Die Ukraine – ein Juwel in Putins Zarenkrone

Als der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch am 28. November 2013 in Vilnius eintrifft, ist er unentschlossen. Der ungelenke Hüne ringt mit sich, weiß nicht, was er tun soll. Wenn es nach Moskau ginge, wäre er überhaupt nicht in die litauische Hauptstadt gereist. Nun steht er vor der Frage: Unterschreiben? Oder doch lieber nicht? Seine Landsleute verlangen, dass er seinen Namen unter den Assoziierungsvertrag mit der Europäischen Union setzt und damit das Land in Richtung Westen führt. Das fordern sie schon seit Jahren, immer ungeduldiger. Auch deshalb ist Janukowitsch nun in Vilnius. Er will sich zumindest eine Hintertür zur EU offenhalten. Dabei könnte er in diesem Moment über den Haupteingang hineinspazieren, der rote Teppich ist ausgerollt. In der Runde der Staats- und Regierungschefs bemerken die Amtskollegen seine Angst und seine Unentschiedenheit. Seit Monaten setzt Putin ihm zu, droht mit Handelssanktionen und lockt zugleich mit Milliardenkrediten und einem fast halbierten Gaspreis. Die deutsche Kanzlerin ist genervt. Und inzwischen gegen das Abkommen mit Kiew. Angela Merkel misstraut der politischen Klasse in der Ukraine, hat sie im Verdacht, dass es ihr an Willen und Disziplin fehlt, sich an das strenge Brüsseler Diktat zu halten.

Janukowitsch steht wie Buridans Esel vor der Futterkrippe: rechts Moskau mit der Zollunion in der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, links die EU, mit einem doppelt so großen Markt, auf dem allerdings nach transparenten Regeln gespielt wird, also Schluss wäre mit der Oligarchen-Wirtschaft und Korruption. Kronleuchter für acht Millionen Euro wie der in der Residenz des Präsidenten in Meschigorje vor den Toren von Kiew wären dann nicht mehr drin. Beides auf einmal, also gute Beziehungen zu Europa und zu Moskau, ist im Moment leider auch nicht zu haben. Denn Wladimir Putin fasst jeden Flirt mit dem Westen als Verrat an Russland auf, das er als Riesenreich versteht, und mit Druck nach innen und außen zusammenhält.

Die Ukraine, nach Russland das größte Flächenland in Europa, mit 44 Millionen Einwohnern, Kornkammer und Waffenschmiede, ist für den Herrscher im Kreml der Brillant in der Zarenkrone. Niemand sollte versuchen, ihn herauszubrechen.

Für die EU wäre die ehemalige Sowjetrepublik ein Schwergewicht, das die Anziehungskraft demokratischer Werte eindrucksvoll belegen würde. Ein ziemliches Pfund, mit dem der Westen wuchern könnte. An dem er sich aber auch verschlucken könnte. Das Kräfteverhältnis in der Union müsste sich ganz neu ausrichten.

Janukowitsch ist keiner, der so viel Druck aushält. Politik macht er erst seit ein paar Jahren, er kommt aus einfachen Verhältnissen, wuchs in Jenakijewo bei Donezk in der Ostukraine auf. Beim festlichen Abendessen mit der litauischen Gastgeberin würde er am liebsten unter dem Tisch verschwinden. Statt die Gelegenheit zu nutzen und die Werbetrommel für sein Land als Bereicherung der Europäischen Union zu rühren, hält er lieber die Füße still. Augenscheinlich sitzt ihm Putin zu sehr im Nacken und so setzt er seinen Namen schließlich doch nicht unter den Assoziierungsvertrag.

Die resolute Präsidentin von Litauen, Dalia Grybauskaite, hat ihn längst durchschaut und sagt ihm ins Gesicht: »Nur der kann erpresst werden, dem es an politischem Willen fehlt, Druck standzuhalten. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, für den ist die Entscheidung klar. Entweder – oder.« Der unglückliche große Mann duckt sich vor ihren Worten weg.

Nach dem Vilnius-Gipfel sind die Tage für den gelernten Gasinstallateur und Fuhrparkleiter, der wegen Diebstahls und Gewaltdelikten vor Beginn seiner politischen Karriere mehrfach im Gefängnis saß, gezählt.

In Kiew findet sich am 30. November 2013 eine Handvoll Studenten auf dem Maidan ein. Der Unabhängigkeitsplatz ist an diesem Tag alles andere als einladend. Es herrscht nasskaltes Wetter. Aber den Schneeregen nehmen die jungen Leute kaum wahr, sie sind empört, denn ihr Präsident hat gerade eine historische Chance verspielt. Unter dem Hashtag Euromaidan haben sie in den sozialen Medien zu Protesten aufgerufen. Die Polizei prügelt die kleine Gruppe mit brutaler Gewalt auseinander. Damit befeuert sie den Ärger der Bürgerinnen und Bürger zusätzlich. Mit jedem Tag gibt es neue und größere Kundgebungen, eine gute Woche später ist es fast eine Million, die gegen die korrupte Regierung auf dem Maidan protestiert. Gegen die Privilegien der Politiker und Oligarchen, die ein undurchschaubares System aus lauter Abhängigkeiten installiert haben. Für ein einziges Mandat im Parlament blättern kriminelle Unternehmer Millionen hin. Der also quasi gekaufte Abgeordnete muss dann in ihrem Sinne abstimmen. Die Wähler haben diesen Betrug satt. Die Fälschungen der Präsidentschaftswahl 2004, die bereits als eine Richtungsentscheidung zwischen Moskau und dem Westen galt, führten zur Orangen Revolution, gegen die der russische Präsident Gift und Galle spuckte. Jetzt, fast zehn Jahre später, wiederholt sich das Ganze, denn nichts hat sich seitdem geändert. Wann immer jemand mit staatlichen Institutionen zu tun hat, halten Beamte die Hand auf. Beim Arzt, im Krankenhaus, auf Ämtern, bei der Polizei, in den Schulen und Universitäten. Das Volk versteht, dass die Korruption nur dann ausgerottet werden wird, wenn Wirtschaft und Gesellschaft nach überprüfbaren Regeln spielen. Bestens ausgebildete junge Juristinnen und Juristen, von denen viele im Ausland studiert haben, entwerfen längst Gesetze für viele Bereiche der Gesellschaft. Doch es gibt kaum Abgeordnete, die offen dafür sind. NGOs und Think Tanks werden trotzdem nicht müde darauf hinzuweisen, in welche Wunde der Finger gelegt werden muss. Alles verpufft bislang.

