Kapitel 3
»Ich dachte, du wolltest die Kleine jetzt als Erstes nach England schicken?« Lachies Stimme riss Anne aus ihren Gedanken.
Nachdem Finola aufgebrochen war, um zu überprüfen, ob Letícia de Sousa Machado nicht doch in ihrer Studentenbude saß und nur ein kaputtes Handy hatte, waren sie und Lachie einfach in der Küche sitzen geblieben.
Es tat Anne gut, bewusst eine Pause zu machen und nicht fast ununterbrochen für die Detektei zu arbeiten – die letzten Wochen mit der Abwicklung von MWS
Investigators
und der Neugründung von MacTavish & Scott
waren mit all dem rechtlichen Kram wirklich nicht einfach für sie gewesen.
Und es war sogar überraschend angenehm, hier einfach so mit Lachie zu sitzen und nicht vor der leeren Leinwand zu stehen und erkennen zu müssen, dass ihr die Kreativität vergangener Jahre abhandengekommen war. Immerhin hatte sie in den letzten Tagen einige kleine Aquarelle gemalt, weite Landschaften mit viel Himmel und Meer, die ihrer Seele guttaten.
»Ich glaube, ich brauche jetzt etwas anderes als Tee«, sagte Anne und stand auf. Sie holte den Laphroaig und zwei Gläser und schenkte ihnen beiden ein.
»Hast du keinen richtigen Single Malt mehr?«, fragte Lachie mit skeptischer Miene.
Anne schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass der dir eigentlich zu torfig ist«, sagte sie. »Aber das ist der Rest meiner Bar. Wenn die nächsten Zahlungen eintreffen, füll ich wieder auf.«
»Na ja, besser als nichts. Man kann sich auch daran gewöhnen. Slàinte!«
»Slàinte!«
Sie tranken. Die Wärme und der torfig-rauchige Geschmack, den der Whisky im Mund hinterließ, waren genau das Richtige, fand
Anne, wenn sie über Malcolm sprachen. Gerade weil auch er kein Fan ihres Lieblings-Malts gewesen war.
»Ja, ich dachte, sie könnte nach York fahren und dort vor Ort ein paar Erkundigungen einziehen. Vielleicht kriegt sie mehr raus, wenn sie die Leute persönlich fragt. Wir sind ja von hier aus nicht wirklich viel weitergekommen.«
»Hast du schon mit ihr darüber gesprochen, dass sie Malcolms Tochter spielen soll? Für die Rolle musst du sie gut briefen, schließlich hat sie ihn nicht gekannt, die Leute, mit denen sie reden wird, jedoch wahrscheinlich schon.«
»Ich weiß.« Anne seufzte. »Aber dieser Auftrag jetzt ist wichtiger, weil diese Brasilianer sehr gut zahlen. Wir haben ja keinen solchen finanziellen Puffer, dass ich meine persönlichen Probleme vorziehen kann.«
»Was heißt persönliche Probleme?«
Lachie nahm einen erneuten Schluck. Ganz so schlecht, wie er immer tat, schien ihm der Laphroaig gar nicht zu schmecken.
»Das Geld, das Malcolm einfach so von eurem Konto abgehoben hat, war ja nicht gerade wenig. Und was ist mit den Schulden, die er hinterlassen hat? Beinahe wäre die Detektei darüber kaputtgegangen! Wieso also ist das dein persönliches Problem?«
Anne stand auf und ging zum Vorratsschrank. »Soll ich uns ein paar Spaghetti kochen?«, fragte sie.
»Anne, setz dich. Wir haben eben jeder zwei fette Kuchen gegessen. Du brauchst nicht zu kochen, nicht einmal als Übersprunghandlung.«
Anne seufzte. Lachie hatte ja recht. Aber wenn sie an ihren verstorbenen Mann und den fehlenden Betrag dachte, überkam sie regelmäßig der Wunsch, wegzulaufen oder sich mit was ganz anderem zu beschäftigen.
»Ach, Lachie, was kann er mit dem Geld gemacht haben? Warum war er überhaupt in York? Oder hängt das gar nicht zusammen? Dieser Fall mit dem verschwundenen Jungen, dem er angeblich nachgehen wollte – nicht einmal du hast eine Spur davon gefunden. Er hat also gelogen! Er hat mich einfach angelogen! Wenn er dort nicht den Unfall gehabt hätte, wäre er …«
»Wir kriegen das raus.« Lachie wirkte zuversichtlich. »Wir wissen
doch schon eine ganze Menge.«
»Nicht genug.«
»Wir wissen, in welchem Hotel er ein Zimmer gebucht hatte. Und unter welchem Namen.«
»Aber er ist dort nicht aufgetaucht. Stattdessen ist er am nächsten Tag von diesem verdammten LKW
…« Anne wischte sich Tränen aus den Augen.
Lachie nahm ihre Hand. »Es wird alles gut, Lassie. Sobald Finola diese brasilianische Studentin gefunden hat und den Fall abschließt, werde ich sie briefen. Es ist sicher einfacher für dich, wenn ich das übernehme.«
Anne nickte. »Danke«, sagte sie leise. »Du bist wirklich ein Freund. Und jetzt reden wir bitte über was anderes.«
Doch in ihrem Hinterkopf kreiste immer noch die Kardinalfrage: Wo hatte Malcolm die letzte Nacht seines Lebens verbracht?