpp, das, wenn er sich richtig erinnerte, Wüsten-Beifuß genannt wurde.

Er gönnte sich einen weiteren kräftigen Schluck aus der Flasche, und schon verspürte er wieder das alkoholische Prickeln, während er weiter den Hang hinunter stolperte. Plötzlich brach am Fuß des Abhangs etwas aus dem Beifußgestrüpp heraus. Jon zog die Glock aus dem Holster und ging in Schießhaltung. In dieser Gegend streiften manchmal auch Rotluchse herum.

Aber es war nur ein streunender Hund. Ein Hund mit dunkelbraunem Fell, langem Schwanz, herabhängenden Ohren – ein brauner Labrador-Retriever vielleicht.

Jon steckte die Waffe wieder ein und pfiff. »Hey, Junge, was hast du hier draußen zu suchen?«

Der Hund wedelte heftig mit dem Schwanz und sprang auf Jon zu.

Jon schraubte den Verschluss auf die Flasche und streckte dem Hund die Hand hin, damit er daran schnüffeln konnte. Während der Hund seine Hand beschnupperte und die Nase an Jons Hosenbeinen rieb, bemerkte Jon eine blutige Wunde an einer der Vorderpfoten.

»Da hat dir aber jemand ein ordentliches Stück herausgebissen, alter Knabe«, stellte Jon fest.

Der Hund jaulte und blickte sich zum Gebüsch um, hinter dem er hervorgekommen war.

Jon kraulte ihm den Kopf. »Dein Fell ist hübsch und glänzt, und du siehst auch gut genährt aus.« Er schüttelte den Kopf und tätschelte den Hunderücken. »Aber was hast du hier draußen verloren? Jemand wird wahrscheinlich schon nach dir suchen. Wird wohl besser sein, wenn ich dich zu einem Hundeasyl bringe, vielleicht finden sie dort heraus, wem du gehörst. Und sie können sich auch besser um dich kümmern. Ich kann ja kaum für mich selbst sorgen.«

Im Gestrüpp raschelte es, ungefähr 40 Meter entfernt. Der Hund jaulte auf, lief ein paar Schritte auf den Hang hinauf und drehte den Kopf zu Jon um, als wollte er ihm sagen, »Kommst du jetzt oder nicht?«

Jon zog erneut die Glock und ging einen Schritt auf das Geräusch zu.

Der Labrador sprang plötzlich vor ihn und ließ ein tiefes Knurren hören.

»Pst«, sagte Jon und ging um den Hund herum.

Der Labrador jaulte noch einmal, packte Jon am Hosenbein und zerrte hart an den Jeans, um ihn wieder den Hang hinauf zu ziehen, weiter von dem Geräusch weg.

»Was zum Henker willst du denn, du Köter?« Jon riss ihm wütend das Hosenbein aus der Schnauze und kickte dem Hund in den Bauch, aber der wich geschickt aus.

Immerhin zog sich der Hund jetzt jaulend zurück, kläffte noch einmal und raste den Hang hinauf.

Unten am Abhang brachen zwei dunkle Tiere aus dem Beifußgestrüpp – zwei weitere Hunde, beide sahen dem Braunen zum Verwechseln ähnlich.

Nur in ihrem Verhalten unterschieden sie sich von ihm.

Diese beiden Hunde begrüßten Jon nicht mit freundlichem Schwanzwedeln und heraushängenden Lefzen. Vielmehr beäugten sie ihn drohend, senkten die Köpfe und schlichen mit drohendem Knurren näher heran.

Jon richtete die Pistole auf sie und rief ihnen in freundlichem Ton zu: »Hey, Jungs, sucht ihr euren Freund?«

Kaum hatte er die Waffe auf die Hunde gerichtet, als sie auch schon auseinander stoben, einer nach rechts, der andere nach links.

Jons Puls ging schneller, sein Herz begann zu hämmern. Er zielte auf den rechten Hund. Sofort suchte der Köter hinter einem Felsbrocken Deckung.

Man konnte fast glauben, das Tier wüsste, dass die Pistole gefährlich war.

