In diesem Kapitel geht es um das, was sich psychologische Romane nennen ließe, um Werke der Belletristik also, in denen die Gedanken, Gefühle, Veranlagungen und Beweggründe der Figuren im Vordergrund stehen und erkundet wird, wie diese das äußere Geschehen beeinflussen. Oft heißt es, der psychologische Roman sei im 20. Jahrhundert aufgekommen, als Schriftsteller wie James Joyce, Joseph Conrad oder Virginia Woolf mit literarischen Ansätzen und Kunstgriffen wie innerer Monolog, Bewusstseinsstrom oder wechselnden Erzählerstimmen und Perspektiven zu experimentieren begannen. Arbeiten von Psychoanalytikern wie Sigmund Freud und C. G. Jung beeinflussten diese Autoren bei ihrer Suche nach neuen Wegen, Erfahrungen der Menschen in Literatur umzusetzen.
Psychologische Perspektiven in der Belletristik lassen sich jedoch deutlich weiter zurückverfolgen. Frühe englische Romane wie Samuel Richardsons Pamela (1740) und Laurence Sternes Tristram Shandy (1759) bedienten sich literarischer Techniken zur Erkundung der Gedanken und Gefühle ihrer Protagonisten. In Sternes Roman sehen viele den vielleicht ersten Fall von stream of conciousness in der Literatur. Zu weiteren Schriftstellern mit großem Einfluss auf den psychologischen Roman der Moderne zählen Fjodor M. Dostojewski und Knut Hamsun, die sich besonders mit dem Bewusstsein der Menschen und ihrer Persönlichkeit befassten.
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DON QUIJOTE
Klassiker aus dem frühen 17. Jahrhundert über Pleiten, Pech und Pannen eines verwirrten Mannes aus dem spanischen Landadel, der meint, er sei ein fahrender Ritter auf seiner Mission, Unrecht zu bekämpfen und ritterliche Tugenden wiederaufleben zu lassen.
Das Leben ist eine Herausforderung, und wer das Gute im Menschen befördern will, sollte gestaltend ins Leben eingreifen und nicht einfach alles so hinnehmen.
Der sinnreiche Junker Don Quijote von La Mancha (so der vollständige Titel) erschien in zwei Teilen 1605 und 1615 und gilt vielen als der erste moderne europäische Roman. Dafür gibt es viele Gründe, insbesondere Cervantes’ bahnbrechende Anwendung zahlreicher literarischer Gestaltungsmittel, die vier Jahrhunderte hindurch Generationen von Schriftstellern beeinflussen sollten. Die Rahmenhandlung dreht sich um Alonso Quijano, einen ältlichen Kleinadligen und Bücherwurm, dem Ritterromane so sehr den Kopf verdreht haben, dass er sich selbst für einen »fahrenden Ritter« mit entsprechender Mission hält. Er ändert seinen Namen in Don Quijote und macht sich auf den Weg, um seine Fantasien auszuleben.
Aus dem Ansatz des »tollen« Ritters auf Abenteuerfahrt ergeben sich zahlreiche Geschichten über die Suche des Helden und die Menschen, denen er unterwegs begegnet. Wie erwähnt, entwickelt Cervantes viele für seine Zeit neue literarische Gestaltungsmittel wie den unzuverlässigen Erzähler, Perspektivwechsel, Abschweifungen und Binnengeschichten. Der tragische »Witz« besteht natürlich darin, dass niemand sonst Quijano für edel und ritterlich hält; von seinem »Knappen« Sancho Pansa abgesehen, machen sich sämtliche Leute, denen er begegnet, über ihn lustig und nutzen ihn auf übelste Weise aus.
Der Roman Don Quijote geht vielen Themen nach, von der Schwelle zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Vernunft und Wahnsinn über die Klassenstruktur im Europa des Mittelalters bis hin zu Fragen der Identität und der Selbstermächtigung, um nur einige zu nennen. Es ist unmöglich, sich selbst nicht in Don Quijotes Streben wiederzufinden, »den unmöglichen Traum zu träumen«, wie es in einem Lied des Musicals Der Mann von La Mancha heißt.
Miguel de Cervantes war ein leidgeprüfter Soldat der spanischen Krone und kämpfte für sein Land gegen das Osmanische Reich. 1575 wurden er und sein Bruder Rodrigo gefangen genommen, dann wurde ein Lösegeld für ihre Freilassung gefordert. Cervantes’ Familie konnte nur das Geld für einen Bruder aufbringen und entschied sich für die Freilassung Rodrigos, sodass Miguel fünf Jahre lang in Gefangenschaft bleiben musste. In dem als »Die Geschichte des Sklaven« bekannten Abschnitt des Don Quijote wird beiläufig ein spanischer Soldat erwähnt, »ein gewisser de Saavedra«. Cervantes’ vollständiger Name lautete Miguel de Cervantes Saavedra, dies ist also eines von vielen Beispielen, in denen der Autor sich in seine eigene Erzählung mogelt.
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DAS HERZ ALLER DINGE
Ein verheirateter britischer Polizeibeamter im kolonialen Westafrika beginnt mit einer jungen Frau eine Affäre, die ihn in eine moralische Zwangslage bringt und nicht mit seinem Glauben zu vereinbaren ist, und so gerät sein Leben aus den Fugen.
Inwieweit ist jemand für das Glück der anderen verantwortlich? Wo liegen, wenn man in einen schweren ethischen Konflikt mit sich gerät, die Grenzen des christlichen Glaubens?
Dieser Roman aus dem Jahr 1948 erzählt die Geschichte von Henry Scobie, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs Polizeibeamter in einer westafrikanischen Hafenstadt. Scobie, gläubiger Katholik und gefangen in einer Ehe ohne Liebe, wird von Schuldgefühlen geplagt, weil seine Frau unglücklich ist und ihr einziges Kind etliche Jahre zuvor starb. Seine Frau Louise möchte sich in Südafrika erholen, und da er erneut bei der Beförderung übergangen wurde, muss Scobie, um ihre Überfahrt bezahlen zu können, einen Kredit bei einem Schwarzhändler vor Ort aufnehmen. Dann lernt er eine junge, traumatisierte Witwe kennen und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr – was eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, die zur Tragödie führen.
