VIERUNDFÜNFZIG

Plötzlich wollte Sydow alles erzählen.

»Vor drei Monaten«, hörte er sich sagen, »wir ermittelten gerade in einem Fall von Kindstötung, und das bedeutet Überstunden, Abgründe, das zehrt an den Kräften.«

»Ja«, bestätigte Nicki, »kann ich mir denken.«

»Dann kam die spontane Geburtstagsparty von Tom, einem Kollegen. Eigentlich wollte ich gar nicht hin, aber dann ... dann habe ich mich überreden lassen. Bei allen lagen die Nerven blank, alle tranken zu viel, ich trank zu viel.«

»Könnt ich jetzt auch gerade.«

»Wie auch immer, ich war müde, genervt, zornig, und ich suchte ... keine Ahnung ... wahrscheinlich ein Ventil. Und dann war da ...«, Sydow zögerte, »... Catja.«

»Catja?«

»Damals noch Kommissarsanwärterin.«

»Du hast ...« Nicki schüttelte bestürzt den Kopf. »Du hast mit ihr ... Nicht wirklich, oder?«

Sydow trank noch einen Schluck Kaffee. »Wie gesagt, ich war nicht mehr Herr meiner Selbst, hatte die Zeit – und nicht nur die – aus den Augen verloren. Denn Nina sollte mich an jenem Abend abholen. Tat sie auch. Sie kam rein, suchte mich und ...«

»Scheiße!«

Damit war alles gesagt. Sydow beließ es bei einem grimmigen Kopfnicken.

»Deshalb ist sie weg?«, fragte Nicki.

»Sie setzte sich in ihren alten VW Käfer und fuhr davon.«

»Und ...«

»... man fand ihren Wagen ein paar Straßen weiter. Offenbar war sie damit gegen einen Laternenmast geprallt. Von ihr selbst fehlte jede Spur. Bis heute.«

»Das verstehe ich nicht.«

And all the ones that love me, sang Ed Sheeran, they just left me on the shelf.

»Max«, sagte Nicki, »verdammt, warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?«

Du hast nie ein Wort darüber verloren.

Sydow hatte mit niemandem darüber gesprochen, weil er es weder wollte noch konnte. Weil es ohnehin keiner verstand. Er begriff es ja selbst kaum.

Manche Taten geschehen einfach so.

Jetzt fragte er sich, was er sich davon erhofft hatte, es seinem alten Kumpel zu erzählen. Als ob der ihm helfen könne. Nicki hatte ganz offensichtlich eigene Probleme.

Sydow schob die Tasse beiseite. »Also, weshalb hast du angerufen?«

Verwundert über den abrupten Themenwechsel sah Nicki ihn an.

»Du sagtest, es ist dringend.«

Nicki leckte sich die Lippen, dann griff er in den Rucksack, kramte einen rostroten Umschlag hervor, der in der Mitte mit einer braunen, kunstvoll geschwungenen Feder, in den vier Ecken mit kleinen, ebensolchen Federn geschmückt war. »Ich hab da was. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden kann. Verdammt, kannst du der Sache nachgehen?«

»Was ist das?«

»Es ist wichtig.«

»Nicki ...«

»Schon gut, also ...«, Nicki hielt inne, schien mit sich zu ringen, »ich muss kurz ausholen. Mariella und ich betreiben seit einiger Zeit die Privatdetektei Rossi & Jäger. Schau nicht so! Es war eine dieser spontanen Ideen bei zu viel Wein.« Er grinste schief. »Nicht nur du trinkst manchmal zu viel.«

Wütend funkelte Sydow ihn an.

»Entschuldige, das ... das war dumm von mir.«

Jetzt bereute Sydow, ihm davon erzählt zu haben.

»Also«, beeilte sich Nicki zu sagen, »wie auch immer, es klang spannend, ein neues Abenteuer, wir haben uns da aber dann tatsächlich reingefuchst.«

»Und?«

»Ja, und jetzt waren wir an einem Fall in Lindau am Bodensee dran. In einer Villa in Bad Schachen sollten angeblich widerrechtliche Bestattungen mit einem Resomator stattfinden. Du weißt schon: Kalilauge und so.«

»Verstehe«, sagte Sydow, verstand aber kein Wort.

»Unsere Hinweise haben sich immer weiter verdichtet, weil eine Firma in der Nähe große Mengen Kaliumhydroxid an die Villa liefert. Und dann hatten wir noch paar andere Hinweise. Und dann ... sind wir da eingestiegen.«

Sydow traute seinen Ohren nicht. »Ihr seid eingebrochen?«

»Ja, aber warte!« Nicki beugte sich weiter zu ihm vor. Trotz der lauten Musik senkte er seine Stimme: »Wir fanden einen Keller unterm Keller. Mit Geheimtür und Pipapo. Und da unten sieht’s verdammt nach einer Mörderbutze aus.«

»Mörderbutze?«

»Ja, verdammt! Wir fanden einen Torso in einem Tank! Und den Resomator, der gerade eine Frau auflöste.«

»Warum habt ihr euch nicht da unten an die Polizei gewandt?«

»Warte, es geht noch weiter.«

Sydow war nicht sicher, ob er noch mehr hören wollte.

»Wir sind bei der ... der Recherche aufgeflogen. Es waren drei Typen. Die haben sofort auf uns geschossen.«

»Noch ein Grund zur Polizei zu gehen.«

»Die schossen auf uns, Max! Wir konnten mit knapper Müh und Not entkommen – nur dabei hat Mariella einen der Typen in Notwehr ... erschossen.«

Sydow wollte etwas sagen, ließ es dann aber bleiben.

