ZWEIUNDVIERZIG

Als Sydow Tempelhof erreichte, hatte er sich wieder gefasst.

Ich ziehe aus.

So sehr Melissas Entscheidung ihn erschütterte, er hätte wissen müssen, dass sie sie früher oder später traf, und zwar nicht nur, weil sie bald siebzehn Jahre alt war.

Vermutlich war es der einzig richtige Schritt.

Fragt sich bloß: für wen?

Am Platz der Luftbrücke geriet der Verkehr wegen eines Unfalls ins Stocken.

Noch immer regnete es wie aus Kübeln. Das dichte, graue Wolkenfeld ließ keinen Zweifel, dass sich daran so rasch nichts ändern würde.

Unterdessen begannen im Autoradio die Nachrichten.

Der Berliner Senat plante eine Migranten-Quote. In Tempelhof hatte es offenbar einen Doppelmord gegeben. Angebliche Opfer waren der dreijährige Lukas Löschner und –

Sydow schaltete das Radio ab.

Wenn davon erst einmal die Presse erfährt.

Prompt kehrte das Unbehagen zurück, wegen der Nachrichten, aber auch weil er in die Kreuzbergstraße bog und Catja sah.

Sie stand unter einem Regenschirm vor einem unsanierten Altbau.

Ich weiß, was du getan hast.

Er verdrängte den Gedanken, parkte den Wagen und eilte durch den Regen auf seine Kollegin zu. »Was ist los?«

»Isa ist verschwunden.«

»Hast du sie auf dem Handy angerufen?«

»Es klingelt, aber sie geht nicht ran.«

Sydows Blick ging die Straße hinauf und hinunter.

Autos und Lkws rauschten vorbei, spritzten das Wasser aus Pfützen auf. Passanten waren kaum unterwegs.

Er fragte: »Wo sind die Beamten, die ich zu ihrem Schutz abgestellt habe?«

»Nicht da.«

»Seit wann?«

»Keine Ahnung. Die waren schon weg, als ich gekommen bin.« Catja erklomm die Stufen zur Haustür, wo sie ihren Regenschirm schloss und abschüttelte. »Das hat mich ja so verwundert. Deshalb bin ich ins Haus, wo ich die Wohnungstür aufgebrochen vorgefunden habe.«

»Bist du in der Wohnung gewesen?«

»Äh, ja.«

»Alleine?«

»Hättest du dir keine Sorgen gemacht?«

Ich mache mir immer noch Sorgen. Sydow blieb die Antwort schuldig, betrat stattdessen das Haus.

Knarzende Treppenstufen, die mit einem abgetretenen Sisalläufer überzogen waren, führten zu den drei Wohnungen der ersten Etage – eine rechts, eine links, der Rahmen der mittleren Tür war auf Höhe des Schlosses gesplittert.

Sydow streifte sich Einweghandschuhe über, dann schob er die Tür auf.

Im fahlen Korridorlicht erkannte er einen kleinen Schuhschrank, neben dem sich etliche Sneakers türmten. An der Garderobe hingen Jacken, eine Handtasche, zwei Regenschirme.

Rechts ging ein Schlafzimmer ab, zweifellos das der Mutter.

Gegenüber befand sich Isas Zimmer, ungleich kleiner, vollgestopft mit einem Bett, darauf zerwühlte Bettwäsche mit grellbuntem Graffiti-Druck, einem Kleiderschrank, dessen Inhalt sich am Boden verteilte – Shirts, Hosen, Röcke, Strümpfe, eine Schachtel mit Ohrringen.

Prompt hatte Sydow wieder seine eigene Tochter vor Augen, inmitten ihres chaotischen Zimmers.

Ich werde ausziehen.

Er rief sich zur Ordnung, während er ins Wohnzimmer lief, wo die Balkontür sperrangelweit offenstand.

»Vielleicht konnte Isa entkommen«, sagte Catja.

Sydow trat ins Freie. Unter einem der Blumenkästen entdeckte er einen Blutfleck.

»Hoffentlich«, sagte er und spähte über die Brüstung. Es waren knapp zweieinhalb Meter hinunter bis zur Terrasse. »Kannst du sie noch einmal anrufen?«

»Äh ...«

»Bitte!«

Catja tat wie ihr geheißen.