Die Aktivisten meinen es ernst. Sie lassen sich nicht mehr vom Maidan verdrängen, errichten Zeltlager, quartieren sich im Gewerkschaftshaus ein, das Schlafsäle und Diskussionsräume zur Verfügung stellt. Auf dem ganzen Areal um den Unabhängigkeitslatz herrscht Ausnahmezustand. Die Straßen bis hoch hinauf zum Präsidentenpalast, zur Werchowna Rada, also dem Parlament, und hinüber zum Marienpalast, die Hruschewskyj-Straße hinunter zum Chreschtschatyk, dem Prachtboulevard – alles ist in der Hand der Aktivisten, die dieses Mal nicht auf halber Strecke umkehren wollen, anders als 2004. Später werden sie sich auch im Rathaus ausbreiten.

Zunächst herrscht eine heitere Atmosphäre. Am Wochenende kommen Jung und Alt aus der ganzen Ukraine in die Hauptstadt, in vielen Orten im ganzen Land haben sie ihren eigenen Euromaidan-Platz errichtet. Von zehn Personen, die sich anschließen, wollen neun gegen die Korruption ankämpfen. Die EU-Mitgliedschaft steht erst an zweiter Stelle, aber alle wissen, dass das erste Ziel ohne das zweite nicht erreichbar ist. Man versichert einander, dass es dieses Mal zu schaffen ist. Die Menschen sind fröhlich, zugewandt, fast in Volksfeststimmung. Bis sich in die euphorische Atmosphäre Angst mischt. Denn plötzlich machen erste Meldungen die Runde, dass Tituschki, junge kräftige Kerle in Trainingsanzügen, einzelne Personen oder kleine Gruppen in stilleren Seitenstraßen zusammenschlagen. Niemand weiß, in wessen Auftrag sie die Demonstranten terrorisieren. Kommen sie aus Janukowitschs Sicherheitsapparat? Sind sie im Auftrag Moskaus unterwegs? Die TV-Reporterin Olga Snitchuk von Kanal 5 und der Fotograf Wladislaw Sodel haben schon vorher einmal, am 18. Mai 2013, mit den Tituschki-Schlägern Bekanntschaft gemacht. Die beiden Journalisten berichteten damals über zwei Kundgebungen, die an diesem Tag zeitgleich in Kiew stattfanden. Eine auf dem Sophienplatz von der Opposition unter dem Motto »Steh auf, Ukraine!«, die andere von der Partei der Regionen, der der Präsident angehört. In dessen Auftrag zogen damals die Tituschki zu den Oppositionellen und zettelten eine Schlägerei an, bei der die beiden Reporter verletzt wurden. Jetzt sind die gewaltbereiten Provokateure offenbar wieder angeheuert worden. Jeder Weg abseits des Protestlagers ist nun nicht mehr sicher.

Die Korrespondenten bewegen sich nur noch zu mehreren durch die Stadt. Deutsche Kollegen berichten von einer wahren E-Mail-Flut. Seit Tagen laufen ihre Postfächer über, was viele so nie zuvor erlebt haben. Der Ton in den Mails ist anders als sonst: aufgebracht, aggressiv, hasserfüllt. Statt begründeter Einwände oder Kritik mit Bezug auf konkrete Sendungen und Beiträge werden Journalistinnen und Journalisten pauschal als »NATO-Kriegstreiber« oder »Erfüllungsgehilfen des Imperialismus« beschimpft. Zusätzlich erfahren sie persönliche Anfeindungen. Immer wieder kommt die Aufforderung, endlich über die Faschisten auf dem Maidan zu berichten.

