Unter Schmerzen kletterte Isa aus dem Bulli.
Schlotternd stand sie im Regen, während sie sich ängstlich umblickte.
Der Parkplatz, der Görlitzer Park, die ganze Gegend lag still in der Nacht.
Der Hippie sah sie fragend an. »Alles gut?«
Gar nichts ist gut. Stattdessen sagte sie: »Danke.«
Er zuckte mit den Achseln und öffnete die Beifahrertür. »Steig ein.«
Irritiert sah sie ihn an.
»Oder«, er musterte sie von Kopf bis Fuß, »willst du so hier im Regen stehenbleiben?«
Sie schluckte.
»Außerdem können diese Typen jeden Augenblick zurückkommen.«
Erneut ging ein Frösteln durch ihren erschöpften, gepeinigten Körper.
»Oder weißt du, wo du Unterschlupf findest?«
Sie deutete ein Kopfschütteln an.
Der Hippie nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Na los, fahren wir.«
»Wohin?«
»Egal, Hauptsache erstmal weg.«
Womit er nicht Unrecht hatte.
Kaum war Isa auf den Beifahrersitz geklettert, schlug er die Tür zu, umrundete den Bulli, klemmte sich hinters Steuer und startete den Motor, was einige Anläufe und einen knatternden Auspuff brauchte.
Während er vom Parkplatz auf die Wiener Straße tuckerte, drehte er die Wagenheizung auf.
Dann griff er in eine der Pappkisten hinter sich. »Hier«, er zog ein Handtuch hervor, »ich glaube, das kannst du gebrauchen.«
Das Tuch war löchrig und bereits benutzt, aber es war trocken. Und das war für den Moment das Wichtigste.
Dankbar rubbelte sich Isa das Haar ab und wischte sich übers Gesicht, dabei bemerkte sie die blutige Wunde an ihrer Hand.
»Hinten findest du Pflaster«, sagte der Hippie. »Klamotten, auch ein paar Schuhe.«
Unschlüssig linste Isa zur Rückbank.
»Nur keine falsche Scheu.« Er grinste. »Oder willst du dir ’nen Schnupfen holen?«
Fast hätte sie gelacht. Sie hatte weiß Gott andere Probleme als eine Erkältung. Aber sie war durchnässt bis auf die Haut, ihr war kalt, trotz der Heizung zitterte sie wie Espenlaub.
Also kraxelte sie vom Beifahrersitz nach hinten, fand in der Küchenschublade ein Pflaster, wühlte sich danach durch die Pappkiste voller Kleider.
Sie fand ein Paar weißer, abgelatschter Espadrilles, wählte eine Schlaghose und ein Hawaiihemd, beides um einiges zu groß, aber auch das war ihr egal.
Sogar dass sie sich vor den Augen des Hippies umziehen musste.
Andererseits hatte er sie in den nassen Klamotten eh schon halbnackt gesehen, und sie hatte nicht das Gefühl, dass es ihn sonderlich interessiert hätte.
Auch jetzt blickte er konzentriert nach vorne auf die Straße.
»Falls du was trinken möchtest«, aus der Mittelkonsole brachte er eine Thermoskanne zum Vorschein, »ich habe vorhin Tee aufgesetzt.«
Tatsächlich hatte sie Durst und leerte die Kanne in zwei Zügen.
»Möchtest du auch was essen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Siehst aber aus, als könntest du einen Happen vertragen. Schau mal neben das Bett, da liegt eine Tüte mit Gebäck.«
Erneut wollte sie abwehren, aber dann fiel ihr Blick auf die knusprigen Plunderteilchen, und ihr wurde klar, dass sie seit gestern kaum etwas gegessen hatte.
Plötzlich verspürte sie doch Hunger.
Sie nahm sich ein Teilchen und biss hinein. Es schmeckte so knusprig wie es aussah, süß und wunderbar lecker.
»Also«, hörte sie den Hippie sagen, während sie in der Dunkelheit seinen Blick im Rückspiegel spürte, »Polizei?«
Sie hatte schon die ganze Zeit auf die Frage gewartet. »Nein, das ... das kann nicht die Polizei gewesen sein.«
»Die beiden Männer hatten Dienstausweise.«
»Vielleicht ... gefälscht?«
»Sahen mir nicht danach aus.«
»Das ist unmöglich!«
»Warum?«
Während Isa das letzte Stück des Teilchens verzehrte, suchte sie nach einer Antwort, aber ihr fiel keine ein.
Das alles ergab keinen Sinn.
Weil sie noch immer Hunger hatte, nahm sie sich ein zweites Teilchen und biss hinein.
Unterdessen lenkte der Hippie den Bulli durch die Dunkelheit und den Regen, den das Scheinwerferlicht kaum zu durchdringen vermochte.
Er fragte nicht weiter nach, wofür Isa ihm dankbar war.
»Wo lebst du?«, hörte sie sich fragen.
Er zuckte mit den Achseln. »Mal hier, mal da.«
»Das heißt?«
»Gemeldet bin ich in Bielefeld ... warst du schon mal dort?«
»Nein.«
»Hast nichts verpasst.«
»Und wohin willst du?«
»Eigentlich wollte ich diese Nacht noch zu einem Trip nach Prag aufbrechen.«
Sie schwieg, plötzlich wieder voller Unbehagen.
»Aber das kann ich ja morgen auch noch«, fügte er hinzu.