Gleich darauf erschallte von unten ein Telefonklingeln.

Aus dem Blumenbeet ragte zwischen welken Chrysanthemen ein Handy in schwarzer Schutzhülle heraus.

Catja lief zurück ins Treppenhaus, nur wenig später überquerte sie die Terrasse und steckte das Telefon in einen Plastikbeutel.

»Mehrere Anrufe sind heute eingegangen«, sagte sie, nachdem sie zu Sydow zurückgekehrt war. »Allesamt von einem gewissen Sam. Zuvor hat er ihr drei WhatsApp-Nachrichten geschickt.«

Sydow warf einen Blick aufs Display.

Ist alles gut bei dir? Oder hat deine Mutter wieder rumgemeckert?, lautete die letzte, eingegangen vor einer halben Stunde.

Vor einer Stunde: Ich kann vorbeikommen, muss deine Mutter ja nicht mitbekommen. ;-)

Dreißig Minuten davor: Wie geht es dir? Besser? Wollen wir uns treffen?

Ein Geräusch ließ Sydow herumfahren.

»Hey, was machen Sie denn hier?« Isas Mutter trat ins Wohnzimmer. Das nasse Haar klebte ihr am Kopf. »Waren Sie das mit der Wohnungstür?«

»Ist Isa bei Ihnen?«, fragte Catja.

»Nein, wieso fragen Sie? Ist sie denn nicht hier?«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Wo ist sie? Ist das da Isas Handy?«

»Wo sind Sie gewesen?«

»Bei der Arbeit, ich ...«

»Sie haben Isa die Nacht über alleine gelassen?«

»Ich musste zur Arbeit. Außerdem wollte sie doch alleine sein.«

Sydow grummelte. »Und da dachten Sie sich ...«

»Frau Beckmann«, schnitt Catja ihm das Wort ab, »wann haben Sie die Wohnung gestern Abend verlassen?«

Isas Mutter löste den zornigen Blick von Sydow. »So um zehn, halb elf.«

»Sind Ihnen ein Wagen oder Leute vor dem Haus aufgefallen?«

»Was denn für Leute?«

»Fremde. Die sich komisch verhielten.«

»Komisch?« Isas Mutter lachte gallig auf. »Hier sind seit Tagen, Monaten, ach was, seit Jahren alle komisch, ich ... ich komme ...« Sie sank auf die Couch. »Ist ihr etwas passiert?«

»Davon wollen wir erst einmal nicht ausgehen«, versuchte Catja sie zu beruhigen. »Was meinen Sie, wo könnte Ihre Tochter sein?«

»Glauben Sie ...«

»Bei wem könnte sie Unterschlupf gefunden haben?«

»Sam!«

»Sam«, wiederholte Catja.

Auch Sydow erinnerte sich an ihn. »Mit ihm hat Ihre Tochter den Sonntagnachmittag im Spieleland verbracht. Ihr Freund, oder?«

»Ich wünschte«, Isas Mutter schnaubte verächtlich, »er wäre es nicht.«

»Wie ist sein Nachname?«

»Das ... das weiß ich nicht.«

Sydow hob die Plastiktüte mit Isas Handy hoch. »Kennen Sie das Passwort Ihrer Tochter?«

Isas Mutter verkniff das Gesicht, als müsse sie überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf.

Sydow verließ die Wohnung.

»So um zehn, halb elf«, sagte Catja, die ihm folgte. Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Das heißt, wir hätten Isa gestern Abend ...«

»Ja«, fiel er ihr ins Wort. »Und jetzt gib eine Suchmeldung nach ihr heraus.« Er drückte Catja das Handy in die Hand. »Und schick ihr Telefon in die KTU, vielleicht kriegen sie dort Zugriff auf die Daten.«

»Sollten wir ...«

»... die Kollegen damit beauftragen, die Nachbarn nach letzter Nacht zu befragen. Wer hat etwas mitbekommen? Außerdem schick die Spurensicherung hierher, sie soll die Wohnung unter die Lupe nehmen, auch das Blut am Balkon. Dann treffen wir uns auf dem Präsidium.«

»Und dort werden wir ... Max?«

Sydow eilte bereits durch den Regen zum Wagen.