Kapitel 4
Letícia de Sousa Machado wohnte laut den Informationen ihrer Eltern nicht in einem der Studentenwohnheime, sondern in einer eigenen Wohnung in West Newington Place. Die kleine Straße im Stadtteil Newington lag sehr günstig zum George Square, wo die Business School der University of Edinburgh, an der Letícia studierte, in einem modernen Bau ihr Zuhause gefunden hatte.
Die Häuser in West Newington Place waren weit weniger modern als das Uni-Gebäude, stellte Finola fest. Die schmale Straße, die nur ihren Anwohnern Parkplätze bot, säumten alte drei- oder vierstöckige Häuserreihen aus Sandstein. Und – was für eine Studentin wichtig sein würde – die Newington Road mit ihren Bushaltestellen und vielen kleinen Geschäften war direkt um die Ecke.
Finola sah sich nach der passenden Hausnummer um. Hier irgendwo links musste es sein. Steintreppen führten zu den Haustüren im Hochparterre, schmiedeeiserne glänzend schwarze Geländer schützten Passanten davor, in die Schächte vor den Souterrain-Eingängen zu stürzen. Genau dort wurde sie fündig: Die Wohnung, die Letícias Eltern ihrer Tochter spendierten, lag in eben solch einem Souterrain.
Finola klingelte.
Niemand öffnete.
Sie klingelte noch einmal und legte ihr Ohr an die Haustür. War da nicht ein Geräusch?
Dritter Versuch. Nichts.
Langsam stieg Finola die Treppe wieder hinauf und gleich auch noch die zweite zur oberen Haustür.
Dort wurde ihr auf ihr Klingeln schnell geöffnet.
Eine kleine rundliche Frau um die sechzig schaute zu ihr auf. »Ja, bitte? Ich hoffe, Sie sind nicht von den Zeugen Jehovas!«, sagte sie
streng.
»Nein, nein«, versicherte Finola. »Ich bin von der Universitätsverwaltung und muss etwas abgeben für eine Letícia de Sousa Machado. Persönlich. Die soll hier wohnen.«
»Nicht hier. Unten.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden.
»Oh, Verzeihung, sind Sie dann die Vermieterin? Ms …?«
»Turnbull. Ja, mir gehört die Wohnung. Warum? Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein, nein«, versicherte Finola. »Es ist nur eine Formsache, weil Miss de Sousa Machado einen Mietzuschuss beantragen will.«
»Einen Zuschuss? Wie denn das? So was hatte ich noch nie. Und ich vermiete die untere Wohnung seit Jahren an Studentinnen. Ich nehme immer nur Mädchen, weil die sauberer sind«, erklärte Ms Turnbull.
»Ähm, ja, das ist jetzt in diesem Jahr neu«, behauptete Finola.
»Na, mir soll’s egal sein, solange ich meine Miete kriege. Und die kommt direkt vom Vater. Das möchte ich immer so, ist am sichersten.«
»Sehr gut. Wissen Sie zufällig, wann ich ihre Mieterin am günstigsten zu Hause antreffe?«
»Nein, da kann ich Ihnen leider gar nicht helfen. Diese Studentinnen haben so unterschiedliche Tagesabläufe, und Miss de Sousa Machado wohnt ja noch nicht lange hier. Ich sehe sie so gut wie nie. Gehen Sie doch mal runter und klingeln. Vielleicht ist sie ja da.« Ms Turnbull trat einen Schritt zurück und machte Anstalten, die Tür zu schließen.
»Das werde ich tun«, sagte Finola schnell. »Vielen Dank, Ms Turnbull.«
Die Vermieterin nickte halbwegs freundlich und schloss dann ihre Haustür.
Finola stieg die Treppen wieder hinunter ins Souterrain und setzte sich auf die zweitunterste Stufe. Ein wenig würde sie noch warten, vielleicht kam Letícia ja gleich nach Hause. Und wenn nicht, konnte sie beim Warten immerhin schon mal die weitere Strategie planen, um sie morgen früh mit Anne abzusprechen.
