Kapitel 1
In Laurie’s Café waren alle Tische besetzt. Schade. Aber nicht sehr verwunderlich, denn es gab nur drei davon.
Finola MacTavish zögerte. Sollte sie trotzdem kurz hineingehen und Laurie Hallo sagen? Sie hatte sie schon seit einer guten Woche nicht mehr gesehen. Und zumindest könnte sie ein paar Cupcakes für die Nachmittagsbesprechung mit Anne und Lachie kaufen.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn Laurie hatte sie durch das Fenster entdeckt und winkte ihr zu.
»Hiya!«, begrüßte sie Finola, sobald diese durch die Tür trat. »Ich hab schon befürchtet, du irrst mal wieder durch Morningside und findest mich nicht!«
Sie griff nach einem der Klappstühle, die hinter der Verkaufstheke bereitstanden, und sah sich suchend um.
»Lass nur, ich brauch keinen Platz, ich nehm bloß ein paar Cupcakes mit. Und nein, meine Ortskenntnisse von Edinburgh haben sich inzwischen deutlich verbessert.« Finola beäugte die bunten Gebäcke und zeigte dann auf die Zitronen-Blaubeer-Cupcakes, die nicht ganz so farbenfroh waren wie einige der anderen. »Drei davon und drei von denen mit der Karamellcreme«, bestellte sie.
»Hast du eine Fressorgie geplant?«, erkundigte sich Laurie grinsend, während sie die gewünschten Cupcakes in einer weißen Schachtel verpackte.
»Nein, wir haben heute Nachmittag noch ein Strategie-Gespräch in der Detektei, da können wir was Süßes gebrauchen!«
»Erzähl!«
Das junge Paar, das bei einer lesenden Frau am hintersten Tisch gesessen hatte, stand auf.
»Schau, da wird was frei, setz dich zu Helen, ich muss nur schnell kassieren! Dann komm ich zu dir.«
Finola schüttelte den Kopf. »Ich will dich keinesfalls vom Geldverdienen abhalten.«
»Quatsch.« Laurie sah auf ihre Armbanduhr. »Spätestens in fünf bis zehn Minuten wird’s hier ohnehin leer. Dann gehen meine Lunchtime-Gäste wieder zurück an ihre Arbeit.«
Finola zögerte.
»Na los, setz dich. Ich komme gleich mit deinem Latte macchiato.«
Finola gehorchte und steuerte das Tischchen in der hinteren Ecke an. Sie grüßte die Frau, die dort in ihr Buch vertieft war, und schmunzelte, als sie keine Antwort bekam. Leider konnte sie den Titel ihrer Lektüre nicht erkennen, doch das schwarz-rote Cover deutete auf einen Thriller hin.
Kaum hatte Finola sich gesetzt, blinkte und piepste das Handy, das neben dem Teekännchen auf dem Tisch lag. Die Frau seufzte, schaltete den Wecker aus und schlug ihr Buch zu.
»Hello«, grüßte sie kurz und lächelte, dann raffte sie ihre Sachen zusammen und stand auf.
Finola musste eine ganze Weile warten, bis Laurie alle aufbrechenden Gäste abkassiert hatte und mit ihrem Latte macchiato kam.
»Siehst du?« Mit einer großen Geste wies Laurie auf ihr nun leeres Café, stellte das Latte-Glas vor Finola und setzte sich. »Um diese Zeit ist es meistens ruhiger.«
»Scheint ja jetzt richtig gut zu laufen hier.«
Laurie strich sich eine rote Locke aus dem Gesicht und nickte zufrieden. »Ich bin voll beschäftigt. Vor allem, seitdem ich mittags auch Salate anbiete. Und wenn das so weitergeht mit der Nachfrage nach meinen Cupcakes, muss ich mir demnächst eine Hilfe suchen.«
»Schau mich nicht so an!« Finola grinste. »Ich bin zum Backen völlig unbegabt, und außerdem hast du vielleicht mitgekriegt, dass ich eine Detektei hab.«
»Gerüchteweise, nur gerüchteweise. Du hast mich ja tagelang gemieden!« Laurie zog kurz eine traurige Grimasse, dann lächelte sie wieder. »Erzähl!«
»Viel gibt’s nicht zu erzählen – ich bin jetzt auch offiziell und mit allen bürokratischen Schritten Teilhaberin von Anne Scott, und die Detektei hat einen neuen Namen.«
»MacTavish & Scott  – ich hab davon gehört. Klingt gut.«
»Jetzt müssen wir sehen, wie wir an mehr Klienten kommen und finanziell erfolgreich werden. Laufkundschaft gibt es ja eher nicht, weil Albert Terrace nun mal nicht gerade im Edinburgher Zentrum liegt. Aber dafür bieten wir in Morningside durchaus mehr Diskretion. Lachie bastelt uns derzeit eine neue Webseite und …«
Finolas Blick war auf die Eingangstür des Cafés gefallen, die sich gerade öffnete.
»Kundschaft?«, fragte Laurie und sah sich um.
Doch statt zu antworten, stand Finola auf und eilte dem Neuankömmling entgegen. »Antônio! Was machst du denn hier?«
Sie umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen.
»Ich suche dich«, antwortete er und drückte sie an sich. »Deine Chefin hat gesagt, dass du hier sein könntest.«
Finola verzichtete darauf, Antônio zu erklären, dass Anne nicht mehr ihre Chefin, sondern ihre Geschäftspartnerin war. Sie löste sich aus seiner Umarmung und drehte sich zu Laurie um.
»Das ist Antônio, ein Freund aus Brasilien, der nach Schottland gekommen ist, um uns ein paar Tourismus-Tricks abzugucken. Wir kennen uns aus Portree. Und das ist Laurie, ihr gehört dieses Café.«
»Und so was wie ’ne Freundin bin ich auch.« Laurie lächelte, zog die Augenbrauen hoch und sah Antônio in die Augen.
Antônio zeigte seine perfekten weißen Zähne. »Äußerst erfreut!«
»Hast du Zeit, einen Kaffee oder Tee mit mir zu trinken?«, fragte Finola und deutete auf den Tisch mit ihrem erst halb getrunkenen Latte macchiato.
»Mehr als das«, antwortete Antônio. »Ich habe dich so sehr vermisst, dass ich jetzt nach Edinburgh gezogen bin. Nun können wir uns endlich wieder regelmäßig sehen. Und ja, ich nehme eine Tasse Tee. Darjeeling, bitte.«
Finola fing Lauries amüsierten Blick auf. Doch sosehr sie sich im ersten Moment über das Wiedersehen gefreut hatte, fand sie es gar nicht so lustig, ihren Ex-Freund nun dauerhaft in ihrer Nähe zu wissen. Schließlich hatte sie geglaubt, ihn erfolgreich hinter sich gelassen zu haben.