Die Hunderttausenden auf dem Unabhängigkeitsplatz sollen Neonazis sein? Gewiss, in dem Meer der blau-gelben Ukraine- und Europafahnen schwenken einzelne auch rot-schwarze Fahnen des Rechten Sektors. Der tritt auf dem Maidan als eine Art Miliz auf und liefert sich zunehmend härtere Auseinandersetzungen mit der Polizei. Politiker, überhaupt Vertreter von Parteien, wollen die Demonstranten auf dem Maidan weder sehen noch hören, denn sie haben sich nach der Orangen Revolution alle nicht mit Ruhm bekleckert. Selbst Julia Timoschenko, die ehemalige Ikone und Präsidentschaftskandidatin mit dem blonden Haarkranz, ist nicht gut gelitten. Sie sitzt wegen angeblichen Amtsmissbrauchs als Regierungschefin ohnehin im Gefängnis. Ihr Stellvertreter Arseni Jazenjuk hält sich wie Vitali Klitschko von der Partei UDAR (Schlag) im Hintergrund. Ebenso Petro Poroschenko, der sich als Wirtschaftsminister ein Jahr zuvor mit Präsident Janukowitsch überworfen hatte und zurückgetreten war. Vor allem mit Poroschenko haben die Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz ein Problem. Nicht nur, weil der Ex-Wirtschaftsminister auch schon Außenminister und Notenbankchef war, sondern vor allem, weil er schwerreich ist. 2013 führt ihn das Wirtschaftsmagazin Forbes in der Liste der wohlhabendsten Ukrainer mit einem Vermögen von 1,6 Milliarden US-Dollar. Poroschenko besitzt Unternehmen im Auto-, Schiffs- und Rüstungsbau. Das Volk kennt vor allem seine Süßwarenfabriken. Er ist der »Schokoladenkönig« und Besitzer des populären Fernsehsenders Kanal 5.

Es ist diese Verquickung von Wirtschaft und Politik, auf die die Menschen die schamlose Bereicherung einiger weniger Oligarchen zurückführen, und die sie hauptsächlich für die allgegenwärtige Korruption im Land verantwortlich machen. Doch Poroschenko schafft es, sich mit seiner Gegnerschaft zu Janukowitsch und seiner Regierungserfahrung als Alternative zu dem verhassten Präsidenten ins Gespräch zu bringen. Wenn Jazenjuk, Klitschko und Poroschenko auf der riesigen Maidan-Bühne auftreten, was sie erst spät und zunächst zurückhaltend tun, erscheinen sie immer gemeinsam und dann oft auch mit Oleh Tjahnybok. Der Chef von Swoboda (Freiheit) ist ein Rechtsextremer. Seine Partei hat es 2012 mit zehn Prozent in die Werchowna Rada geschafft. Aber Tjahnybok führt mitnichten die Protestbewegung an. Auch nicht Dmytro Jarosch und dessen Rechter Sektor, der die rechtsnationalen Organisationen vereinigt. Für sie ist das Ziel des Euromaidan, die Assoziation mit der EU, nebensächlich. Sie wollen das derzeitige Regime stürzen, das sie als ein »Regime der inneren Besetzung« bezeichnen. Doch vom Rechten Sektor ist zunächst nichts zu hören. Jarosch tritt politisch nicht in Erscheinung, er sieht seine Aufgabe vor allem im Schutz der Zeltstadt.

Auch jüdische Freunde aus Deutschland fragen nach, was es mit den Nazis auf dem Maidan auf sich hat. Das Narrativ verbreitet sich anscheinend mit rasender Geschwindigkeit. Was stimmt daran, was nicht? Im Gegensatz zu Deutschland interessiert die Frage in der Ukraine seltsamerweise niemanden. Im Einsatzstab des Rechten Sektors ist Gelegenheit für Fragen. Zwei Ordonanzen gehen voran zum diensthabenden Kommandeur. Weder die beiden Begleiter noch der Kommandeur nehmen ihre Sturmhauben ab, sie nennen auch nicht ihre Namen. Aber sie kommen sofort zum Thema. »Wir sind keine Rassisten. Wir halten die weiße Rasse nicht für die bessere. Allerdings sind wir gegen die Vermischung des Blutes. Multikulti gibt es mit uns nicht. Der ukrainische Nationalismus ist kein Rassismus, sondern Liebe zu unserem Land. Kein Antisemitismus, kein Chauvinismus.« Der Kommandeur verweist auf Hunderte jüdische Aktivisten, mit denen sie zusammenarbeiten würden.

Ernesto, ein 27-jähriger Wirtschaftsstudent aus Ghana, verbringt täglich Zeit in der Protest-Zeltstadt, nimmt an Diskussionen teil, besucht Konzerte. Angst, dass ihm wegen seiner Hautfarbe Gewalt angetan werden könnte, hat er nicht. Warum auch. Er blickt erstaunt, ein bisschen irritiert. »Das ist eine Freiheitsbewegung. Sie haben gewählt, wie sie leben wollen. Das imponiert mir.« Arkadi Monastirskij vom Jüdischen Forum der Ukraine hätte vermutlich erfahren, wenn jüdische Familien zuhauf das Land verlassen wollen, wie es in der Gerüchteküche heißt. Er weiß von keinem einzigen Fall. Er kann auch nicht erkennen, dass von Rechtsextremen auf dem Maidan eine Gefahr ausgeht, selbst wenn über sie viel geredet werde. Das seien marginale Gruppen, die sich allerdings auf den Nationalisten und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera berufen. Josef Zissels vom Euro-Asiatischen Jüdischen Kongress hat über ein Vierteljahrhundert Antisemiten und Neonazis im postsowjetischen Raum beobachtet. Die Ukraine sei mitnichten ein Problemfall, zumal gemessen an Russland. In Russland seien mehr als 20 faschistische Gruppen unterwegs und die träten weit aggressiver auf als vergleichbare in der Ukraine. Die gesamte Familie von Zissels’ Vater starb im Ghetto von Chișinău, die Großeltern mütterlicherseits wurden ebenfalls im Zweiten Weltkrieg getötet. Der studierte Physiker und Mathematiker schloss sich 1978 als Dissident der ukrainischen Helsinki-Gruppe an. Zweimal wurde er zu je drei Jahren Haft in einer Strafkolonie strengen Regimes verurteilt. Er hatte den Einsatz der Psychiatrie zu politischen Zwecken während der Sowjetzeiten untersucht, Samisdat-Literatur verteilt und sich in der jüdischen Nationalbewegung engagiert. Alles Tätigkeiten, die die Gerichte als Diffamierung des sowjetischen Staates und der Gesellschaftsordnung ansahen. Eine Amnestie 1987 lehnte er ab, weil er sich nicht verpflichten wollte, künftig auf politische Aktivitäten zu verzichten.