Schräg von links hörte Jon Krallen über die Steine kratzen. Er wirbelte herum und feuerte einen Warnschuss ab.

Aber der Hund rückte näher, jetzt allerdings in einem unbeständigen Zickzack, so dass es Jon schwer fiel, auf ihn zu zielen.

Ein Schauder lief Jon über den Rücken.

Seine Waffenhand zitterte, als er auf den näher kommenden Hund zielte. Einen kurzen Augenblick schoss ihm die Erinnerung an seine Zeit als Artillerist in Afghanistan durch den Kopf. Damals hatte er auf Feinde geschossen, die er kaum sehen konnte. Jetzt jedoch stand er zum ersten Mal im Leben in Spuckdistanz von seinem Ziel entfernt, als er auf den Abzug drückte.

Der Hund hatte gerade zum Sprung angesetzt, als die Kugel ihn in die Schulter traf. Mit lautem Jaulen fiel er zu Boden.

Doch fast im selben Augenblick prallte ein 50 Kilo schwerer Hundeleib in seinen Rücken. Der zweite Köter warf Jon um. Der starke Hundekiefer schloss sich wie ein Schraubstock um das Gelenk seiner Schusshand.

Jon versuchte, gegen das wütend knurrende Tier anzukämpfen. Er schrie auf – doch plötzlich blieb der Schrei in seiner Kehle stecken. Der Hund, den er angeschossen hatte, griff nun ebenfalls wieder an und verbiss sich in Jons Hals.

Jon fiel wieder auf den Boden zurück. Die unglaublich starken Kiefer des Tieres zerbissen ihm die Luftröhre. Er rang nach Luft, während sein Blick verschwamm.

Inzwischen raste sein Herz vor Angst und Entsetzen. Er betete, »Mein Gott, ich wollte doch noch so viel…«

Dann wurde alles schwarz.

* * *

Hans Reinhardt stand auf dem Kamm des felsigen Hügels und atmete widerwillig den beißenden Brandgestank ein. Ein halbes Dutzend Männer in Overalls schwärmten über den Hügel und entfachten mit ihren Flammenwerfern ein wahres Höllenfeuer. Überall im lodernden Beifußgestrüpp knackten Steine und Felsbrocken in der glühenden Hitze.

Die Operation war gut gelaufen – bisher. Aber jetzt hatte sie sich plötzlich in Scheiße verwandelt. In eine totale Katastrophe. Trotz aller Zusicherungen seiner Bosse beim Bundesnachrichtendienst, ganz zu schweigen von seinen amerikanischen Verbindungsagenten in der CIA-Zentrale in Langley, war Hans inzwischen klar geworden, dass es höchste Zeit war, alles noch einmal auf »Anfang« zu stellen. Er musste die Operation auslagern, an einen unzugänglichen, viel weiter abgelegenen Ort. Einen Ort, an dem die Gefahr eines »Zwischenfalls« geringer war.

Der Kommandant der Basis, ein Colonel der Air Force, kam herbei und blieb neben ihm stehen. »Er hieß Jonathan LaForce und war ein Marine, ein Artillerist. Vor zehn Jahren kam er aus Afghanistan zurück und wurde mit allen Ehren entlassen.«

»Was zum Teufel hatte er hier zu suchen? Ich dachte, die Basis sei völlig sicher?«

Der Basiskommandant trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Das ist sie auch. Völlig sicher. Aber beim Hundezwinger haben wir die Sache unterschätzt. Der Zwinger war ausbruchsicher, aber für diese Tiere nicht ausbruchsicher genug. Ich habe die Videoaufzeichnungen noch einmal selbst überprüft. So unglaublich es klingt, aber anscheinend hat eines der Versuchstiere herausgefunden, wie sich der Riegel des Käfigs öffnen ließ. Und als er erst einmal aus dem Käfig war, machten es ihm die anderen nach. Bis der Ausbruch bemerkt wurde, hatten sich schon sechs Tiere unter dem äußeren Sicherheitszaun hindurch gegraben.«

Hans kickte einen Stein über die Felskante und knirschte voller Frustration mit den Zähnen. »Ein toter Marine ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Was meinen Sie, wird der Tote für uns ein Problem, vielleicht sogar ein großes Problem?«