Wie in vielen Romanen von Graham Greene ist der Katholizismus hier ein zentrales Thema. Das ganze Buch hindurch wird die katholische Theologie erörtert, während Scobie eine Reihe emotional aufgeladener innerer Konflikte durchlebt und mit Fragen von Schuld, Erbarmen, Verdammnis und Erlösung ringt.
Das Herz aller Dinge ist ein klaustrophobischer Roman, sein trostloser Schauplatz steht als Kulisse sinnbildlich für die Kernthemen des Buchs. Immer wieder wird das drückende und bedrückende Klima beschrieben, die schwüle Hitze und die Luftfeuchtigkeit lassen bereits erahnen, in welche Feuer der Verdammnis Scobie hinabsteigen muss. Am Ende wird Scobie seiner besten Absichten zum Trotz von der Sünde des Hochmuts und der Bürde des Mitleids eingeholt: »Später schien es Scobie, dass dies die äußerste Grenze war, die er in Sachen Glück erreicht hatte: in der Dunkelheit zu sein, allein, während der Regen fiel, ohne Liebe oder Erbarmen.«
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OBLOMOW
Russischer Roman aus dem 19. Jahrhundert über einen Adligen, der krankhaft unfähig ist, Entscheidungen zu treffen, und lieber ein Leben in Trägheit führt.
Kein moralischer Imperativ zwingt einen, es anderen gleichzutun. Das Leben besteht aus vielen scheinbar wichtigen Entscheidungen und Handlungen, die jede für sich betrachtet läppisch und bedeutungslos sind.
Der titelgebende Held dieses Romans von 1859 ist das Paradebeispiel des »überflüssigen Menschen«, einer zentralen Gestalt der russischen Literatur (siehe auch Ein Held unserer Zeit). Der reiche und gebildete russische Aristokrat Ilja Iljitsch Oblomow verbringt seine Tage im Bett oder im Sessel und mokiert sich über die Zumutungen des Alltags. Die geringste Störung in seinem aus nichts als Faulenzen und Schlafen bestehenden Dasein bringt ihn in tiefe Bedrängnis. Bei jedem aufkommenden Problem hofft Oblomow, dass es einfach verschwindet, indem man es ignoriert.
Eigentliche Handlung gibt es nur wenig: Die ersten 200 Seiten hindurch befindet sich Oblomow in seinem Bett. Dabei wird er von diversen Freunden und Bekannten besucht, deren Betriebsamkeit und Sorgen bei ihm auf wenig Interesse stoßen, sondern ihn nur darin bestärken, dass man lieber gar nichts tut.
Oblomow ist ein origineller Roman, und obwohl auf seiner Oberfläche über 800 Seiten lang nicht wirklich viel passiert, ist das Buch nie langweilig. Es zieht den Leser hinein in Oblomows Welt, in seine Gedanken und Eingebungen, seine Ängste, Neurosen und Träume. Das Buch driftet auf eine träge, schläfrige Weise dahin und bildet den Charakter seines Anti-Helden damit vollendet ab. Es wurde zunächst vor allem als Satire auf den Niedergang der russischen Aristokratie gelesen, später nahm man verstärkt seine psychologischen Aspekte in den Blick, insbesondere Oblomows Unbehagen angesichts der Hektik der modernen Zeiten, oder wie Oblomow selbst sagt: »Das Leben lässt einem doch gar keine Ruhe; überall fasst es einen an.«
Vom italienischen Schriftsteller Riccardo Aragno stammt eine Theaterfassung von Oblomow. Der in Großbritannien damals sehr bekannte Komiker Spike Milligan, ein Fan von Gontscharows Roman, erwarb 1964 die Aufführungsrechte und ließ das Stück in London inszenieren, denn er wollte auch einmal eine ernste Rolle spielen. Bei der Premiere wurde Milligan von Nervosität heimgesucht und vergaß viel von seinem Text. Um die Sache zu retten, griff er auf das zurück, was er am besten konnte: improvisierte, anarchische Comedy. Bei der Kritik kam das Stück nicht gut an, doch fortan nutzte Milligan Oblomow als Grundlage für durchgeknallte Improvisationen und machte jeden Abend spontan etwas anderes aus dem Stück. Er unterhielt sich mit dem Publikum, saß zu Beginn der Aufführung mit im Saal, trug künstliche Gliedmaßen und nannte Darsteller bei ihren richtigen Namen. Einmal sah Milligan, dass Peter Sellers, sein Kollege und Freund aus der Goon Show, als Gast von Queen Elizabeth II. in der Königsloge saß. Milligan unterbrach sein Spiel und begann mit Sellers, der sofort darauf einstieg, eine mehrminütige Improvisation. Die Show war ein großer Publikumserfolg. Weil sie nur noch wenig Ähnlichkeit mit Aragnos Drehbuch hatte, wurde sie bald in Son of Oblomov umbenannt.
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DIE GLASGLOCKE
Ein autobiografisch grundierter Roman über das Leben einer begabten jungen Schriftstellerin, die mit psychischen Problemen und ihrem Selbstwertgefühl kämpft.
Eine vernichtende Kritik am Umgang mit eigenständigen, aufstrebenden Frauen in den 1950er-Jahren und den Erwartungen der Gesellschaft an sie.
Der einzige Roman der US-amerikanischen Dichterin Sylvia Plath ist ein Schlüsselroman, was bedeutet, dass sich die realen Vorbilder hinter den fiktiven Figuren und Ereignissen relativ leicht entschlüsseln lassen. Er erzählt das Leben von Esther Greenwood, einer begabten Studentin, die ein Praktikum bei einer angesehenen New Yorker Modezeitschrift gewonnen hat. Von der oberflächlich wirkenden Welt um sie herum fühlt sich Esther zunehmend abgeschreckt, und sie beginnt, in Angstzustände, Depressionen und schließlich Selbstmordgedanken zu versinken. Sie unterzieht sich einer Reihe von »Behandlungen«, darunter einer Elektroschocktherapie.