»Das war Samstagnacht«, fuhr Nicki fort. »Am Sonntag war dann in den Nachrichten, dass Einbrecher bei einem vereitelten Einbruchsversuch einen Polizisten erschossen hätten.«

»Ihr habt einen Polizisten erschossen?«

»Hörst du, Max! Die bringen in dem Keller Leute um, lösen sie in Lauge auf, und die Polizei steckt mit drin! Wir sind erstmal untergetaucht. Wir wussten nicht mehr, an wen wir uns wenden sollten!«

»Einen Polizisten!«

»Verdammt, in Notwehr! Aber ... ich sagte doch, die stecken mit drin in der Sache. Außerdem wollten die uns umbringen und auch in ihrem beschissenen Tank auflösen!«

Sydow ließ einige Sekunden verstreichen, in denen er sich Nickis Worte durch den Kopf gehen ließ. Unterdessen kreiste sein Blick durch das Café.

Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen.

My farewell, so before I save someone else, I’ve got to save myself.

Inzwischen war er froh, dass die Musik so laut plärrte. »Seitdem seid ihr untergetaucht?«

»Klar! Wenn die uns finden, bringen die uns doch um! Deswegen brauch ich ja auch deine Hilfe!«

Sydow betrachtete den rostroten Umschlag. »Und was ist hier drin?«

»Ach so, genau, ja ... wir fanden im Keller unter anderem auch eine Akte zu einem Alexander Graf, dreiunddreißig, wohnhaft in Frankfurt im Grand Tower. Mit in der Mappe lagen Zeitungsartikel über einen ungeklärten Mord am Bodensee vom Frühjahr. Ich hab dem Herrn Graf gestern einen Besuch abgestattet. Irgendwas stimmt definitiv mit dem Kerl nicht. Er glaubte, ich würde ihn erpressen. Als er dann begriff, dass ich nicht der Erpresser bin, zog er Leine. Aber da läuft was. Möglicherweise ein Zusammenhang zu Lindau.«

»Irgendwelche Beweise?«

»Nein. Nur die Akte. Und das Bauchgefühl.«

Sydow öffnete den Umschlag, warf einen Blick hinein.

Die Akte zum erwähnten Alexander Graf war wie von Nicki geschildert: Dreiunddreißig Jahre, wohnhaft in Frankfurt, ein erfolgreicher Market Analytics Manager bei einem Pharma-Unternehmen, ledig, keine Kinder, stattdessen teure Anzüge, Uhren, Wagen, eine luxuriöse Eigentumswohnung.

Die Angaben umfassten außerdem Grafs familiäres Umfeld; die Mutter war bei der Geburt gestorben, der Vater ein renommierter Anwalt, Grafs Zwillingsschwester Annabelle ebenfalls Anwältin und hoch angesehen.

Von jener Sorte Erfolgsmenschen lebten in der Bankenmetropole vermutlich unzählige, insofern gab es nichts, was außergewöhnlich war an den Unterlagen.

Weniger angenehm dagegen waren die beigelegten Zeitungsausschnitte zu einem ungeklärten Mord an einer jungen Frau am Bodensee.

Ob eine Verbindung zwischen Graf und dem Mord bestand, ging aus der Akte allerdings nicht hervor.

Sydow klappte sie zu. »Was erwartest du von mir?«

»Na, was wohl? Check diesen Graf. Und finde heraus, was da in der Villa passiert. Das ist was ganz Großes, Furchtbares.«

»Wie stellst du dir das vor?«

»Du bist Polizist!«

Der gerade einen eigenen, verzwickten Mordfall zu lösen hat.

Sydows Handy vibrierte. Eine WhatsApp-Nachricht traf ein.

Unbekannte Nummer. Er ignorierte sie. »Nicki ...«

»Bitte, du musst uns helfen!«

Sydow schwieg.

»Wer denn sonst? Du bist der einzige Bulle, dem ich noch vertraue.«

My farewell, so before I save someone else, I’ve got to save myself.

Zähneknirschend willigte Sydow ein. »Okay, ich schau’s mir an.«

»Danke!«

»Wo seid ihr untergekommen?«

»In unserem Wohnmobil.«

»Wie kann ich euch erreichen?«

»Nutz am besten diese Nummer.« Nicki schob ein Kärtchen mit einer mit Bleistift notierten Handynummer über den Tisch und lächelte schief. »Prepaidhandy. Für alle Fälle.«

Sydow nahm die Karte an sich, griff nach der Akte. Er schüttelte den Kopf. »Ist da sonst noch etwas, das ich wissen muss?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Das ist alles, Max, ehrlich!«

»Warum habe ich das Gefühl, dass du nicht die ganze Wahrheit sagst?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich hast du zu oft mit Lügnern zu tun.«

Seufzend leerte Sydow seine Tasse. Der Kaffee war längst kalt. »Ich melde mich.« Dann eilte er ins Freie, über die Straße, hinauf ins Büro.

Er setzte sich an den Schreibtisch, legte die Akte vor sich hin, zückte sein Handy, um nach Nicki, Mariella, deren Privatdetektei, nach einer Schießerei am Bodensee, einem toten Polizisten und anderen, etwaigen Morden zu googeln. Dabei bemerkte er die WhatsApp-Nachricht, die vorhin eingetroffen war.

Er klickte sie an. Sie enthielt ein Foto.

Sydows Kehle schnürte sich zu.

Das Bild zeigte Melissa. Vor ihrer Schule. In unmittelbarer Nähe.