Sie beide waren grundsätzlich übereingekommen, dass Anne
weiterhin hauptsächlich den Innendienst übernehmen würde – sprich den lästigen Bürokram und den seriösen Kontakt zu den Klienten. Finola war für den Außendienst zuständig – Observierungen, Befragungen und persönliche Kontaktaufnahmen, wenn nötig auch verkleidet und unter falschem Namen. Lachie würde sie beide mit seinen Computerkenntnissen unterstützen und zusätzlich Aufträge wie Online-Überwachungen oder -Überprüfungen für MacTavish & Scott
erledigen.
Wer also konnte Finola vorgeben zu sein, falls diese Letícia nicht in absehbarer Zeit auftauchte? Die Idee mit dem Mietzuschuss von der Uni war nicht besonders gut, so etwas schien es nicht zu geben.
Dass sie Letícias Schwester oder Cousine war, würde ihr auch niemand abnehmen. Sie zog das Foto aus der Tasche, das Senhor Machado gemailt und Anne ausgedruckt hatte. Darauf posierte eine lachende junge Frau in einem roten Minikleid. Ihre Brüste schienen außergewöhnlich prall – wahrscheinlich waren sie operiert, Schönheits-OP
s waren in Brasilien ja wohl sehr verbreitet. Dazu das lange blondierte Haar, das für Finolas Empfinden doch einen sehr künstlichen Kontrast bildete – Letícias Haut war zwar heller als Antônios, aber nicht wirklich weiß.
Plötzlich öffnete sich die Tür vor ihr.
Finola sprang auf.
Doch die junge Frau mit dem unordentlichen Haarknoten, die ihr nun gegenüberstand und erschrocken aussah, war nicht die, die sie erwartet hatte.
»Hey! Ich dachte schon, es wäre niemand da. Ich will zu Letícia. Die wohnt doch noch hier?«, plapperte Finola los und versuchte, über die Schulter der Frau in die Wohnung zu schauen.
»Ähm, ja. Eigentlich schon. Aber sie ist nicht da.«
»Oh, Mist. Wann kommt sie zurück?«
Die junge Frau zögerte. »Warum willst du das wissen?«, fragte sie schließlich.
»Ich bin mit ihr verabredet. Also nicht um eine bestimmte Zeit, aber – ich bin so was wie ’ne Freundin – wir haben uns letztes Jahr auf meiner Südamerikareise kennengelernt.«
»Sie hat mir gar nicht erzählt, dass sie Bekannte in Schottland hat.«
»Ich bin ja auch gerade erst zurückgekommen. Aus Peru«, improvisierte Finola schnell. »Sie weiß noch gar nicht, dass ich wieder hier bin. Aber ich bin leider nur ein paar Tage in Edinburgh. Und ich wollte sie unbedingt sehen.«
»Ich bin Carol.« Der Gesichtsausdruck der jungen Frau war nun wesentlich freundlicher.
»Bist du ihre Mitbewohnerin?«
»Nee, zumindest nicht offiziell. Tissy hat mir aber ihre Schlüssel gegeben, weil mein Zimmernachbar im Studentenwohnheim so laut ist, dass ich manchmal gar nicht richtig lernen kann. Dann kann ich hierherkommen, auch wenn sie weg ist.«
»Also warst du jetzt zum Lernen hier?«
Carol nickte.
»Was meinst du, wann ich sie am besten erreiche? Oder hast du vielleicht eine Handynummer von ihr? Ich hab nur die brasilianische aus São Paulo …«
»Sorry, mit Tissys Handy scheint was nicht in Ordnung zu sein. Da geht seit gestern immer gleich die Mailbox ran. Und ich weiß auch nicht, wo sie ist. Hab sie schon ’ne Woche nicht mehr gesehen.«