Hinter der freimütigen, ehrlichen Schilderung des Kampfes einer jungen Frau mit ihren psychischen Problemen steht ein dunkles Vermächtnis: Kurz nach Erscheinen des Buchs im Jahr 1963 nahm sich Sylvia Plath das Leben. Vieles in Die Glasglocke ist jedoch auch komisch und ätzend. Esthers Gedanken und Selbstreflexionen sind gespickt mit köstlichem Sarkasmus und ähneln bisweilen einer Abfolge kluger Aphorismen, zum Beispiel: »Das schlimmste war, ich war schon immer unzulänglich gewesen, ich hatte nur nie darüber nachgedacht.«
Der ungewöhnliche Roman Die Glasglocke vermittelt sehr gut, unter welchem Druck eine Frau der amerikanischen Mittelschicht in der Nachkriegszeit stand, einem von ihr geforderten bestimmten Ideal zu entsprechen. Zudem macht er deutlich, wie die Gesellschaft einen Menschen um sein Gefühl bringt, selbstbestimmt zu leben: »Für den, der eingezwängt und wie ein totes Baby in der Glasglocke hockt, ist die Welt selbst der böse Traum.«
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DER FREMDE
Ein missmutiger Mann, unempfänglich für die Gefühle und Emotionen der Menschen um ihn herum, begeht einen sinnlosen Mord, für den er weder Schuld empfindet noch Reue zeigt.
Nach einem Sinn im Leben zu suchen, ist eine absurde Sache, wenn es keine höhere Sinnhaftigkeit oder Ordnung in der Welt gibt.
Der Fremde, auf Französisch L’Étranger, gilt gemeinhin als existenzialistischer Roman über die vergebliche Mühe, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Meursault, der gegenüber den Gefühlen anderer Menschen seltsam teilnahmslose Held dieses Buches, wird in eine Fehde seines Nachbarn Raymond mit einer Ex-Freundin und ihrer Familie hineingezogen. Nach einem heftigen Streit am Strand, bei dem der Bruder der Ex mit seinem Messer fuchtelt, kehrt Meursault mit einer Pistole an den Strand zurück, trifft dort eher zufällig auf den Mann und erschießt ihn. Während der nun folgenden Haftzeit und des Prozesses versucht Meursault das alles zu verstehen und ringt um eine vernünftige Erklärung für die Mordtat.
Seinen Roman existenzialistisch zu nennen, lehnte Camus ab, zum einen, weil er dieses Label nicht mochte, zum anderen, weil er der »Lehnstuhl-Philosophie« misstraute. Wenngleich manches in dem Buch klar auf den Existenzialismus verweist und geistiger Nihilismus zu dieser Zeit hoch im Kurs stand, treten in jüngerer Zeit neue Deutungsansätze in den Vordergrund.
Meursaults völliger Mangel an Empathie und Verständnis für die Gefühle anderer, seine emotionale Distanziertheit und die Überempfindlichkeit für Wärme, Licht und Geräusche sind typisch für Autismus-Störungen wie dem Asperger-Syndrom. 1942, als Der Fremde erschien, wusste man wenig über Autismus, und erst Jahrzehnte später wurde das Asperger-Syndrom als Krankheit klassifiziert. Camus dürfte Meursault einem Bekannten mit auffällig antisozialen Zügen nachempfunden haben, die mit dem Asperger-Syndrom übereinstimmen. Denkbar also, dass Camus gar keine Suada auf die Vergeblichkeit der Suche nach dem Sinn des Lebens schreiben wollte, sondern ungewollt eine überzeugende Darstellung von Autismus geliefert hat, die schon die erste Zeile des Romans auf den Punkt bringt: »Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.«
Das französische Wort l’étranger hat mehrere verwandte, doch unterschiedliche Bedeutungen. Es kann jemanden bezeichnen, der in einem fremden Land lebt (Meursault lebt als Franzose in der französischen Kolonie Algerien), eine von der Gesellschaft entfremdete Person oder einen einsamen Reisenden. In Großbritannien erschien der Roman als The Outsider und in den USA als The Stranger. Dem liegt kein Streit über die richtige Übersetzung zugrunde, sondern eine Kommunikationspanne. Die erste englische Übersetzung war als The Stranger geplant, aber ein britischer Verlag hatte kurz zuvor den Roman Cudzoziemka der polnischen Schriftstellerin Maria Kuncewiczowa unter dem Titel The Stranger herausgebracht, sodass Camus’ Buch in Großbritannien zu The Outsider geändert wurde. Leider vergaß man, den amerikanischen Verlag, mit dem man sich die Übersetzungsrechte teilte, rechtzeitig über die Änderung zu informieren, daher die verschiedenen Titel.
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GEZEICHNET
Roman mit autobiografischen Zügen über das von Depression und Selbstzerstörung gezeichnete Leben eines tiefunglücklichen Japaners von seiner Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter.
Wer mit seinem Selbstwertgefühl hadert und glaubt, sich verstellen zu müssen, um von anderen akzeptiert zu werden, ist Depressionen und gesellschaftlicher Entfremdung preisgegeben.
Gezeichnet schildert das Leben und die Gedanken des jungen Japaners Ōba Yōzō in Form seiner Notizen in nachgelassenen Heften. Ein namenloser Autor/Herausgeber, der an sie gelangt ist, hat einen Prolog und einen Epilog dazu geschrieben, die den Roman rahmen.
Ōba Yōzōs Leben wird in drei Teilen erzählt, den Aufzeichnungen in drei Heften, wobei sich jeder Teil einer bestimmten Zeit in Ōbas kurzem Leben mit seiner psychischen Störung und seinem Trauma widmet. Im ersten Heft hat das Kind Ōba Mühe, mit der Außenwelt in Beziehung zu treten, es empfindet tiefe Gefühle der Entfremdung und Andersartigkeit. Um seiner quälenden Einsamkeit zu entkommen und mit Menschen in Beziehung treten zu können, gibt Ōba den Clown, auch wenn er sich innerlich dafür schämt, anderen etwas vorzugaukeln. Ōba wird sexuell missbraucht, beschließt aber, darüber zu schweigen aus Angst, dass ihm niemand glaubt.
Das zweite und dritte Heft erzählen von Ōba als Oberschüler und jungem Erwachsenen und schildern, wie er immer wieder Phasen voller Verzweiflung und Selbstmordgedanken durchleidet. Ōba trinkt stark, vernachlässigt sein Studium und wird von der Universität verwiesen. Er beginnt mehrere unpassende und aussichtslose Frauengeschichten, eine mündet in einen misslingenden Doppelsuizidversuch und damit in neue Schuldgefühle und noch tieferen Selbsthass. Für kurze Zeit hat Ōba eine erfreuliche Beziehung zu einer jungen Frau, die ihm dabei hilft, mit dem Trinken aufzuhören, doch ein alter Freund, der wieder auftaucht, sieht ihn erneut in Depression und Selbstzerstörung abgleiten. Diese verstörende Darstellung von gesellschaftlicher Entfremdung, Einsamkeit und Depression, erschienen 1948, zählt zu den Meisterwerken japanischer Literatur des 20. Jahrhunderts.
