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Der steinerne Irrgarten

Die Felsen wuchsen in die Höhe wie seltsam aussehende Granitbäume. Storm buckelte und Tom hatte Mühe, im Sattel zu bleiben. Silver rannte auf die rollenden Steine zu und knurrte.

„Wir müssen umkehren!“, rief Elenna über den Lärm hinweg.

„Nein!“, schrie Tom und versuchte, seinen Hengst ruhig zu halten. Noch mehr Felsen türmten sich auf und bildeten eine Art Gang. „Das will Malvel doch nur erreichen. Wir müssen zum Schicksalswald!“

Er drückte Storm die Fersen in die Seiten und lenkte ihn zu einem Spalt zwischen den Felsen. Da war ein Fluchtweg! Doch als sie durch die Lücke hindurchschlüpften, lag dahinter noch mehr graue Steinmasse, die sich wie ein Knoten um sie schlang. Die Erde unter ihnen bebte und der Lärm der aufeinanderkrachenden Steine war unerträglich. Tom begann, die Orientierung zu verlieren.

Dann hörte das Grollen urplötzlich auf und eine beunruhigende Stille legte sich schwer über sie. Tom blickte sich um. Überall um sie herum standen nun meterhohe Steinsäulen.

„Es ist ein Irrgarten aus Steinen“, begriff Tom. „Malvels neuestes Hindernis.“

Silver sprang an einer der Steinsäulen hoch. Doch seine Pfoten rutschten an der glatten Oberfläche ab und er fiel zu Boden.

Elenna stieg von Storms Rücken und setzte sich neben ihren treuen Wolf. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Das ist das Ende“, murmelte sie erschöpft. „Wir sind gefangen.“

Tom biss die Zähne zusammen und stieg ebenfalls ab. Er beugte sich zu Elenna hinunter und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Uns wird bestimmt etwas einfallen“, sagte er aufmunternd. „Wir werden einen Weg hier rausfinden. Ich habe auch schon eine Idee.“

„Was hast du vor?“, fragte Elenna und sah zu ihm hoch.

„Wenn ich mich auf Storms Rücken stelle, kann ich vielleicht über die Steinsäulen schauen“, erklärte Tom.

In Elennas Augen schimmerte Hoffnung auf. Sie erhob sich wieder und hielt Storms Zügel fest, während Tom in den Sattel kletterte. Tom suchte erst mit seinen Füßen Halt, dann richtete er sich langsam auf und streckte sich, so hoch er konnte, um über die Steinwände zu spähen.

„Ich kann drübersehen“, jubelte Tom. „Du führst Storm und ich sage euch, in welche Richtung wir gehen müssen. Aber langsam, damit ich nicht das Gleichgewicht verliere.“

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Elenna ging vorsichtig los und redete beruhigend auf Storm ein. Silver lief wachsam neben ihr her. Tom hielt sich mit einer Hand an Storms Zügel fest. Den anderen Arm streckte er zur Seite aus und konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht zu halten. Er reckte den Hals, um über die Steine hinwegsehen zu können. Dort, wo Gänge den Fels durchschnitten, waren dunkle Linien zu erkennen, die in alle Richtungen führten.

„Links!“, rief er, als er sich sicher war, dass er den richtigen Weg aus dem Irrgarten gefunden hatte.

Plötzlich stolperte Storm. Tom taumelte, fiel auf die Knie und landete hart im Sattel. Doch er richtete sich wieder auf und blickte über den Irrgarten. „Jetzt rechts!“, sagte er. „Weiter so, Elenna … gut, Storm … wieder rechts!“

Langsam tasteten sie sich in dem düsteren Steinlabyrinth voran.

„Ich kann den Ausgang sehen“, sagte Tom schließlich, als ein dumpfer Lichtschein die Dunkelheit durchbrach. „Nur noch zwei Kurven!“

Tom glitt in den Sattel zurück und folgte dem Lichtkegel, der sie zum Ausgang führte.

„Wir haben es geschafft!“, jubelte Elenna, als sie endlich ins helle Tageslicht hinaustraten.

Tom schloss die Augen und streckte sein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen. Storm wieherte triumphierend.

Sie standen auf einer weiten grünen Hochebene. Überall wuchsen Büsche und saftiges Gras. Tom stieg ab, um Elenna bei der Suche nach etwas Essbarem zu helfen, und seufzte erleichtert. Er hatte Malvels erstes Hindernis überwunden, doch Schlimmeres würde folgen, sehr viel Schlimmeres.

„Eine Yucca-Pflanze!“, freute sich Elenna und zeigte auf eine stachelblättrige Pflanze. „Und sie trägt Früchte, Tom!“

„Pass auf die Blätter auf“, warnte Tom. „Sie sind messerscharf.“

Elenna griff vorsichtig zwischen die Blätter und pflückte die frischen grünen Früchte.

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Sie setzten sich nebeneinander und aßen. Langsam kehrte wieder Farbe in Elennas Wangen zurück. Die Früchte schmeckten ein bisschen fad, aber sie füllten ihre Bäuche und stillten ihren Durst. Storm rupfte leise Gras und Silver schlabberte Regenwasser aus einer Vertiefung in einem Stein.

„Sieh mal, wie das Sonnenlicht vom Himmel gespiegelt wird“, sagte Elenna. „Ist das nicht seltsam?“

Tom sah hoch. Tavania lag unter einer riesigen Glaskuppel, in der sich die Wolken spiegelten. Das Portal schwebte bedrohlich wie ein tosender Wirbelsturm über ihren Köpfen. Tom konnte das Gefühl nicht abschütteln, in diesem Königreich gefangen zu sein. Aber sie mussten weiter.

Tavania brauchte sie.

„Es ist Zeit, aufzubrechen“, sagte er und erhob sich. Er sprang in den Sattel und Elenna rief nach Silver. Sie machten sich wieder auf den Weg und folgten der goldenen Karte.