Der Colonel zuckte verlegen die Schultern. »Die gute Nachricht ist, dass er zu den krankhaften Nörglern gehörte. Unbeliebt, ein Säufer, keine Angehörigen, und anscheinend hatte er gerade auch seinen Job verloren. Er streunte nur einfach durch die Gegend, wahrscheinlich wird niemand nach ihm suchen, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Wir kümmern uns um die Leiche.«

»Und was ist mit den Versuchstieren? Wurden sie schon alle aufgespürt und, hm, ausgemustert?«

»Allen waren die passiven Transponder eingepflanzt worden. Durch die Signale konnten wir fünf Tiere aufspüren. Sie wurden eingefangen und beseitigt.« Der Colonel atmete tief ein. »Leider konnten wir das sechste Tier bisher noch nicht lokalisieren. Ich habe ein paar Drohnen losgeschickt. Sie sind so programmiert, dass sie das gesamte Terrain nach einem festgelegten Raster nach den Signalen absuchen, die sein Transponder absetzt. Wir werden es finden.«

Hans fragte sich, wie ein derart inkompetenter Esel Kommandant einer Luftwaffenbasis werden konnte, die doch angeblich eine Hochsicherheitseinrichtung war. »Wir haben keine Zeit für eine längere Suche, Colonel. Es darf nicht sein, dass eines unserer Versuchstiere frei herumstreunt und womöglich irgendwelche Zivilisten attackiert.«

»Wir werden den Hund bestimmt bald orten und ihn…«

»Das ist kein verdammter Hund, Sie Idiot!«, blaffte Hans den Colonel an. »Wir haben es hier mit einem speziell gezüchteten Albtraum zu tun! Mit einer Kampfmaschine! Dieses Tier verfügt über genug Kraft und Intelligenz, um ganz von selbst aus Ihrem so genannten ›Hochsicherheitszwinger‹« – sarkastisch malte er Anführungszeichen in die Luft – »ausbrechen und einen bewaffneten Ex-Marine ausschalten zu können, der ihm in die Quere kam!«

Der Colonel kniff wütend die Augen zusammen und knirschte mit den Zähnen, so dass seine Wangenknochen hervortraten, sagte aber nichts.

»Hören Sie«, fuhr Hans ein wenig ruhiger fort, »wenn diese Sache bekannt wird, werden Köpfe rollen – meiner und Ihrer. Wir dürfen keinesfalls riskieren, dass die Öffentlichkeit von unserem Versuchsprogramm erfährt. Und seien wir doch mal ehrlich: Ihre Regierung hat ja bereits bewiesen, dass sie nicht fähig ist, gewisse Dinge unter dem Deckel zu halten, denken Sie nur an Wikileaks.«

»Mr. Reinhardt«, sagte der Colonel mit mühsam unterdrückter Wut, »eins dürfen Sie mir glauben: Ich weiß sehr genau, was auf dem Spiel steht. Daran brauchen Sie mich wirklich nicht zu erinnern. Das hier ist nicht nur eine der üblichen Verdeckten Operationen, sondern eine ›Schwarze Operation‹, und das wird sie auch bleiben. Ich werde persönlich die Säuberung überwachen.« Der Colonel deutete auf einen Abhang in der Nähe. »Dort drüben haben wir Blutspuren gefunden. Wir glauben, dass sie von dem vermissten Tier stammen. Es ist verletzt, und das wird seine Fähigkeit einschränken, uns zu entkommen. Auf dem Boden haben wir die Männer der Wachgesellschaft, in der Luft haben wir unsere Drohnen – das Tier hat keine Chance. Wir werden es finden.«

Hans starrte ihn durchdringend an. »Das will ich Ihnen auch geraten haben.«

* * *

Frank O'Reilly schüttete ein paar Handvoll Splitt in das Zaunpfostenloch, das er gerade ausgehoben hatte. Er warf Johnny, einem Landarbeiter, den er vor kurzem angeheuert hatte, einen Blick über die Schulter zu.