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TRISTRAM SHANDY
Eine ausufernde, lustige Fake-Autobiografie über das Leben des Gentlemans gleichen Namens und seiner Familie und Bekannten.
»Alles was ich wünsche, ist, dass es der Welt eine Lektion sein möchte, damit sie die Leute ihre Geschichten auf ihre eigene Weise erzählen lässt.« Tristram Shandy
Dieser komische Episodenroman von 1759 (sein vollständiger Titel: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman) ist bekannt dafür, dass er erstmals verschiedenste Ansätze experimentellen Schreibens erprobt. Sterne bedient sich Techniken des Bewusstseinsstroms, der gedehnten Erzählzeit und der Leseransprache. Damit bereicherte und erweiterte er in großem Stil die Möglichkeiten der Gattung Roman.
Hier soll eine Autobiografie erzählt werden, doch Sterne konterkariert dies bewusst, indem er mit Tristrams Geschichte schon in der Zeit vor seiner Geburt einsetzt. Einen anderen klassischen Erzählansatz stellt er ebenfalls auf den Kopf: das homerische Verfahren, den Erzähler in der Mitte einer Handlungsfolge zu positionieren, von wo aus Rückschau auf Zusammenhänge und Details gehalten werden kann, die im weiteren Verlauf der Geschichte wieder von Bedeutung sein werden. Tristram Shandy dagegen kann als Erzähler nichts schildern, ohne ständig und unsortiert auf seine »Meinungen« zu sprechen zu kommen. So vergehen zweieinhalb der neun Bände mit – relevanten oder auch ganz unnützen – Hintergrundinformationen und Abschweifungen (die Sterne reichlich Raum für satirischen Witz bieten), bevor die Titelfigur überhaupt zur Welt kommt.
Sterne wurde stark von dem französischen Satiriker François Rabelais beeinflusst (siehe Gargantua und Pantagruel) und teilt mit ihm die Faszination für Fäkalscherze und die Leiblichkeit des Menschen. Einmal wird das Kind Tristram versehentlich beschnitten, während es aus dem Fenster pinkelt. Nasen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman, da Tristrams Vater der Ansicht ist, ein glückliches Leben setze eine markante und wohlgeformte Nase voraus (Tristrams Nase wird bei der Geburt eingedrückt). Sterne erweist Rabelais (und auch Cervantes’ Don Quijote) direkt seine Reverenz, indem er ganze Abschnitte aus Rabelais’ Werk entlehnt und sie mit komischer Wirkung seiner Schreibweise anverwandelt. Tristram Shandy ist keine leichte Lektüre – die Abschweifungen machen sie mit Absicht schwierig –, aber es bleibt ein höchst einflussreiches Buch, das mit seiner Kernbotschaft »Lasst die Leute ihre Geschichten auf ihre eigene Weise erzählen« die Literatur für Experimente und ganz neue Spielarten des Komischen geöffnet hat.
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DIE ABENTEUER DES AUGIE MARCH
Pikaresker Roman über einen mittellosen jüdischen Jungen, der zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in Chicago aufwächst und sich seinen Weg ins Leben erkämpft.
Hör nicht darauf, was andere über deine Möglichkeiten und Grenzen sagen, sondern nimm dein Schicksal selbst in die Hand.
In der Literaturgeschichte ist der Pikaro ein liebenswerter Schelm von meist niederer Herkunft, der es mit Geschick und »Bauernschläue« im Leben voranbringt. Der Held solcher Romane ist ein unabhängiger Kopf, der in allerhand Situationen gerät und sich stets zu helfen weiß. Augie March ist so ein typischer Schelm in moderner Ausführung, und dieses Buch von 1953 beobachtet ihn dabei, wie er sich durchs Leben schlägt, wobei er seine »Abenteuer« in den diversen, sein Überleben sichernden Tätigkeiten und seinen Beziehungen zu Frauen und seiner Familie findet.
Augie kommt in einer armen, sozial benachteiligten Familie in den Slums von Chicago zur Welt. Er wächst ohne Vater auf, seine Mutter verliert ihr Augenlicht. Orientierung im Leben erhält er einzig von der (nicht blutsverwandten) »Großmutter«, einer tyrannischen jüdischen Matriarchin. Augie verkörpert in vielerlei Hinsicht die Kehrseite des amerikanischen Traums, denn obwohl er nach Erfolg strebt, gelangt er nie ganz an sein Ziel, muss immer wieder von vorn anfangen oder wird von seiner Herkunft eingeholt. Mehrfach versuchen andere Leute Augie für ihre Sache einzuspannen, die sich teils am Rand der Kriminalität bewegt oder ethisch fragwürdig ist. Irgendwie jedoch fällt er stets wieder auf die Füße und kämpft weiter, auf der Jagd nach seinem Traum. Am Ende des Romans philosophiert Augie über das Wesen des Scheiterns und kommt zu dem Schluss, wichtig sei nicht das Ziel, sondern der Weg zur Selbstverwirklichung.
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DER FÄNGER IM ROGGEN
Episodenroman über zwei Tage im Leben des deprimierten Jugendlichen Holden Caulfield, der von der Schule verwiesen wird und durch New York irrt.
Die Herausforderungen des Lebens bewältigt man besser, wenn man ein paar Leute kennt, die wirklich zu einem halten. Vor Problemen wegzulaufen, macht diese nur noch schlimmer.
Oberflächlich betrachtet ist der Held und Erzähler von Der Fänger im Roggen (1951) der Urtypus eines »Rebellen ohne Anlass«. Holden Caulfield stammt aus wohlhabender Familie, ist intelligent und wortgewandt und besucht ein Internat von Rang. Doch hinter der Fassade des Privilegierten steckt ein sehr wütender, geplagter Teenager, der mit dem Erwachsenwerden zu kämpfen hat.
Zu Beginn des Romans lässt Holden ein Geschehnis Revue passieren, das den letzten Ausschlag zu seiner geistigen Erschöpfung gegeben hat. Nachdem er aufgrund mangelnder Leistungsbereitschaft von der Schule verwiesen wurde, verbringt Holden ein Wochenende in New York und hofft durch eine Reihe von Zufallskontakten auf einen Menschen zu stoßen, der ihm etwas bedeuten könnte.
