Kapitel 2
Ein wenig atemlos betrat Finola die große Küche in Anne Scotts Haus, das auch die Detektei beherbergte.
»Bin ich zu spät?«, fragte sie, reckte ihren Hals und blickte zu der Uhr über der Tür.
»Nein, alles okay, Lachie und ich waren nur früher fertig, also hab ich gleich Tee gekocht, und wir haben uns schon mal zusammengesetzt.« Anne lächelte.
Im Gegensatz zu den schlichten grauen Etuikleidern, Kostümen oder Hosenanzügen, die sie sonst trug, um, wie sie Finola erklärt hatte, als Inhaberin des Detektivbüros seriös zu wirken, hatte Anne an diesem Nachmittag ein schwarz-lila gestreiftes weites Kleid und lila Strumpfhosen an, ihre Füße steckten in hellblauen Stricksocken. Sie sahen selbst gemacht aus – vielleicht ein Geschenk von Lachie.
Annes Kreativität galt im Gegensatz zu seiner schließlich nicht dem Stricken, sondern der Malerei. In den letzten Tagen hatte sie viel Zeit in ihrem Atelier im obersten Stock des Hauses verbracht, das hatte ihr gutgetan, fand Finola. Sie sah deutlich entspannter aus als noch vor wenigen Wochen, als sie sie kennengelernt hatte. Selbst ihr graumelierter Kurzhaarschnitt wirkte irgendwie weicher.
Finola stellte die weiße Schachtel mit den Cupcakes auf den großen alten Holztisch und holte drei Teller aus dem Schrank.
»Ich hab euch was mitgebracht«, verkündete sie.
»Das passt ja bestens.« Lachies Augen hinter der Hornbrille zwinkerten. »Wir haben wieder was zu feiern.«
»Hast du die Webseite etwa schon fertig?«, fragte Finola und setzte sich zu Anne und Lachie an den Tisch. »Oder hast du die Konkurrenz gehackt und denen ein paar Klienten für uns abspenstig gemacht?« Sie öffnete die weiße Verpackung. »Bedient euch!«
Lachie schob die Schachtel näher zu Anne, damit sie sich als Erste einen Cupcake nehmen konnte.
»Die Website ist tatsächlich fertig. Du solltest sie nachher noch mal prüfend anschauen, dann kann ich sie online stellen«, erklärte Lachie.
Er wirkte ein wenig verlegen und gleichzeitig stolz, und einen Augenblick lang konnte Finola in dem Mann mit der Stirnglatze den kleinen Jungen sehen, der Lachlan MacKinnan wohl einmal gewesen war.
»Und natürlich hacke ich niemanden ohne Not!«, fügte er hinzu.
Finola lachte und griff nach dem letzten der Blaubeer-Cupcakes, während Anne ihr Tee eingoss.
»Und Not haben wir nicht – wir haben nämlich unseren ersten Fall als MacTavish & Scott !« Annes breites Lächeln verriet ihre Erleichterung.
»Siehst du, ich hab doch gesagt, wir schaffen das! Darauf ein cheers!« Finola hob ihren Teebecher.
»Auf meine beiden Chefinnen!« Lachie stieß mit ihr an.
»Du hättest dich als dritter Partner einkaufen können«, sagte Anne und erhob ebenfalls ihren Teebecher. »Dann wärst du jetzt nicht mehr mein Sklave, äh, Angestellter …«
Alle drei begannen zu lachen.
»Aber dann würdet ihr mir kein regelmäßiges Gehalt zahlen. Und ich müsste am Ende Entscheidungen treffen, statt einfach nur blind euren Anweisungen zu folgen. Nein, danke!« Lachie grinste.