»Vergiss nie, mindestens zehn Zentimeter Splitt oder Kies in das Loch zu schütten und es gut zu verdichten, so wie ich es dir zeige.« Frank rammte den Splitt mit einem großen Holzpfahl fest in das Loch. »Der Splitt verhindert, dass sich das Regenwasser unter dem Holzpfosten staut. Die Zaunpfosten müssen gut und fest in der Erde sitzen. Und sie brauchen auch guten Halt, weil sich das Vieh gern daran reibt. Hast du das kapiert?«

»Klar, hab ich, Mr. O'Reilly. Und die Pfosten müssen immer im Abstand von zwei Meter fünfzig stehen, weil auch die Zaunbohlen so lang sind?«

»Stimmt genau. Pass auf, dass die Pfosten genau senkrecht stehen und immer im selben Abstand.«

Frank reichte Johnny den Erdbohrer. Unwillkürlich musste er grinsen. Der neue Farmarbeiter war grade erst 18 geworden und Frank musste unwillkürlich an Kathy denken, als sie in diesem Alter gewesen war. Johnny war genauso lebhaft und energiegeladen wie Kathy damals. Frank dachte an die Zeit zurück, als sie von der Highschool abgegangen und begierig gewesen war, die große weite Welt dort draußen kennen zu lernen.

Er klopfte Johnny auf die Schulter. »Schaffst du das, Johnny?«

»Klar, Sir, kein Problem. Nehmen Sie's mir nicht übel, dass ich frage, aber warum brauchen Sie jetzt plötzlich noch einen Helfer? Sie haben doch schon genug Farmarbeiter? Gehen Sie in Rente oder was?«

Frank lachte und schüttelte den Kopf. »Johnny, ich bin zwar schon 53, aber ich hab immer noch ein bisschen Leben in mir. Mach deine Arbeit und denke immer dran, was ich dir gesagt habe – dass man jeden Job so gut und sauber wie möglich erledigen muss. Ich werde deine Arbeit genau überprüfen, also lass dir bloß keine faulen Tricks einfallen, verstanden?«

»Bestimmt nicht, Sir. Machen Sie sich deswegen keinen Kopf.« Johnny schulterte den Lochbohrer und ging zum nächsten gekennzeichneten Punkt.

Als Frank sich umdrehte, wäre er beinahe über einen Hund gestolpert, der direkt hinter ihm auf den Hacken saß und zu ihm aufblickte.

»Verdammt, wo kommst denn du her?«

Der braune Labrador saß einfach nur da und ließ die Zunge heraushängen. Ein schönes Tier. Glänzendes Fell, sehr muskulöser Körper und offenbar gut genährt. Ganz sicher kein Streuner.

Frank streckte die Hand aus. »Na, bist du ein guter Hund?«

Der Hund stand auf und wedelte heftig mit dem Schwanz. Er schnupperte an Franks Hand, dann senkte er die Schnauze und schnüffelte an seinen Schuhen und am Saum seiner Jeanshose. Schließlich setzte er sich wieder auf die Hacken, leckte sich die Schnauze und jaulte leise. Mit hellen braunen Augen schaute er zu Frank auf, schaute wieder auf seine Hosenbeine, dann wieder in Franks Gesicht. Und jaulte noch einmal.

Frank legte den Kopf ein wenig schief; er hatte keine Ahnung, was der Hund ihm sagen wollte. Dann kam ihm plötzlich die Erleuchtung und er lachte. »Ah! Jetzt weiß ich, warum du dich so für mich interessierst.« Er zog ein gefaltetes Stück Beef Jerky, das seine Frau gedörrt hatte, aus der Hosentasche und warf es dem Hund hin.

Der Hund schnappte den Trockenfleischstreifen aus der Luft und kaute zufrieden darauf herum.

»Na, ich muss jetzt nach Hause, Kleiner. Ich kriege sonst was zu hören, wenn ich nicht rechtzeitig zum Abendessen zu Hause bin.«

Zu Fuß ging er die rund 800 Meter zu seinem bescheidenen weißen Bauernhaus zurück, das er vor fast 30 Jahren gebaut hatte. Unterwegs hörte er das leise Tappen von Pfoten hinter sich. Na, das hast du jetzt davon, dachte er. Hättest doch wissen müssen, dass man einen fremden Köter nicht füttern sollte! Frank ignorierte das Tier und stieg die Treppe zur Haustür hinauf.