Der Fänger im Roggen war als Buch für Erwachsene gedacht; aufgrund seiner einfühlsamen Darstellung der Ängste und Fremdheitsgefühle Heranwachsender ist es jedoch auch bei Jugendlichen beliebt. In Holdens Kämpfen und seinem rebellischen Wesen können sie sich gut wiedererkennen.
Holden wettert gegen »verlogene« (oberflächliche) Menschen und Umstände und ist auf der Suche nach etwas, das er nicht zu benennen weiß. Ein Schlüssel zu seinem Gemütszustand ist, dass er unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Auf zwei Ereignisse in Holdens Vergangenheit wird hingedeutet: dass sein jüngerer Bruder Allie an Leukämie gestorben ist und dass ein Mitschüler Selbstmord begangen hat.
Dieses Buch lässt sich als Coming-of-Age-Roman lesen, der Themen wie Identität, Bewusstwerdung, Verzweiflung und Erwachen der Sexualität behandelt, wobei er auch die Symptome und Folgen psychischer Erkrankungen anschaulich macht, die unter Jugendlichen zunehmend verbreitet sind. Eines lässt sich aus dieser Lektüre ganz klar mitnehmen, nämlich dass junge Menschen ihre Probleme nicht allein bewältigen können; sie benötigen Unterstützung und Verständnis.
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HUNGER
Ein erfolgloser junger Schriftsteller irrt geistig und körperlich abgezehrt durch die Straßen Oslos. Auf der Suche nach Essen und einer Unterkunft hat er diverse Begegnungen mit Menschen.
Ein Roman über den Widerstreit zwischen Individuum und Gesellschaft und darüber, was Armut und Hunger mit der Seele und der körperlichen Verfassung vereinsamter Menschen machen.
Hunger, erschienen 1890, gilt vielen als der erste existenzialistische Roman und als Vorbote all der psychologischen Romane des 20. Jahrhunderts. Die Handlung, so man denn von einer sprechen mag, spielt sich in Form von Stream-of-consciousness-Monologen im Kopf eines namenlosen leidenden Schriftstellers ab, der durch die Stadt Kristiania (heute Oslo) irrt.
Im wörtlichen wie übertragenen Sinn wird Hunger zum zentralen Motiv des Erzählers. Ausführlich schildert er seine Verwirrtheit, die Schmerzen und die Müdigkeit, während er erdulden muss, wie sich der Hunger auf seinen Körper und Geist auswirkt. Auf einer höheren Ebene steht der Begriff der Leere für eine Kritik an der Moderne und an urbaner Vereinzelung, denn der Erzähler begegnet vielen Leuten, die einsam, entfremdet und bedürftig sind. Hunger zielt allgemein auf die gewaltigen Zwänge, denen alle Menschen ausgesetzt sein können.
Der Erzähler hat beschlossen, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen, weil er über den anderen Menschen zu stehen meint. Eitelkeit und Selbstgefälligkeit suchen ihn heim, mehrmals verschweigt er aus Stolz seine verzweifelte Lage oder zeigt sich auf eine irrationale Art großzügig, die seinem eigenen Wohlbefinden zum Nachteil gereicht. Dieses Buch ist keine allzu unterhaltsame Lektüre, speziell wenn es die Auswirkungen der Entkräftung auf den Körper schildert. Der Roman ist autobiografisch grundiert, der junge Hamsun hat selbst Hunger gelitten, während er als Schriftsteller zu reüssieren versuchte, was ihm mit diesem Buch schließlich gelang.
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PAMELA
Roman aus den Briefen und Tagebucheinträgen der Dienstmagd Pamela Andrews, die nach dem Tod ihrer Herrin zum Objekt unerwünschter und unangemessener Avancen durch ihren neuen Herrn wird.
Wer stets moralisch integer und seinen Überzeugungen treu bleibt, wird eines Tages den Lohn dafür erhalten.
Pamela oder die belohnte Tugend (1740) erzählt das Leben einer hübschen jungen Dienstmagd, zunächst mittels Briefen und später Tagebucheinträgen, die sämtlich an ihre Eltern gerichtet sind. Nach dem Tod ihrer Herrin Mrs B. tritt Pamela in den Dienst ihres Sohnes Mr B., der ihr Anwesen geerbt hat.
Mr B. unternimmt hartnäckige Versuche, Pamela für sich zu gewinnen. Zunächst überhäuft er sie mit Geschenken, doch als er mit Aufmerksamkeiten abblitzt, geht er zu immer extremeren Maßnahmen über. Nachdem zahlreiche Regelüberschreitungen wie Voyeurismus, Bestechung, sexuelle Übergriffigkeit und Entführung Pamelas Tugend nicht haben beflecken können, erkennt Mr B. das von ihm verursachte Leid und ändert sich von Grund auf. Er bereut seine Taten und lässt seine Gefangene entkommen und zu ihrer Familie zurückkehren. Als Mr B. sich in einem Brief für sein sündiges Verhalten bei Pamela entschuldigt und sie um Verzeihung bittet, befällt sie eine gewisse Schwermut, und sie erkennt, dass sie insgeheim Liebe für ihn empfindet. Und als Mr B. erkrankt, kehrt Pamela zurück, pflegt ihn und nimmt, nachdem er genesen ist, seinen Heiratsantrag an.
Pamela ist einer der ersten Romane, der die Psyche einer Figur, ihre inneren Gedanken und Gefühle erforscht. Zu seiner Zeit war er mit seiner Schilderung des englischen Klassensystems und einer Heirat über Klassengrenzen hinweg ziemlich provokant, wobei letztere viel Kritik einstecken musste. Dies ist zudem der erste Roman, der sich mit häuslicher Gewalt, sexuellen Übergriffen und dem Zwangsregime des Mannes über die Frau befasst. Wie Richardson selbst zu diesen Themen stand, ist unklar. Vermutlich glaubte er, eine literarische Form von »Benimmbuch« vorzulegen, wie es zu seiner Zeit beliebt war und Ratschläge zu guten Umgangsformen und sittlichem Verhalten erteilte.
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SCHULD UND SÜHNE
Ein armer ehemaliger Student plant und begeht einen Mord, den er für »erlaubt« hält, da er seine geistige und moralische Überlegenheit anderen gegenüber demonstriert.