Zissels weiß, woher der Wind weht, wenn von Faschisten auf dem Maidan die Rede ist: aus Moskau. Die Protestbewegung soll verunglimpft werden. Was im Westen am sichersten mit dem Vorwurf des Antisemitismus, Faschismus funktioniere. Josef Zissels ist ein misstrauischer Mann, der den Rechten Sektor seit dessen Gründung nicht aus den Augen lässt. Sein Fazit bislang: Der Rechte Sektor sei durch keine einzige antisemitische Erklärung aufgefallen. Von den insgesamt 20 000 ständigen Maidan-Aktivisten gehörten 200 zu dieser Vereinigung.

Die angebliche faschistische Unterwanderung der Protestbewegung ist ein Propagandatrick aus sowjetischen Zeiten, erklärt er, und es klingt ein bisschen nach: Wie oft fallt ihr im Westen eigentlich noch darauf rein? Trotzdem macht er sich die Mühe einer Nachhilfestunde: »Aus sowjetischen Zeiten wissen wir, dass jeder, der sich gegen Russland wendet, der für nationale Unabhängigkeit eintritt, zum Faschisten gemacht wird. Das ist nicht neu. Auf dem Kiewer Maidan und in der ganzen Ukraine haben über zwei Millionen Menschen demonstriert. Sollen das alles Faschisten sein? Ich glaube kaum, dass es so viele Faschisten in der Ukraine gibt.« Er weist darauf hin, dass das Wort Faschist in diesem Zusammenhang eine viel allgemeinere Bedeutung hat. So wie in Deutschland die Kinder Räuber und Gendarm spielten, spielten sie in der UdSSR Partisan und Faschist. Faschist konnte jeder genannt werden: ein Verkehrsrowdy, ein Einbrecher, einer, den man nicht leiden kann.

Warum die russische Propaganda ausgerechnet die Rechtsextremen in den Fokus nimmt, hat eine Gruppe von Osteuropa-Wissenschaftlern gut erklärt. Zu ihnen gehören neben Zissels Timothy Snyder oder Jewhen Sacharow. Schon im Februar 2014 geben die Experten zu bedenken: »Wir vermuten sogar, dass in einigen Berichten, insbesondere solcher kremlnaher Massenmedien, die übermäßige Betonung der rechtsradikalen Elemente auf dem Kiewer Euromaidan nicht auf antifaschistischen Motiven beruht. Im Gegenteil, derartige Berichterstattung ist paradoxerweise womöglich selbst Ausdruck von imperialistischem Nationalismus, in diesem Falle von dessen russischer Variation. Mit ihrer gezielten Diskreditierung einer der größten Massenbewegungen zivilen Ungehorsams in der Geschichte Europas liefern die russischen Medienberichte einen Vorwand für die politische Einmischung Moskaus, ja womöglich sogar für eine künftige militärische Intervention Russlands in der Ukraine, ähnlich derjenigen in Georgien 2008. (…) Berichte, welche rhetorische Munition für Moskaus Kampf gegen die ukrainische Unabhängigkeit liefern, unterstützen womöglich unabsichtlich eine politische Kraft, die eine weit größere Gefahr für soziale Gerechtigkeit, Minderheitenrechte und politische Gleichheit darstellt, als alle ukrainischen Ethnonationalisten zusammengenommen.«

Diese Warnung hat aus heutiger Sicht geradezu prophetischen Charakter. Leider hat sie damals nicht die erhoffte Wirkung, vor allem nicht bei Politikern links und rechts außen. Die pflegen ihre Skepsis gegenüber den Demonstranten auf dem Maidan ausgiebig und nutzen in ihrer Argumentation häufig Sätze aus den russischen Propagandaprogrammen.

In Kiew heizt sich die Stimmung auf. Den Sicherheitsbeamten geht es gegen den Strich, dass sich die Hauptstadt seit Wochen wie in einem Belagerungszustand befindet, zumindest im Zentrum. Die Polizei startet Räumungsversuche, gegen die sich die Zeltbewohner mit allen Mitteln wehren. Immer höhere Barrikaden werden errichtet, Reifen brennen. Dicke Rauchschwaden steigen auf. Einwohner, die eher nach braven Angestellten als nach militanten Demonstranten aussehen, stopfen mit Benzin getränkte Lappen in Flaschen, um die Räumkommandos notfalls mit Molotowcocktails zurückzudrängen. Viele tragen jetzt Sturz- oder Fahrradhelme, Schilde und Masken, um ihr Gesicht zu verdecken. Der Kiewer Chreschtschatyk, der zum Unabhängigkeitsplatz führt, ist längst für den Verkehr gesperrt, die Zeltstadt hat sich über mehrere Kreuzungen hinweg ausgedehnt. In der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2014 werden unerwartet 13 Menschen erschossen, am 20. Februar verwandelt sich das Stadtzentrum in eine Nahkampfzone. Wer jetzt unterwegs ist, muss Deckung vor Schüssen suchen. Vor einem Schnellrestaurant liegen acht Leichen, nebeneinander aufgebahrt, notdürftig mit Tischtüchern bedeckt. Erschrockene Passanten bekreuzigen sich, nicken den Priestern zu, die die Toten so lange bewachen, bis Rettungssanitäter sie fortschaffen. 49 Todesopfer werden an diesem Mittwoch gezählt. Viele hatten sich mit Holzschilden schützen wollen, doch die wurden von den Kugeln der Scharfschützen durchschlagen. Niemand weiß, auf wessen Befehl die Heckenschützen schossen. Mindestens 100 Menschen sterben in wenigen Tage, die Menge ist entsetzt.