Der Duft von Rinderbraten lag in der Luft.

Megan öffnete ihm die Tür. »Gut, dass du kommst! Das Essen ist fast fertig. Geh dich waschen.«

Er küsste sie flüchtig auf den Mund. »Riecht gut.«

Sie blickte verwundert an ihm vorbei. »Hast du einen neuen Freund?«

Der Labrador saß aufmerksam vor der untersten Stufe und blickte hoffnungsvoll zu ihnen hinauf.

Frank schüttelte den Kopf. »Ich hab einen Fehler gemacht – habe ihm ein Stück Trockenfleisch zugeworfen.«

Megan schob ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar hinter die Ohren, bückte sich und klopfte leicht auf die Holzplanken des Podests vor der Haustür. »Hallo, Junge, hat dir das Fleisch geschmeckt?«

Der Hund sprang mit zwei Sätzen die Treppe hinauf und legte sich vor sie hin, wobei er sich auf den Rücken drehte und eifrig mit dem langen Schwanz über die Holzplanken fegte.

Megan kicherte und kraulte ihm den Bauch. »Du bist ja ein guter Junge.« Sie blickte mit dem verlegenen Lächeln, das Frank so gut kannte, zu ihm auf. »Was meinst du, gehört er jemandem?«

»Keine Ahnung. Er kam nur einfach zu mir. Scheint kein Streuner zu sein, so gepflegt, wie er aussieht, aber er trägt kein Halsband und keine Marke.« Frank zögerte. »Ich dachte, nachdem Daisy gestorben war, dass du dir geschworen hast, nie mehr…«

»Ach du armes Ding!«, rief Megan aus, als sie die Wunde am rechten Vorderbein entdeckte. »Sieht so aus, als sei er in einen Kampf geraten oder so.«

Der Hund winselte leise, als sie die Wunde näher untersuchte.

»Ist nicht schlimm. Lass ihn laufen«, sagte Frank.

»Kommt nicht in Frage.« Megan stand auf und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Wir bringen ihn zum Tierarzt. Der soll sich das mal anschauen.«

Frank fluchte in sich hinein. Er ahnte bereits, wie die Sache ausgehen würde: Der Tierarzt würde ihm eine hübsche Rechnung präsentieren. »Aber der Köter gehört uns doch gar nicht!«, protestierte er.

Megan drehte sich zu ihm um und bedachte ihn mit einem Blick, der ihm unmissverständlich klar machte, dass sie darüber nicht mehr diskutieren wolle. »Der Tierarzt kann dann gleich noch nach einem dieser Chips suchen, die sie heutzutage den Hunden einpflanzen.«

Megan war knapp über 1,50 Meter groß und hatte eine feenhafte Figur, aber wenn sie erst einmal einen Beschluss gefasst hatte, war sie durch nichts davon abzubringen. Nach 30 Jahren Ehe hatte Frank das längst begriffen.

Ergeben hob er beide Hände. »Und was ist mit dem Abendessen?«

»Das schmeckt dir auch in einer Stunde noch gut.« Megan ging ins Haus zurück und winkte dem Hund, ihr zu folgen, was er auch sofort tat. »Ich glaube, wir haben noch Daisys Wassernapf. Er ist bestimmt durstig. Du kannst inzwischen den Tierarzt anrufen und ihm sagen, dass wir unterwegs sind.«

* * *

Eine Sprechstundenhilfe mit langem rotbraunem Pferdeschwanz öffnete die Tür des Wartezimmers und rief: »O'Reilly?«

Frank hob die Hand. »Das sind wir.«

Ihr Blick wanderte zu dem braunen Labrador, der zwischen Megans und Franks Füßen lag. »Und wie heißt du, Süßer?«

»Er hat noch keinen…«

»Jasper«, verkündete Megan, als hätte sie selbst den Hund auf den Namen getauft.