Was sie beruhigte.
Er schien es ihr anzumerken. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos streiften ihn, und Isa sah ihn lächeln. »Fritz«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Ich heiße Fritz. Fischers Fritze.«
»Was?«
»Eigentlich Friedrich. Friedrich Fischer. Weiß der Geier, was sich meine Eltern dabei gedacht haben.«
»Wobei?«
»Friedrich! War doch klar, dass mich jeder Fritz nennt. Fischers Fritze.« Er lachte auf. »Und bevor du mich jetzt fragst, ja, früher war ich auf hoher See.«
Er schien ihr die Irritation anzumerken.
»Na«, fügte er hinzu, »von wegen: Fischers Fritze fischt frische Fische.«
»Echt jetzt?«
»Nein«, er lachte, »war nur ein Scherz.«
Sie konnte nicht anders, sie lächelte und griff nach einem weiteren Teilchen.
»Und du?«, hörte sie ihn fragen.
»Was ist mit mir?«
»Wie heißt du?«
»Isa. Also, Isabell.«
»Ah, Elisabeth.«
»Nein, Isabell.«
»Ja, das ist eine Abwandlung von Elisabeth und ...«, er dachte kurz nach, »Gott ist Glück.«
»Wie bitte?«
»Das bedeutet Isabell.«
»Nicht wirklich?«
»Wusstest du das nicht?«
»Nein.« Und wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich alles andere als im Glück, nicht erst seit Kurzem.
»Sieh’s als gutes Zeichen«, sagte Fritz, als wisse er um ihre Gedanken.
Unterdessen wich die Stadt vor immer mehr Feldern zurück.
Isa streckte sich auf dem Bett aus.
Sieh’s als gutes Zeichen.
Eine angenehme Vorstellung.
Weniger angenehm allerdings war es, als ihr klar wurde, dass sie sein gesamtes Gebäck vertilgt hatte.
Fritz lachte, als er ihren schuldbewussten Blick bemerkte. »Ist schon okay.«
»Und was bedeutet Fritz, also ... Friedrich?«, wich sie aus.
Die Ampel sprang auf Grün. Fritz fuhr wieder an. »Das war lange Zeit einer der häufigsten männlichen Vornamen.«
»Aha.«
»Und er bedeutet ... der Friedensreiche. Oder der mächtige Beschützter.«
Sie sah ihn skeptisch an.
»Keine Lüge!«
»Was irgendwie passt«, stellte sie fest.
Er zuckte mit den Schultern. »Kann man so sagen.«
Vor ihnen tauchte ein Straßenschild auf, das in Richtung Schönefeld und A113 wies.
»Wohin fahren wir?«, fragte Isa.
»Keine Ahnung«, erwiderte Fritz, »wie gesagt, einfach nur weg.«
Zu ihrer Überraschung genügte ihr die Antwort. Es genügte ihr, dass sie nicht stillstanden, dadurch keinerlei Gefahr ausgesetzt waren.
Einfach nur weg.
Irgendwann tauchte die Autobahnauffahrt vor ihnen auf. Am Horizont glommen die Lichter des BER. In der Dunkelheit über ihnen zog blinkend ein Flugzeug hinweg.
Das Rauschen der Räder auf dem nassen Asphalt, das Auspuffknattern, selbst das Geplauder über Namen und ihre Bedeutung hatte etwas Beruhigendes.
Isa fragte: »Bist du Sprachforscher oder so?«
»Ich sehe mich eher als ein ... Weltreisender.«
»Arbeitest du nicht?«
»Nicht mehr. Ich war mal Lehrer.«
Sie verzog das Gesicht.
Er lachte auf. »So hab ich früher auch gedacht.«
»Trotzdem bist du Lehrer geworden.«
»Irgendwie hat sichs so ergeben. Und irgendwann war’s okay, es war ein Job, ich hab Geld verdient, dabei etwas Gutes getan.«
»Als Lehrer?«
»Wissen vermitteln, Kinder auf das Leben vorbereiten.«
Isa glaubte Wehmut in seinen Worten zu hören. »Du klingst nicht überzeugt.«
»Na gut«, Fritz schnaubte, »vielleicht hab ich’s mir eingeredet.«
»Deshalb hast du aufgehört?«
»Vermutlich säße ich heute immer noch in der Mühle, aber dann starb mein Vater. Den ich kaum gesehen habe. Als ich zwei war, hatte er sich von meiner Mutter getrennt, wegen einer anderen Frau.«
»Scheiße!«
»Ach was, ich hatte ihn kaum kennengelernt, konnte ihn also auch nicht vermissen. Aber als er starb, hinterließ er mir ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Hatte wohl ein schlechtes Gewissen.«
»Und du hast deinen Job aufgegeben.«
»Sofort! Hättest du das nicht gemacht?«
Sie überlegte. Dann nickte sie. Vermutlich würde sie das gleiche tun. Ihre Taschen packen, ins Flugzeug steigen und –
»Nie mehr wiederkommen«, sagte er.
Sie schwieg.
»Das hast du doch gerade gedacht, oder?« Er lachte. »Ich auch. Ich hab mir den Bulli gekauft und bin losgefahren. Einfach der Nase nach.«
Sein Lachen war ansteckend, das Geplauder entspannte sie. Dass sie gesättigt und nicht mehr durstig war, ließ sie sich noch besser fühlen.
Lächelnd schloss sie die Augen. Nur kurz.