Für Dmytro Jarosch sind die vielen Opfer ein Wendepunkt. Als er am 20. Februar Präsident Viktor Janukowitsch trifft, redet er Tacheles. Ein Waffenstillstand mit dem Staatsoberhaupt kommt nicht mehr infrage, einzig dessen Rücktritt. Die Vereinbarung, die die Führer der parlamentarischen Opposition am 21. Februar mit Präsident Janukowitsch unterzeichnen, genügt Jaroschs Leuten vom Rechten Sektor nicht. Sie fordern eine deutlich härtere Gangart. Entweder Janukowitsch verschwindet oder sie erstürmen Präsidialverwaltung und Parlament. Jarosch ist zudem aufgefallen, dass die Zukunft des ersten Mannes im Staat in dem Papier der Opposition nicht eindeutig geregelt ist. Kein Wort von Amtsenthebung, nichts zur Auflösung des Parlaments, nichts zur Bestrafung der Sicherheitskräfte, die das Leben von rund 100 Demonstranten auf dem Gewissen haben. Außerdem fordert er, die von den ostukrainischen Oligarchen dominierte Partei der Regionen, der auch Janukowitsch selbst angehört, sowie die Kommunistische Partei der Ukraine zu verbieten.

Der Präsidentenpalast wird immer weiträumiger abgesperrt. Mitten in diese bürgerkriegsähnliche Stimmung trifft ein europäisches Vermittlungstrio ein, das durch seine bloße Anwesenheit hofft, eine weitere Eskalation zu verhindern. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, sein polnischer Kollege Radosław Sikorski sowie der französische Chefdiplomat Laurent Fabius wollen den ukrainischen Präsidenten überzeugen, in einen Dialog mit den Demonstranten zu treten. Doch zunächst ist Janukowitsch wie von der Bildfläche verschwunden. Schließlich taucht er doch noch auf und empfängt die Delegation, wissend, dass die Europäische Union gegen ihn und seine Regierung am Tag zuvor Sanktionen verhängt hat. Er und die Seinen dürfen nicht mehr in die EU einreisen, ihre Auslandskonten sind gesperrt. Wochenlang haben die EU-Mitgliedsländer eine Entscheidung aufgeschoben. Nach den Toten auf den Maidan ringen sie sich endlich durch. Eine entschlossene moralische Unterstützung für die Demonstranten, die sich immer klarer für das europäische Bündnis aussprechen, hätte anders ausgesehen, finden diejenigen, die seit Wochen in Kiew protestieren.

Noch während der Unterredung mit dem Präsidenten bricht sich auf dem Maidan erneut die Gewalt Bahn. In der EU-Repräsentanz hören sich die drei Maidan-Emissäre Klitschko, Tjahnybok und Jazenjuk den Vermittlungsvorschlag an. Auch sie fordern ein schärferes Vorgehen gegen Janukowitsch: die Rücknahme seiner Ermächtigungsgesetze und Neuwahlen. Doch nach einigen Stunden reißen die Verhandlungen ab, denn Janukowitsch türmt. In der Nacht vom 21. auf den 22. Februar sucht er Unterschlupf in Russland. Moskau ist längst im Bilde und nimmt den treuen Vasallen auf.

Fünf Jahre später, am 24. Januar 2019, verurteilt das Kiewer Obolonskyj-Bezirksgericht den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch in Abwesenheit zu 13 Jahren Haft wegen Hochverrats. Außerdem konnte die Staatsanwaltschaft nachweisen, dass Janukowitsch Russland bei der Führung eines Angriffskrieges gegen die Ukraine unterstützt habe.

Im Februar 2022 ruft Janukowitsch seinen Nachnachfolger, Wolodymyr Selenskyj, zur Kapitulation auf. Doch anders als der 71-jährige Vorvorgänger lässt Selenskyj seine Heimat nicht im Stich.

Noch einmal zurück zum 22. Februar 2014. Ein in vielfacher Hinsicht denkwürdiger Tag. Das Parlament beschließt, dass sich Janukowitsch, der Hals über Kopf davongelaufen ist, nicht mehr Präsident nennen darf. Eine Mehrheit der gewählten Volksvertreter setzt ihn ab und bestimmt einen Übergangspräsidenten sowie eine Übergangsregierung. Von einem Putsch kann also keine Rede sein.