Frank stöhnte innerlich. Er konnte nur hoffen, dass sie den Hund nicht schon ins Herz geschlossen hatte. Dieses Tier gehörte sicherlich jemandem. Ein Streuner würde ganz bestimmt nicht so gesund und gut genährt aussehen.

»Na, dann wollen wir dich mal wiegen und untersuchen.«

Megan stand auf und »Jasper« tat es ihr sofort nach. Gehorsam trottete er hinter ihr her ins Untersuchungszimmer. Frank schüttelte den Kopf und folgte ihnen resigniert.

Die Sprechstundenhilfe – »Sherri« war auf ihrem Schlupfkasack aufgestickt – blieb neben einer großen Metallwaage stehen. »Mal sehen, ob wir Jasper überreden können, auf die Waage zu steigen.«

Aber bevor Megan den Hund auch nur dazu auffordern konnte, stieg Jasper auf die Waage.

»Ha! Was für ein braver Junge«, staunte Sherri. »Wow – 57,6 Kilo. Das hätte ich nicht gedacht.« Sie trug Jaspers Gewicht auf einem Formular ein und schob es in seine Patientenfaltkarte.

»Haben Sie einen Chip-Scanner?«, erkundigte sich Frank, wobei er Megans wütenden Blick ignorierte. »Jasper ist uns nämlich erst heute zugelaufen und hat weder ein Halsband noch eine Hundemarke. Vielleicht sucht jemand in unserer Gegend einen weggelaufenen Labrador. Wir wollen alles richtig machen und möchten deshalb wissen, ob ihm ein Chip eingepflanzt wurde oder nicht.«

»Ach so, ja, natürlich. Bin gleich wieder da.« Sherri verschwand in einem anderen Raum, während Megan liebevoll Jaspers Kopf tätschelte. Kurz darauf kehrte Sherri mit einem Stab zurück, an dessen Ende eine kleine Schleife angebracht war.

Sie fuhr mit dem Gerät über Jaspers Rücken. »Hmm. Die meisten Tierärzte implantieren den Chip zwischen den Schulterblättern, aber hier finde ich nichts. Schauen wir mal, ob du den Chip woanders hast, Jasper.« Sie setzte die Suche fort, aber als sich das Gerät der Wunde näherte, jaulte Jasper leise auf.

»Alles okay, Jasper«, beruhigte ihn Megan. »Sie tut dir nichts.«

Über der verkrusteten Wunde am Bein hielt Sherri inne. »Armer Kleiner, das tut dir bestimmt weh. Dr. Dew wird dich heilen.« Nachdem sie Jasper gründlich gescannt hatte, schüttelte sie den Kopf. »Nein, kein Chip.«

Frank musste seine Frau gar nicht anschauen, er wusste auch so, dass sie erleichtert lächelte. Er selbst war keineswegs erleichtert. Er seufzte, als ihm klar wurde, dass Megan gerade einen zugelaufenen Hund adoptiert hatte. »Na gut«, seufzte er, »in diesem Fall sollten wir nicht nur Jaspers Wunde versorgen lassen, sondern ihn auch gleich gründlich untersuchen. Ich will nicht, dass er irgendwelche Krankheiten in unsere Farm einschleppt.«

»Okay. Dr. Dew wird sich gleich um Jasper kümmern. Die Wunde an der rechten Vorderpfote ist ziemlich tief, es kann sein, dass wir das Bein röntgen müssen. Und für die Behandlung wird er vielleicht eine Betäubung brauchen. Alles zusammen wird mindestens vierhundert Dollar kosten«, sagte Sherri und schaute Frank und Megan fragend an.

»Ja, machen Sie das«, sagte Megan schnell. »Wenn der Arzt sagt, dass das nötig ist, dann zahlen wir das.«

Frank seufzte noch einmal und küsste Megan auf das Haar. Bei solchen Dingen duldete Mrs. O'Reilly keinen Widerspruch.

* * *

Frank und Megan saßen fast eine Stunde lang im Wartezimmer, wobei Megan kaum still sitzen konnte. Als der Tierarzt schließlich hereinkam – ohne Jasper –, griff Megan nach Franks Hand und drückte sie fest.