Moral und Ethik lassen sich nicht mit Verstandesgründen erklären, das geht an der Komplexität der menschlichen Seele und dem emotionalen Gehalt von Begriffen wie Schuld, Verantwortung und Gerechtigkeit vorbei.
Dies ist die Geschichte Rodion Raskolnikows, eines bitterarmen, geplagten jungen Mannes, der eine raffgierige Pfandleiherin ermordet. Raskolnikow rationalisiert den Mord mit der Begründung, er sei seinem Opfer moralisch und geistig überlegen. Außerdem hatte er vor, die Frau zu berauben. Dies sollte seinem Verbrechen eine zweite utilitaristische Rechtfertigung liefern, denn das Geld hatte die Frau schließlich armen Menschen in verzweifelter Lage abgeknöpft und er selbst wird es für hehre Zwecke verwenden. Nach dem Mord wird Raskolnikow von seelischen Ängsten geplagt, er verfällt in einen fiebrigen Dämmerzustand, während dem er sich mit den inneren und äußeren Folgen seiner Tat auseinandersetzt.
Raskolnikow ist eine besonders einprägsame und vielschichtige Schöpfung Dostojewskis. Mit seinem Überlegenheitskomplex, seinem Narzissmus und seinem Glauben, er könne hemmungslos nach Belieben Dinge tun, weist er so ziemlich alle Symptome eines Soziopathen auf. Entgegen seinen nihilistischen Beteuerungen jedoch handelt Raskolnikow ein Stück weit aus Edelmut und echtem Mitgefühl für Menschen, die ausgebeutet werden und schuldlos leiden.
Angeregt zu Schuld und Sühne (in neuerer Übersetzung auch: Verbrechen und Strafe) wurde Dostojewski insbesondere durch seinen Argwohn gegenüber radikalen Bewegungen unter den russischen Intellektuellen seiner Zeit. Anhand der Figur des Raskolnikow verdeutlichte er in seinem 1867 erschienenen Roman die Gefahren, die er darin sah, neumodische »westliche« Strömungen der Philosophie wie Rationalismus und Utilitarismus auf die Spitze zu treiben. Für Dostojewski ging Rationalismus, wenngleich an sich ein Prüfstein der Wahrheit, auf Kosten genuin christlicher Empfindungen wie Empathie und Mitgefühl. In Schuld und Sühne stellt er diesen Widerstreit in Raskolnikows Tat, seinem tiefen Fall und seiner letztlichen Erlösung dar.
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WILDE SCHAFSJAGD
Surreale Pseudo-Detektivgeschichte über die Suche nach einem Wandergeist in Gestalt eines rätselhaften Schafs, das demjenigen, der von ihm besessen ist, übernatürliche Kräfte verleiht.
Wer innerlich reift, hat die Chance, sein wahres Wesen besser zu verstehen und anzunehmen.
Dieser dritte Teil einer als »Trilogie der Ratte« bekannten Folge von Romanen erzählt weiter von den Abenteuern eines namenlosen Erzählers und seines Freundes »Ratte«. Das 1982 erschienene Buch lässt sich jedoch auch ohne Kenntnis der beiden Vorgänger-Romane, Wenn der Wind singt (1979) und Pinball 1973 (1980), als eigenständiges Werk lesen. Wilde Schafsjagd markiert für Murakami eine auffällige Wende in Sachen Stil und Genre. Waren die beiden Vorgänger realistisch und nachdenklich in Tonfall und Sprache, entwickelt er hier eine genreübergreifende Mischung aus Surrealismus, Mystik und dem Absurden, die dann zum Markenzeichen seines Werks werden sollte.
Die Handlung ist teils Krimi, teils mystische Suche: Der Erzähler soll ein ganz bestimmtes Schaf finden; es ist von einem übernatürlichen Geist besessen, der die Seelen von Menschen bewohnen und ihnen besondere Kräfte verleihen kann. Mittels traumähnlicher Wahnbilder, wilder Handlungssprünge, innerer Monologe und philosophischer Reflexionen gestaltet Murakami die Suche nach dem Schaf als eine Reise hin zu Selbsterkenntnis und dem Klarkommen mit Verlust.
Dieser Roman entzieht sich jeder Einordnung, da er fernöstliche Traditionen mit Elementen aus Hardboiled-Thriller und Science-Fiction, einem trockenen Humor und viel Mystik verbindet. Murakamis Romane haben eine ähnliche DNA wie das Werk von Kurt Vonnegut (siehe Schlachthof 5), der ebenfalls literarische Formen genüsslich ineinander gerührt und Murakami anerkanntermaßen beeinflusst hat, wenngleich dessen Romane auch den Einfluss japanischer Manga-Comics und der Anime-Kultur in sich tragen. Wilde Schafsjagd gilt als der erste »typische« Murakami und eignet sich gut als Einstieg, um aus seiner verwegenen, abstrakten Perspektive die moderne Gesellschaft Japans zu erkunden.
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DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY
Ein distinguierter junger Dandy erkauft sich ewige Jugend und Schönheit um den Preis seiner Seele, die durch sein hedonistisches, amoralisches Leben verdorben wird.
Ein von Eigensucht, Eitelkeit und Ausschweifung geprägtes Leben mündet in Elend und Selbstzerstörung.
Zu Beginn dieses Romans malt der Künstler Basil Hallward ein Ganzkörperporträt des höchst attraktiven Dorian Gray, in dem dessen Jugend und Lebenskraft ganz zum Ausdruck kommt. Während er das Bild betrachtet, meint Dorian, er würde gern mit dem Porträt tauschen, sodass sein Bild altern und an Schönheit einbüßen würde, während er für immer jung bliebe.
Während sich Dorian genussvoll ausschweifenden Vergnügungen hingibt, weiß er noch nicht, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Er verliebt sich in Sibyl Vane, eine in ihn vernarrte junge Schauspielerin, und sie verloben sich. Doch Sibyl geht so in ihrer Liebe zu Dorian auf, dass sie darüber ihre Darstellungskunst einbüßt. Dorian fährt Sibyl daraufhin heftig an, er habe ihr Spiel anziehend gefunden, ohne diese Fähigkeit würde sie ihm nichts bedeuten. Als Dorian heimkommt, stellt er fest, dass sein Porträt einen spöttisch-grausamen Zug angenommen hat. Er erkennt den Zusammenhang, beschließt, sich mit Sibyl zu versöhnen und sie um Verzeihung zu bitten, muss jedoch erfahren, dass sich Sibyl bereits gebrochenen Herzens das Leben genommen hat. Diese Sache konnte Dorian nicht wiedergutmachen, und nun verliert er die letzten moralischen Hemmungen. Er versteckt das Porträt in einem verschlossenen Raum und gleitet immer tiefer hinab in ein Leben im schrankenlosen Exzess.