Allerdings gibt es nicht wenige Stimmen, die genau das suggerieren. Wenige Tage nach der Flucht Janukowitschs sagt Alexander Rahr in einem Panorama-Beitrag der ARD: »Der Rechte Sektor war aus meiner Sicht entscheidend für den Umsturz. Weil er eine Organisation ist, die auch bereit war in Kampfhandlungen mit den Polizisten, mit den Sicherheitskräften einzutreten. Sie waren gut organisiert, sie hatten auch immer wieder einen Plan, wie sie angriffen, wie sie sich verteidigten, so dass sie einen großen Anteil am Erfolg des Maidans gehabt haben.«

Rahr war bis 2012 ein gefragter Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Dann wechselte er in die Wirtschaft und gehört seither zu den Putin-Erklärern. Unablässig wirbt er um Empathie für dessen angeblich verletzte Seele. Auf Mitgefühl für die Opfer von Putins Politik wartet man umsonst. Allein Putin ist im Fokus. Der Ex-Spion sei von der Besserwisserei des Westens genervt, benötige keine Nachhilfestunden in Sachen Menschenrechte. Diese Argumentation unterschlägt, dass die EU und die USA nach dem Zerfall der Sowjetunion um Hilfe gebeten worden sind und sie auch geleistet haben: finanziell, wirtschaftlich, bei der Umgestaltung der staatlichen Strukturen hin zu einer demokratischen Gesellschaft. Solange Moskau das wollte, klagte niemand über eine angebliche Schulmeisterei.

Alexander Rahr ist Mitglied im Petersburger Dialog, aber nicht nur das. Der Historiker machte sich vor allem einen Namen wegen seiner engen Verbindungen zu Präsident Wladimir Putin und erhielt Einlass in den noch erleseneren Waldai-Klub. Der diskutiert seit 2004 einmal im Jahr mit dem russischen Präsidenten direkt. Die Währung, in der Rahr zahlt: Deutschland-Bashing im russischen Fernsehen. 2014 diskutierte die Waldai-Runde das Thema: »Weltordnung: Neue Regeln oder ein Spiel ohne Regeln?« Das Treffen fand Ende des Jahres statt. Da war die Maidan-Bewegung schon Geschichte und Putin hatte sie nach Kräften als faschistisch diskreditiert. Rahr echote. Er wurde wie Putin nicht müde, sie als Putsch zu klassifizieren. Das Drehbuch, wie die Ukraine 2014 destabilisiert werden sollte, wurde im Kreml geschrieben.

An jenem 22. Februar 2014, einem Sonnabend, überschlagen sich in Kiew die Ereignisse. Das gilt es offenbar auszunutzen. Während die Werchowna Rada den davongelaufenen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch formal absetzt, kündigt Putin an, dass Russland die Rückholung der Krim vorbereite, um den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Übersetzt heißt das: Putin will sich die Halbinsel unter den Nagel reißen. Eine Verletzung des Völkerrechts und der territorialen Integrität mit Ansage. Die Ukraine soll bluten für ihre sogenannten farbigen Revolutionen. Die erste 2004 blieb von selbst stecken, den Erfolg des zweiten Anlaufs will Putin mit aller Macht verhindern. Dass sich das ukrainische Volk seiner korrupten Führung entledigt – so weit darf es nicht kommen.

Doch in Kiew sind die Politiker zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Eine neue Mehrheit im Parlament muss organisiert werden, damit Janukowitsch der Präsidententitel tatsächlich entzogen werden kann. Danach mussten ein neuer Parlamentspräsident gewählt und eine Übergangsregierung installiert werden. Alles innerhalb kürzester Zeit. Putins gefährliche Ankündigung geht komplett unter. Niemand hat in diesem Moment auch noch Nerven für die Krim.

Am Montag wird Simferopol, die Hauptstadt der Autonomen Republik Krim, zum Schauplatz. Eine aufgebrachte Menge, meist Krimtataren, hindert prorussische Abgeordnete am Betreten des Parlaments. Denn die wollen abstimmen, ob die Halbinsel weiter zur Ukraine gehören soll oder nicht. Es kommt zu Zusammenstößen mit prorussischen Demonstranten, die die Wahl für Moskau absichern sollen. Im entfernten Kiew ist man immer noch mit der Neusortierung der Innenpolitik beschäftigt.

Russland beginnt derweil einen hybriden Krieg und das heißt: Verwirrung stiften, alsbald Regeln verletzen, dann Fakten schaffen, sofort oder später alles abstreiten, dann einiges zugeben, aber auf jeden Fall weiterlügen. Und dann alles wieder von vorn.

Am 27. Februar, einem Donnerstag, besetzen auf der Krim stationierte russische Truppen strategisch wichtige Gebäude und Einrichtungen. Bewohner der Halbinsel beobachten schon seit Tagen immer neue Lieferungen von Militärtechnik und stellen ihre Videoaufnahmen ins Netz. Sie berichten von Russisch sprechenden Soldaten ohne Hoheitskennzeichen. Doch Russland streitet jede Beteiligung ab. Dann setzt Moskau den Euphemismus von den freundlichen grünen Männchen in die Welt, der verschleiern soll, dass die russische Armee gerade die Krim okkupiert.

Mit diesen dreisten Lügen kann der Westen nicht umgehen. Statt zur Kenntnis zu nehmen, was vor sich geht, lässt er sich ein X für ein U vormachen. Dabei verfügt die NATO-Aufklärung längst über Satellitenaufnahmen, die den Aufmarsch dokumentieren. Aber die Militärs wollen ihr Wissen lieber weiter hüten wie einen Schatz. In der Annahme, dass die Preisgabe ihrer Erkenntnisse auch ihre Quellen verrät. Statt mit zusätzlichen Beweisen zu untermauern, was sich offensichtlich und vor den Augen der Krimbewohner abspielt, wird mit diesem Wissen hinterm Berg gehalten. Verteidigungspolitiker in Brüssel und Berlin verweisen darauf bestenfalls in Hintergrundgesprächen, statt sie öffentlich zu machen und damit Moskaus Lügen bloßzustellen. Während Russland weiter seinen Truppenaufmarsch bestreitet, nehmen Moskaus Soldaten eine Kaserne nach der anderen ein. Die ukrainischen Einheiten warten verzweifelt auf Befehle aus Kiew, nicht wissend, ob sie ihre Militärflugplätze, Flottenstützpunkte und andere militärische Einrichtungen auf der Krim verteidigen oder den Besatzern überlassen sollen.