Finola wechselte zwischen zwei Bissen das Thema: »Was ist denn das für ein Fall? Wieder eine Observierung?«
»So ähnlich«, antwortete Anne. »Es geht um eine Studentin, deren Eltern sich Sorgen machen. Sie haben die Befürchtung, ihre Tochter nimmt weder ihr Studium noch ihr Leben an sich ernst genug. Auf jeden Fall meldet sie sich nicht regelmäßig wie abgesprochen, und wir sollen nachforschen, was da los ist.«
»Und warum schauen die Eltern nicht einfach mal vorbei und überraschen ihre Tochter?« Finola schüttelte den Kopf. »Ich meine, mir ist es recht so, wir können das Honorar mehr als gut gebrauchen, aber ich selbst würde in so einem Fall kein Geld für eine Detektivin ausgeben.«
»Nun, über sechstausend Meilen Anreise sind schon ein Argument«, sagte Anne. »Die Eltern der Studentin leben in der Nähe von São Paulo.«
»In Brasilien?«
»Als ich zuletzt nachgeschaut habe, lag São Paulo tatsächlich in Brasilien.«
»Ich weiß«, stellte Finola klar. »Es ist nur seltsam, also heute ist das schon das zweite Mal, dass jemand aus Brasilien … Ich hab vorhin nämlich Antônio getroffen.«
»Ist das nicht der junge Mann, der letzten Monat dein Gepäck hergebracht hat? Der gut aussehende?«
Lachie sah bei Annes Worten von seinem Cupcake auf.
Finola nickte. »Ja, genau der. Er ist gerade nach Edinburgh gezogen.«
»Und?« Anne musterte Finola. »Freust du dich?«
»Ich weiß nicht«, sagte Finola ehrlich. »Irgendwie schon. Nur gehört er zu meinem alten Leben, nicht hierher, und ich hatte eigentlich mit ihm abgeschlossen. Aber das hat er wohl nicht so wirklich verstanden – vielleicht hätte ich deutlicher sagen müssen, dass ich mich nicht nur von ihm trenne, weil ich umziehe.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen. Aber jetzt zurück zu der Studentin.«
»Letícia de Sousa Machado«, sagte Anne. »Sie ist von ihrer Uni in São Paulo über ein Austauschprogramm an die University of Edinburgh gekommen. Glaubt man ihrem Vater, ist sie ein hochintelligentes und strebsames Mädchen. Doch sie geht seit einer Woche nicht ans Telefon, wenn die Eltern anrufen. Und die Uni gibt keine Auskunft, ob sie an den Vorlesungen teilnimmt.«
»Wie alt?«
»Neunzehn.«
»Hm. Ziemlich jung. Vielleicht genießt sie erst mal die Freiheit?«
»Oder es ist ihr tatsächlich etwas passiert, und weil sie noch keine zwei Monate im Land ist und bisher nur wenige Menschen kennt, hat niemand gemerkt, dass sie verschwunden ist.« Annes Stimme klang ernst.
»Auch möglich«, gab Finola zu. »Ich kümmere mich sofort darum, hab heute nichts mehr vor. Also kann ich gleich mal für unsere Detektei arbeiten.« Sie grinste. »Hast du eine Adresse?«
»Im Büro liegt die Akte mit allen Informationen, die ich von den Eltern bekommen habe. Aber trink ruhig zuerst in Ruhe deinen Tee. Und deinen zweiten Cupcake solltest du auch essen, bevor Lachie ihn sich einverleibt.«
Lachie schüttelte den Kopf. »Ich doch nicht«, behauptete er.
Sicherheitshalber griff Finola aber dennoch nach dem Karamell-Gebäck.
»Wie haben die Eltern in Brasilien MacTavish & Scott überhaupt gefunden?«, fragte sie. »Im Moment haben wir ja nicht einmal eine Webseite.«
»Doch, haben wir. Die alte MWS -Investigators -Seite ist derzeit noch online«, erklärte Lachie.
»In diesem Fall ging der Kontakt aber nicht über die Webseite, sondern ich wurde direkt angerufen. Malcolm hat wohl früher schon einmal für Letícias Vater gearbeitet«, fügte Anne hinzu.
Finola nickte langsam. Malcolm Scott, Annes Mann, dem die Detektei gehört hatte, bis ihn ein LKW überfahren hatte. Immerhin schien er seinen ehemaligen Klienten zufriedengestellt zu haben, sodass sie jetzt ein wenig davon profitieren konnten. Ansonsten waren sie hier im Haus nicht besonders gut auf Malcolm Wallace Scott zu sprechen.