Als der Roman 1891 in Buchform erschien, schrieb Oscar Wilde dazu ein Vorwort, das sich wie ein Manifest zugunsten der für Wilde so anziehenden Fin-de-Siècle-Bewegung in Kunst und Philosophie liest. Darin erklärte er: »So etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles.« Wilde reagierte damit auf die Kritik am Roman, der bei seiner Erstveröffentlichung in einer Literaturzeitschrift aufgrund seiner Darstellung von Hedonismus und kaum verhüllter Homoerotik für erregte Debatten gesorgt hatte. Tatsächlich ist Das Bildnis des Dorian Gray ein zutiefst moralisches Buch über die Folgen verantwortungsloser Jagd nach immer neuen Lustbarkeiten.
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FRANKENSTEIN
Ein begabter Wissenschaftler erschafft ein künstliches Wesen in der Hoffnung, damit der Menschheit zu dienen, doch sein Geschöpf ist ein missgestaltetes Monster und erfährt Ablehnung von seinem Schöpfer und anderen Menschen. Was es dazu veranlasst, sich an ihnen zu rächen.
Es ist gefährlich, ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen seines Handelns »Gott zu spielen«. Um im Leben bestehen zu können, braucht jeder das Gefühl, irgendwo dazuzugehören und richtig eingebunden zu sein.
Frankenstein oder Der moderne Prometheus (so der vollständige Titel), erschienen 1818, ist ein aus drei Perspektiven erzählter Schauerroman. Den ersten Abschnitt bilden Briefe von Kapitän Walton, dem Leiter einer Expedition zum Nordpol, an seine Schwester. Walton schildert den Anblick einer riesigen Gestalt, die einen Hundeschlitten über das Eis zieht und später auf einen Mann trifft, Victor Frankenstein, der an Mangelernährung und Unterkühlung leidet. Dann übernimmt Frankenstein und erzählt die Geschichte seiner wissenschaftlichen Experimente bis zu dem Punkt, an dem er seinem Humanoiden Leben einhaucht, wobei er entsetzt ist über das Ergebnis. Fortan meidet er sein Geschöpf.
In seinen Bericht eingebettet ist wiederum der Bericht des Monsters, das Frankenstein irgendwann seine Geschichte erzählt haben dürfte. Das Monster berichtet von seinem Behauptungskampf in der Welt der Menschen und von der Angst, Ablehnung und Feindseligkeit, die er bei ihnen hervorruft. Dass Frankenstein es von sich stieß, hat das Monster verbittert, dennoch beschließt es irgendwann, seinen Schöpfer aufzusuchen, da er allein die Verantwortung dafür trägt, sein Leben gestalten zu können. Gequält vom Ergebnis seiner Experimente und aus Angst vor den möglichen Folgen für die Menschheit, sollte er dem Monster eine Partnerin erschaffen, verrät Frankenstein seine Schöpfung ein zweites Mal. Die Folge sind eine Serie von Morden und ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod.
Frankenstein gilt den meisten als Horrorgeschichte, ist jedoch auch eines der frühesten Werke der Science-Fiction-Literatur. Was seine komplexen Themen und die Erzählstruktur angeht, ist das Buch enorm anspruchsvoll, zumal wenn man bedenkt, dass Mary Shelley bei seiner Niederschrift erst neunzehn Jahre alt war.
Die gängige Vorstellung von Frankensteins Monster als einer Kreatur, die aus willkürlich zusammengeflickten menschlichen Körperteilen besteht und mittels Elektrizität zum Leben erweckt wird, ist von Mary Shelleys eigener Beschreibung nicht gedeckt. Im Roman kommt Frankenstein durch jahrelanges Studium hinter das Geheimnis, tote Materie zum Leben zu erwecken, und verbringt Monate damit, seine humanoide Figur aus Teilen zu formen, die er sich »aus dem Seziersaal und auch dem Schlachthaus« beschafft. Der Anblick von Frankensteins Monster auf Halloween-Masken und in Comics ist eine Erfindung Hollywoods und geht auf Maske und Kostüm der Verfilmung von 1931 mit Boris Karloff in der Titelrolle zurück.
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ULYSSES
Experimenteller Roman der Moderne über die Gedanken, Wege und Begegnungen von Leopold Bloom an einem einzigen Tag, dem 16. Juni 1904, in Dublin, Irland.
Das menschliche Bewusstsein ist ein Wunderding, es lässt uns in gewöhnlichen Alltagserfahrungen das Außergewöhnliche sehen, wodurch das Leben eines Jeden wertvoll und einzigartig wird.
Ulysses spielt an einem Tag im Leben von Leopold Bloom, der Hauptfigur, seiner Frau Molly Bloom sowie Stephen Dedalus, einem Bekannten Blooms. Seine 18 Kapitel oder Episoden lassen sich jeweils Figuren oder Begebenheiten aus Homers Odyssee zuordnen (Ulysses ist der lateinische Name für Odysseus, den Helden der Odyssee).
In Homers Versepos bekommt es Odysseus auf seiner Irrfahrt heim zu seiner Frau mit Stürmen und Schiffbrüchen, Göttern und Ungeheuern zu tun. Leopold Blooms weit profanere Streifzüge durch Dublin bis zur Heimkehr zu seiner Frau sind in ihren Bezügen zu Homer bewusst ironisch gehalten. Die Zauberin Kirke zum Beispiel, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt, hat ihre Parallele in Bella Cohen, der Chefin eines von Bloom und Dedalus besuchten Bordells. Der riesige Zyklop bei Homer erscheint in Ulysses als betrunkener, rasender Antisemit, »der Bürger« genannt, den seine hasserfüllten nationalistischen Phrasen »geblendet« haben und mit dem Bloom in Barney Kiernans Pub in Streit gerät. Als Odysseus dem Zyklopen entkommt, verhöhnt er ihn beim Davonsegeln und provoziert den Riesen, einen gewaltigen Felsen nach den Schiffen zu schleudern. Als Bloom in Ulysses aus dem Pub flieht, wirft der Bürger eine Keksdose nach ihm.