Eine gute Woche später, am 6. März, beschließt das Krim-Parlament den Anschluss an die Russische Föderation. Ein Referendum soll trotzdem noch abgehalten werden, am 16. März. Wladimir Konstantinow, der Parlamentspräsident, macht bei der Ankündigung einen alles andere als souveränen Eindruck. Er räumt ein, dass das Referendum »kein Projekt mit langer politischer Strategie« sei, sondern »der Versuch, auf die Situation zu reagieren. Und die Russische Föderation soll bis zum Referendum entscheiden, ob sie uns aufnimmt oder nicht, damit sich die Leute nicht wie Idioten fühlen.« Was er nicht sagt: dass er auf Druck Moskaus agiert. Die Krimtataren verstehen aus leidvoller historischer Erfahrung sehr viel schneller, was vor sich geht. Ihr Sprecher, Refat Tschubarow, bittet die UNO um Friedenstruppen und ruft zum Wahlboykott auf. Die Volksbefragung sei eine Erniedrigung der Bevölkerung der Krim und absurd. Zumal die Entscheidung, Russland beizutreten, bereits gefällt sei. Tschubarow prophezeit ein Referendum in völliger Anarchie, mit Streitkräften auf den Straßen. Es trage nur zur weiteren Destabilisierung der Krim bei. Moskau interessiert das nicht, auch nicht, dass dem Referendum jede rechtliche Grundlage fehlt. Keine Region kann allein über ihre Zugehörigkeit zur Ukraine abstimmen, darüber müssten Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land entscheiden. Doch die inzwischen schon prorussische Regionalregierung verfügt, dass die Krim ab sofort russisches Territorium ist und die ukrainischen Streitkräfte als Okkupanten betrachtet werden. Als Währung gilt nur noch der Rubel, nicht mehr die Griwna. Das Referendum ist eine Farce.

Arsenij Jazenjuk, Premier der Übergangsregierung in Kiew, erklärt am selben Tag, als das Datum für das Krim-Referendum festgesetzt wird, dass die Ukraine die Loslösung der Krim nicht akzeptiert.

In den nächsten Tagen wollen rund 50 OSZE-Beobachter die Krim inspizieren, um herauszufinden, mit welcher Mannstärke und Technik die russischen Streitkräfte das Territorium besetzen. Die Zahlen des ukrainischen Verteidigungsministeriums und des Grenzschutzes schwanken zwischen 18 000 und 30 000 Personen. Die anreisenden Beobachter werden mit Schüssen am Betreten der Krim gehindert.

Polen hat seine Konsulatsmitarbeiter auf der Krim abgezogen, die USA warnen vor Reisen in die Ukraine, das Auswärtige Amt mahnt zu Vorsicht auf der Krim und im Osten der Ukraine.

In der Zeltstadt der Demonstranten auf dem Maidan wird Holz angeliefert. Die Nachttemperaturen liegen immer noch um den Gefrierpunkt. Die Aktivisten harren weiter aus, einige erwägen, sich in Richtung Krim aufzumachen. Manche beben vor Wut. Die schlechten Nachrichten häufen sich. Russische Soldaten besetzen einen Luftwaffenstützpunkt und andere Einrichtungen der ukrainischen Streitkräfte. Von dort aus überwachen nun nicht mehr Ukrainer den Himmel über der Krim, sondern Russen. Unabhängige Fernsehsender sind abgeschaltet, nur das Programm der tatarischen Minderheit ist vorläufig noch zu empfangen.

Auf dem Maidan in Kiew findet eine Protestveranstaltung gegen die Besetzung der Krim statt, denn der Unmut wächst, dass den russischen Besatzern kein Widerstand entgegengesetzt wird. Bei den Demonstranten hat Premier Arsenij Jazenjuk, die rechte Hand von Julia Timoschenko, die inzwischen wieder frei ist, schlechte Karten, denn er bleibt bei seiner Haltung, den Konflikt diplomatisch und politisch lösen zu wollen. Trotzdem will er auf keinen Zentimeter »unseres Landes« verzichten, wie er im Parlament erklärt. Eine schwache Reaktion, finden viele auf dem Unabhängigkeitsplatz. Schließlich ist die territoriale Integrität des Landes in akuter Gefahr.

