FÜNFZEHN

FREITAG, 27. NOVEMBER

Das Wesen stand an ihrem Bett. Es grinste sie an.

»Wach auf, Elisabeth.«

Es zog ihr die Decke weg. Sie schlotterte vor Kälte.

Es beugte sich über sie, streckte die Hände nach ihr aus.

»Aufwachen.«

Es zerrte an ihrem Kissen. Sie warf den Kopf hin und her.

Plötzlich war sie im Freien. Sie kauerte im Schnee. Flocken wirbelten über ihr. Knirschende Schritte näherten sich.

Sie fror. Ihr Herz verkrampfte sich. Es fühlte sich an, als sei es aus Eis.

»Steh auf«, sagte eine leise Stimme zu ihr. »Du musst aufstehen. Sonst erfrierst du hier draußen.«

Elisabeth erwachte. Sie rang nach Luft. Schweißflecken hatten sich auf ihrem Pyjama gebildet. Ihr Herz hämmerte.

Ruhig, dachte sie, ganz ruhig. Es war nur ein Traum.

Für einen Moment war ihr schwindlig. Sie wartete ab, bis sich die Zimmerwände nicht mehr bewegten.

Sie spürte den Schweiß auf ihrer Stirn, und doch zitterte sie vor Kälte. Sie erhob sich und ging ins Bad. Sie duschte lange, ließ das heiße Wasser auf sich herabströmen.

Nur ein Traum, wiederholte sie in Gedanken. Doch sie ahnte, dass er mit einer verschwommenen Erinnerung zu tun hatte. Was war passiert, als sie im Alter von vierzehn Jahren hohes Fieber bekam? Sie meinte sich zu erinnern, tatsächlich eine Weile draußen im Schnee gelegen zu haben. Aber warum?

Wenn sie sich recht besann, trug sie an jenem Abend im Winterfrost nichts weiter als ihr Nachthemd auf der nackten Haut. Sie war barfuß. Plötzlich hob sie jemand auf.

Mit einem Mal lag sie wieder im Bett. Ihr Vater war bei ihr. Er sagte, sie habe fantasiert.

Aber das stimmte nicht. Oder nur zum Teil. Nicht jedes dieser verstörenden Bilder war auf ihr Fieber zurückzuführen.

Ich sollte mit Papa darüber reden, dachte sie. Er muss mir endlich die Wahrheit sagen.

Sie drehte den Duschhahn zu und trocknete sich ab. Sie ging ins Schlafzimmer und zog sich an.

In der Küche trank sie einen Kaffee. Danach öffnete sie eine Schublade in der Anrichte und nahm die Schachtel heraus. Eine letzte Tablette steckte in dem Blister. Innerlich beschimpfte sie ihre Schwester dafür, dass sie ihr nicht mehr von dem Beruhigungsmittel verschrieben hatte.

Diese eine Tablette war ihr Notvorrat.

Ich muss sie mir aufheben, dachte sie. Wer weiß, wann ich sie noch brauche.

Sie warf die Schachtel zurück in die Schublade, zog sich im Flur ihre Doc Martens an, schlüpfte in ihre Jacke, nahm ihre Umhängetasche und öffnete die Tür.

Augenblicklich wich sie zurück.

Auf ihrem Fußabtreter im Treppenhaus stand ein Karton. Sie erkannte ihn sofort.

Es war das Geschenk von Noah, das sie abgelehnt hatte.

Nach einigem Zögern hob sie den Pappkarton auf, nahm ihn herein, stieß die Tür mit dem Fuß zu und stellte ihn auf dem Sideboard ab.

Sie musste sich ihrer Angst stellen.

Sie hob den Deckel an.

»Böser Geist«, sagte sie laut.

Rita Born hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Sie klingelte nun schon zum dritten Mal an diesem Tag bei ihrer Nachbarin und Freundin Karen an der Wohnungstür.

Doch diese reagierte nicht. Wenn sie auf ihrem Handy anrief, meldete sich nur die Mailbox.

Sie hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

»Karen, hörst du mich?«

Sie lauschte.

Es war erschreckend still. Schon am Morgen war sie hier oben gewesen, weil sie sich bei ihr erkundigen wollte, ob sie ihren Schlüsselbund vielleicht wiedergefunden hatte.

Vergeblich.

Wenig später hatte Karens Mutter bei ihr angerufen. Sie war in großer Sorge, weil ihre Tochter, wie sie selbst durch einen Anruf erfahren hatte, nicht zur Arbeit erschienen war.

Rita drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Nichts geschah.

Irgendetwas stimmte da nicht.

Sie zückte ihr Handy und rief Karens Mutter an.

Diese meldete sich umgehend. »Hallo? Frau Born?«

»Ja.«

»Gibt es irgendetwas Neues?«

Rita holte tief Luft. »Haben Sie eigentlich einen Schlüssel für die Wohnung Ihrer Tochter?«

»Ja. Um Himmels willen, glauben Sie etwa, ihr könnte etwas zugestoßen sein?«

»Bitte, regen Sie sich nicht auf. Aber ich denke, es wäre besser, wenn ich ihn mir bei Ihnen abhole. Sind Sie einverstanden?«

Etwa eine Stunde später stand sie erneut vor Karens Tür.

Sie schob den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf.

»Karen?«, rief sie.

Keine Reaktion.

Es roch eigenartig in der Wohnung. Nahezu klinisch. Nach Chlor.

Wieder rief sie ihren Namen.

Es kam keine Antwort.

Ihre Hände begannen zu schwitzen.

Sie öffnete die Schlafzimmertür. Das Bett war ordentlich gemacht. Normalerweise hatte Karen einen Stapel Bücher am Bettrand liegen, das wusste sie von ihren Besuchen. Doch ihre Freundin schien aufgeräumt zu haben. Auch der Nachttisch war leer geräumt, die Oberfläche glänzte. Nur die Lampe stand darauf, exakt im rechten Winkel ausgerichtet.

Rita ging ins Wohnzimmer. Fassungslos starrte sie aufs Bücherregal. Sie wusste ja, dass Karen sehr belesen war und sämtliche Werke nach Autorennamen anordnete. Aber was war in sie gefahren, die Bücher nun nach Farbe und Größe zu sortieren?

Selbst die Kissen auf dem Sofa waren arrangiert, als hätte sie jemand mit dem Lineal abgezirkelt.

Sie schaute im Badezimmer nach. Eine beinahe gespenstische Ordnung. Auch hier roch es stark nach Chlor.

Rita ging zurück in den Flur. Er führte einmal um die Ecke herum. Sie blieb stehen, als sie die kleinen roten Stummel auf dem Boden liegen sah.

Was war das?

Sie waren wie eine Kette ausgelegt. Schnurgerade. Eine schimmernde Spur, die direkt vor der geschlossenen Küchentür endete.

Rita hob den Blick.

An der Klinke hing etwas.

Es war knallrot und grinste sie an.

Sie trat näher.

Ängstlich streckte sie die Hand nach der Klinke aus und drückte sie herunter.

Vorsichtig öffnete sie die Tür.

Sie schwang nach innen auf.

Auch in der Küche lagen die roten Stummel auf dem Boden. Die Spur endete am Tisch.

Und dort saß jemand.