Der 1922 erschienene Ulysses wird von Literaturkennern für seinen innovativen, experimentellen Gebrauch der Sprache verehrt. Joyce bedient sich nicht nur althergebrachter Stilmittel, sondern strapaziert durch Bewusstseinsstrom, Wortspiele, defekten Satzbau und eigenwillige Zeichensetzung unentwegt die Möglichkeiten der Sprache zum Erfassen und Erhellen der im Kopf seiner Figuren frei fließenden Gedanken. Auch die Erzählstruktur ist oft verspielt, mit wechselnden Perspektiven und Stimmen, seltsamen Sinnestäuschungen und Umwegen. Von seiner Beschwörung des menschlichen Bewusstseins abgesehen, scheint das Werk keine klare Absicht oder Botschaft zu haben, gleichwohl sinnieren und diskutieren seine Figuren über ein breites Spektrum an Themen wie Politik, Kunst, Geschichte, Philosophie und Religion.
Ulysses ist eine sehr vertrackte Lektüre, und das mit voller Absicht, aber es ist eine Fundgrube an Einsichten (»Die Geschichte ist ein Alptraum, aus dem ich zu erwachen versuche«). Es ist ein phänomenales Kunstwerk und eine Hommage an die betörende Macht der Sprache.
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DER SELTSAME FALL DES DR. JEKYLL UND MR HYDE
Ein Anwalt untersucht eine Reihe seltsamer Vorkommnisse im Zusammenhang mit seinem Freund Dr. Jekyll und dessen Beziehung zu dem mysteriösen Mr Hyde.
Auf den Punkt gebrachte Darstellung vom zwiegespaltenen Wesen des Menschen und des Kampfs zwischen Gut und Böse sowie die allegorische Schilderung einer Sucht.
Die Schauergeschichte Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr Hyde hat seit ihrem Erscheinen 1886 zu zahllosen Bühnen- und Filmfassungen inspiriert. Der Anwalt Gabriel John Utterson versucht aufzudecken, was es mit der Verbindung seines Freundes Dr. Jekyll zu einem gewissen Mr Hyde sowie einer Reihe tätlicher Vorfälle auf sich hat. Das Ganze ist im Kern als Detektivgeschichte angelegt, mit Utterson in der Rolle des Detektivs; Stevenson setzt einen allwissenden Erzähler ein, lässt die Leser jedoch auch an Uttersons Gedanken, Skepsis und Einsichten teilhaben. Die Geschichte mündet später in zwei ausführliche Briefe – einen von Jekylls Freund Dr. Lanyon und einen von Jekyll selbst –, die offenbaren, dass Jekyll und Hyde ein und dieselbe Person sind.
Wohl die meisten Menschen sehen in dieser Novelle einen Kampf zwischen Gut und Böse dargestellt, sie lässt sich jedoch auch als Beschreibung einer Sucht lesen. Im Bewusstsein seiner inneren Kämpfe unternimmt Jekyll Experimente mit dem Ziel, mithilfe eines Elixiers seine dunklen Triebe in einem anderen Körper unterzubringen; dadurch wären sie isoliert und er von ihnen befreit. Doch dann wird er süchtig nach der Freiheit und dem Genuss, die ihm die Verwandlung in Hyde gewähren, und muss zur Rückkehr in die Normalität immer höhere Dosen einnehmen, was dem klassischen Verlauf einer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit entspricht. Besonders deutlich wird dies in Jekylls Verhalten, sich mit zunehmender Abhängigkeit vom Elixier immer weiter von den Menschen zurückzuziehen, wobei er in einen wahnhaften Zustand der Selbstverleugnung gerät. Ein weiterer Aspekt der Novelle ist die Diskrepanz zwischen öffentlich dargestellter Rolle und tatsächlichem Handeln. Mit seiner Geschichte gibt Stevenson ein Beispiel für die verborgenen Seiten der Moral in seinem viktorianischen Zeitalter, wo hinter einer Fassade der Anständigkeit allerhand Sünden und Laster lauerten.
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DER DÄMON DER PERVERSITÄT
Erzählung über die Mordtat eines Mannes, dem es gelingt, diese jahrelang zu verheimlichen, bis ihn plötzlich ein unkontrollierbarer Geständnisdrang packt.
Die dunkle Seite der menschlichen Psyche kann Menschen dazu verleiten, selbstzerstörerischen Impulsen zu folgen.
Diese 1845 erschienene Erzählung (Originaltitel: The Imp of the Perverse) bedient sich der Essayform zur Erkundung eines psychologischen Dilemmas. Ein Mann ermordet einen anderen Mann mithilfe einer giftigen Kerze, die toxische Dämpfe freisetzt. Der Mörder erbt das Vermögen des Toten, und sein Verbrechen bleibt viele Jahre lang unaufgeklärt, bis sich eines Tages der Gedanke in ihm festsetzt, seine Tat könne nur aufgedeckt werden, indem er sie freiwillig gesteht. Dieser Drang zur Selbstzerstörung packt den Mörder so sehr, dass er schließlich dem erliegt, was Poe den »Dämon der Perversität« nennt; er wird als kleiner Alp der dunklen Seite der Psyche beschrieben, der uns schädliche Gedanken in den Kopf setzt. Der Mann gesteht den Mord, wird verurteilt und gehängt.
In der Geschichte extrapoliert Poe diese Theorie am Beispiel von Menschen, die an einem Abgrund stehen und den plötzlichen dunklen Drang verspüren, hinabzuspringen:
»Wir stehen am Rand eines Abgrunds. Wir spähen hinab – uns wird übel und schwindlig. Unser erster Impuls ist, vor der Gefahr zurückzuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir. … Es ist nur die Vorstellung, was wir wohl bei einem fliegenden Sturz von solcher Höhe empfinden würden … gerade darum nähern wir uns ihm mehr und mehr.«
Manche haben auf Poes eigenes selbstzerstörerisches Verhalten hingewiesen und Geschichten wie Der Dämon der Perversität oder Die schwarze Katze als Versuche Poes gedeutet, seine eigenen inneren Dämonen zu erkunden und zu begreifen.