Nie war der ukrainische Maler und Dichter Taras Schewtschenko seinen Landsleuten so nahe wie im Frühjahr 2014. Wie hätte er reagiert, fragen sich am 9. März 2014 viele. Auf den Tag genau vor 200 Jahren wurde Schewtschenko als Sohn ukrainischen Leibeigener geboren und galt als unbeugsamer Kämpfer. Ihm zu Ehren errichten die Demonstranten auf dem Maidan ein selbstgeschnitztes Denkmal. Der Junge vom Lande hatte das Glück, dass seine Eltern lesen und schreiben konnten. Doch mit 14 Jahren wurde er Vollwaise. Sein Gutsherr nahm ihn mit nach Sankt Petersburg, wo der junge Taras die russische Kultur und Kunst kennenlernte und zu malen begann. Das gelang ihm so erfolgreich, dass er sich mit seinen Gemälden aus der Leibeigenschaft freikaufen konnte und zu schreiben anfing. Schewtschenko traf mit seiner Dichtung den Ton, der eine russische wie ukrainische Leserschaft gleichermaßen begeisterte. Nie vergaß er, woher er kam und wie unfrei seine Heimat war, die er immer wieder besuchte. Wenn er in Kiew war, wohnte er immer in der Nähe des Maidan. Er war ein Romantiker und Rebell, sehr zum Missfallen von Zar Nikolaus I. Der ahnte die Sprengkraft der ukrainischen Dichtung Schewtschenkos. Von der eigenen Sprache bis zur eigenen Nation ist es schließlich nur ein kleiner Schritt. Der Zar setzte ihn fest, erst im Gefängnis, dann als Soldat, dem das Malen und Schreiben untersagt war. Weil er sich um das eine wie um das andere Verbot nicht scherte, entstanden sowohl viele Bilder als auch eine Reihe literarischer Werke, die unter Pseudonym verkauft bzw. veröffentlicht wurden. Nach seiner Haft waren ihm Reisen in die Ukraine zwar nicht erlaubt, er unternahm sie dennoch. Mit nur 47 Jahren starb er in Sankt Petersburg, wo er im Beisein von Fjodor Dostojewski beerdigt wurde. Schewtschenko lebte die Hin-und-Hergerissenheit zwischen der ukrainischen Heimat und dem alles bestimmenden zaristischen Russland, dem der revolutionäre Freiheitsdichter zeit seines Lebens die Stirn geboten hat.

Hätte Schewtschenko die Krim aus der Hand gegeben? Niemals, sagt Übergangspräsident Turtschinow. Der Politiker wurde in Dnipropetrowsk geboren und ist mit Russisch als Familiensprache aufgewachsen. Er ist seit dem 22. Februar 2014 im Amt. An diesem kalten Märztag ruft er der Menge zu, dass Schewtschenko Ukrainer im Herzen gewesen und als solcher für seine Heimat eingetreten sei. »Sein Wort vom Kämpfen ist unsere Losung, unsere Waffe und unser Sieg.« Zeitgleich kommt es in Sewastopol auf der Krim, wo ebenfalls eine Schewtschenko-Gedenkfeier stattfindet, zu Zusammenstößen mit prorussischen Kräften. Russische Soldaten besetzen einen weiteren Grenzschutzposten. Es ist der elfte Kontrollpunkt, der sich jetzt in ihren Händen befindet. Außerdem wird der westliche Zugang zur Halbinsel von russischem Militär abgesperrt, das sich noch immer nicht als solches zu erkennen gibt.

Im Museum der westlichen und östlichen Kunst, unweit der Schewtschenko-Universität in Kiew, überlegt Olena Schiwkowa, ob sie die beiden Gebäude evakuieren lassen sollte. Wenn Putin die Krim raubt, schickt er seine »grünen Männchen« vielleicht auch nach Kiew? Jetzt könnte das Team die Zeit noch nutzen, um Gemälde, Büsten, Möbel und die asiatischen Keramiken einzupacken und in ein unterirdisches Depot zu transportieren.

Obwohl die Übergangsregierung installiert ist, finden weiter politische Kundgebungen statt. Die Protestbewegung ist nach der Niederlage 2004 wachsam. Auf der größten Bühne des Maidans treten in kurzen Abständen ukrainische Stars wie auch internationale Persönlichkeiten auf. Immer unterstützen sie die Freiheitsbewegung. Die deutschen Politikerinnen Marieluise Beck, Viola von Cramon und Rebecca Harms von den Grünen sind von Anfang an regelmäßige Gäste. Die Bundestags- und die Europaabgeordneten werden wie Freunde begrüßt. Sie fühlen sich der Ukraine seit Langem verbunden, haben enge Verbindungen zu liberalen europainteressierten Abgeordneten, helfen mit Kontakten und Politik-Know-how. Russische Gäste sind auf dem Maidan nur ausnahmsweise erlaubt. Michail Chodorkowski darf sprechen, denn Putins Feinde sind hier Freunde. Zehn Jahre war er Russlands Gefangener Nummer eins, so wie heute Alexej Nawalny. Die Menge nimmt ihn zurückhaltend auf. Immerhin gehörte er vor seiner Haft zu den Oligarchen, mit denen die Demonstranten in ihrem Land vor allem schlechte Erfahrungen gemacht haben. Chodorkowski ist kein großer Redner, trifft aber dennoch den Nerv, als er über die Lügen der russischen Propaganda und die Toten auf dem Maidan spricht. »Hier gibt es nicht mehr Faschisten und Nationalisten als in Moskau oder Sankt Petersburg. Was die Janukowitsch-Regierung hier getan hat, mehr als 100 Tote und 5.000 Verletzte, hat sie im Einverständnis mit Moskau gemacht. Ich habe die Holzschilder gesehen, mit denen sich die Demonstranten vor den Kugeln zu schützen versuchten. Mir sind die Tränen gekommen. Das ist nicht mein Russland. Es gibt noch ein anderes. Leute, die trotz der Haftstrafen, die ihnen drohen, auf die Straße gehen in Moskau, denen die Freundschaft zwischen der Ukraine und Russland wichtiger ist.« Spassiba, danke, ruft die Menge. Er glaube an eine europäische Zukunft für Russland und die Ukraine, schickt der russische Gast hinterher.

Unbeirrt läuft Phase zwei des hybriden Krieges in der Ostukraine weiter: Fakten schaffen.