Der Tierarzt war ein riesiger Mann mit der Figur eines Bodybuilders, aber seine Stimme war überraschend sanft, fast weiblich. Er lächelte die O'Reillys freundlich an. »Jasper wacht in ungefähr zwanzig Minuten wieder auf, aber es ist alles in Ordnung. Anscheinend ist er in einen Kampf verwickelt worden und die Wunde hat sich entzündet. Wir haben das Bein geröntgt, glücklicherweise hat er sich nichts gebrochen. Aber auf dem Röntgenbild habe ich noch etwas anderes gefunden – ohne Röntgen hätte ich es nicht entdeckt.«

Er zog einen durchsichtigen Plastikbeutel aus dem Arztkittel und gab ihn Frank. In dem Beutel befand sich ein etwa zehn Zentimeter langes, dünnes Drahtstück. Der Arzt legte den Beutel auf seinen weißen Kittelärmel, so dass sie den Draht besser sehen konnten. »Der Draht steckte zwischen Haut und Muskeln, direkt oberhalb der Wunde. Ich habe keine Ahnung, wie er dort hinein geraten sein konnte, aber heraus kam er jedenfalls ohne Probleme.«

»Aber sonst… geht es Jasper gut?«, fragte Megan besorgt.

Lächelnd sagte der Arzt: »Er wird noch ein paar Tage lang ein wenig hinken, aber sonst ist alles in Ordnung. Wir haben die Wunde vernäht. Ich verschreibe ein Antibiotikum, das er zweimal täglich einnehmen muss, und gebe Ihnen auch eine Salbe mit, die Sie jeden Tag auf die Wunde auftragen sollten.«

Aus dem Untersuchungszimmer war plötzlich lautes Gebell zu hören, kurz darauf flog die Tür auf und Jasper kam in das Wartezimmer gesprungen. Sein Vorderbein war dick mit Mullbinden umwickelt und er konnte nicht voll auf das Bein auftreten. Trotzdem raste er sofort zu Megan hinüber und tobte voller Begeisterung um sie herum, als hätte er nicht damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen.

Sherri kam hinterher gerannt. »Tut mir leid, Dr. Dew, aber Jasper ist viel früher aufgewacht, als wir angenommen hatten, und fing sofort an, wie wild an der Tür zu kratzen. Ich wollte nicht, dass die Nähte wieder aufplatzen. Scheint so, dass er unbedingt wieder zu seiner Mummy wollte.«

Stolz lächelnd kraulte Megan Jaspers Kopf. Frank verdrehte die Augen. Kein Zweifel, diese beiden hatten sich gefunden.

»Na, wir wollen natürlich nicht, dass Jasper unsere Türen aufbricht«, sagte Dr. Dew lachend. »Ich glaube nicht, dass ich jemals einen so schweren gesunden Labrador gesehen habe, nicht mal annähend. Das ist seltsam, denn seinem Aussehen nach hätte ich ihn höchstens auf 36 oder 37 Kilo geschätzt, aber er scheint eine unglaublich dichte Muskulatur zu haben. Und nach seinem Gebiss zu urteilen, ist er noch jung. Kann gut sein, dass er noch ein wenig wächst.«

Frank stöhnte. »Ich werde schon müde, wenn ich nur daran denke, wieviel ich arbeiten muss, um diesen Burschen durchzufüttern.«

Jasper lief zu einem der Stühle, unter dem eine Hundedecke lag, schleppte sie zu Frank hinüber und legte sie ihm auf den Schoß.

Megan lachte. »Wow! Er hat gehört, dass du müde bist, und bringt dir eine Schlafdecke.«

Dr. Dew tätschelte Jaspers Kopf. »Du scheinst ein wirklich cleverer Bursche zu sein.«

Jasper setzte sich aufrecht und bellte zustimmend.

Frank wurde das mulmige Gefühl nicht los, dass mit diesem Hund irgendetwas nicht stimmte. Aber als er sah, wie liebevoll Megan das fremde Tier bemutterte, wurde ihm klar, dass seine Bedenken von jetzt an keine Rolle mehr spielen würden.