Kapitel 5
Anne war gerade dabei zu telefonieren, als Finola am Morgen das Büro betrat.
»Vielen Dank, ja, ich sende Ihnen den Vertrag sofort zu. Good bye.« Sie steckte das Telefon zurück in die Ladestation und wandte sich Finola zu. »Lange observiert gestern? Du siehst müde aus.«
Finola schüttelte den Kopf und setzte sich. »Nein, aber ich hab schlecht geschlafen.«
»Und du hast nicht die Tropfen deiner Granny genommen? Bei mir haben die kürzlich sehr gut gewirkt.«
Finola verzog das Gesicht. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab nicht daran gedacht. Ich bin ja auch immer wieder eingeschlafen, nur eben nicht dauerhaft.«
Anne sah aus, als wollte sie weiter nachbohren, also fragte Finola schnell: »War das am Telefon etwa noch ein neuer Auftrag?«
»Ja, stell dir vor. Lachie wollte doch nicht mehr warten und hat gestern Abend schon mal testweise unsere Webseite freigeschaltet. Und heute Morgen gab es schon einen Anruf darüber.« Anne lächelte. »Wir sollen den Hintergrund eines zukünftigen Kindermädchens überprüfen. Ist in erster Linie was für Lachie, aber ich werde natürlich auch noch persönlich zu der Familie gehen, wo die Nanny früher gearbeitet hat. Das Arbeitszeugnis ist nämlich fast zu schön, um wahr zu sein.«
»Oder sie haben eine echte Perle entdeckt – soll es ja auch geben.«
Anne seufzte. »Du bist immer so optimistisch. Also, jetzt aber zu deinem Fall: Was ist mit dieser Brasilianerin? Hast du sie wohlbehalten gefunden?«
»Leider nein. Sie war nicht zu Hause, die Vermieterin weiß von nichts, und Anrufe gehen sofort auf die Mailbox. Aber in ihrer Wohnung war eine Freundin, die ich abpassen konnte. Diese Carol hat Schlüssel, um dort in Ruhe zu lernen, wenn es in ihrem Wohnheim zu laut ist. Allerdings hat auch sie Tissy seit einer Woche nicht gesehen. Ich hab Carol meine Nummer gegeben, und sie hat versprochen, sich zu melden, sobald sie Tissy sieht oder von ihr hört.«
»Tissy?«
»Letícia nennt sich normalerweise Tícia, und Tissy ist der Spitzname, den ihre Freundin Carol ihr gegeben hat, weil sie das so süß findet.« Finola konnte sich das Augenrollen nicht verkneifen.
Anne nickte. »Und was erzählt Carol sonst so über – äh … Tissy?«
»Nicht viel. Die beiden kennen sich ja erst seit Kurzem, Carol hat nicht wirklich eine Ahnung vom sonstigen Umgang ihrer neuen Freundin, aber sie hat mir den Namen einer Mitstudentin gegeben, mit der Tissy sich ein paarmal zum Lernen in der Bibliothek getroffen hat: eine Tessa, deren Nachnamen ich allerdings noch rausfinden muss.«
»Tissy und Tessa? Wäre ein passender Titel für ein Bilderbuch! Irgendwas mit Mäusen oder Hamstern.«
Finola lachte. »Ich hatte als Kind mal ein Bilderbuch mit einem Hamster, der mit seiner Hamsterfreundin alle möglichen Abenteuer erlebte. Verflixt, jetzt krieg ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf – hoffentlich fange ich nicht an zu lachen, wenn ich Tissy und Tessa zusammen sehe.«
»Na ja, das kommt vielleicht auf ihre Zähne an.« Anne grinste.
Finola prustete erneut los.
»Puh, das ist gemein!«, sagte sie schließlich und schüttelte den Kopf.
»Hast du dich eigentlich schon bei einer Zahnarztpraxis registriert?«, fragte Anne aus heiterem Himmel.
»Wieso? Hab ich was an den Zähnen?« Finola fuhr unwillkürlich mit ihrer Zunge über die Schneidezähne.
»Nein, nein. Der Gedanke kam mir nur, weil ich gestern Abend noch bei Waitrose zum Einkaufen war und auf dem Rückweg Helen Burke gesehen habe. Die Arme wurde mit dem Notarztwagen abtransportiert. Sie ist die Inhaberin der Burke Dental Clinic
Finola sah sie fragend an.
Anne schüttelte den Kopf. »Sorry, ich weiß auch nicht, warum ich gerade jetzt schon wieder an sie denken musste. Doch, wegen der Hamsterzähne und vielleicht auch weil ihre Tochter ebenfalls Tessa heißt. Die war mit Iain in der Klasse. Meinem jüngsten Sohn«, fügte sie hinzu.
»Bisher hab ich mich noch nirgendwo eintragen lassen«, beantwortete Finola Annes Frage von vorher. »Burke Dental Clinic ? Ist die gut? Aber wenn die Zahnärztin jetzt ausfällt …«
»Sie ist ja nicht die Einzige dort«, gab Anne zu bedenken. »Und vielleicht gefällt dir das Zusatzangebot von Anti-Falten-Behandlungen, das sie seit Neuestem haben.« Sie grinste.
»Hm. Ich bin nicht sicher.« Finola fuhr sich mit den Fingerspitzen übers Gesicht. »Ich hab ja noch fast zwei Jahre, bis ich dreißig werde.«
»Ich bin bei Green House Dental sehr zufrieden. Die bieten allerdings kein Botox an.«
»Können wir vielleicht das Thema wechseln?«, fragte Finola. »Ich hab’s nicht so mit Zahnärzten. Oder gibt es noch etwas zu dieser Ms Burke, was du mir sagen willst?«
Anne zögerte.
»Es gibt also was?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich muss nur immer wieder daran denken. Obwohl es ja nichts mit uns zu tun hat«, sagte Anne schließlich. »Es war nur so – als ich an den Leuten vorbeigegangen bin, die neugierig am Krankenwagen herumstanden, hat jemand von Vergiftung gesprochen. Und eine andere Stimme hat das nicht gerade freundlich kommentiert.«
»Nicht gerade freundlich?«
»Der genaue Wortlaut war: Hat endlich jemand der blöden Kuh Gift gegeben!«