Kapitel 6
»Ah, Miss MacTavish.« Annes Haushaltshilfe schaltete den Staubsauger aus, als sie Finola die Treppe heraufkommen sah.
»Mrs B – geht’s Ihnen gut? Und was macht Ihr Mann? Plant er weitere Schönheiten für Annes Garten im nächsten Jahr?«, erkundigte sich Finola.
»Meinem Geordie geht es bestens, er lässt Sie grüßen. Und Sie sollen doch mal wieder auf eine Tasse Tee vorbeikommen.«
»Ich hoffe sehr, es klappt nächste Woche«, versprach Finola. »Kommt drauf an, wie das mit meinem neuen Fall läuft.«
»Ein neuer Fall?« Mrs Bs Augen begannen zu strahlen. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?«
Finola lächelte. »Nein, das schaff ich schon alleine.«
Mrs B war eine wunderbare Quelle für alles, was Morningside und die Menschen hier betraf, und ihr Mann hatte Finola mit seinem Gartenwissen bei einem ihrer ersten Fälle tatsächlich sehr geholfen, doch ein wenig anstrengend war das Paar. Beide waren über siebzig, aber Anne hatte es bisher nicht geschafft, sie in ihren wohlverdienten Ruhestand zu schicken.
Mrs B nickte. »Na, dann mach ich wohl am besten mal weiter«, sagte sie ein wenig enttäuscht und stellte den Staubsauger wieder an.
Finola verschwand in ihrem Zimmer, das sie zur Mrs-B-freien Zone erklärt hatte und lieber selbst sauber hielt. Es war ihr unangenehm, dass jemand anderes ihren Dreck wegputzte. Außerdem fühlte es sich besser an, wenn keiner ihr kleines Reich betrat. Abgesehen von Olga natürlich. Die graue Katze war nicht so leicht fernzuhalten. Auch jetzt hatte sie irgendwie den Weg in Finolas Zimmer gefunden und sich auf der Fensterbank zwischen die beiden Topfpflanzen gequetscht.
Finola ging zu ihr hinüber und streichelte über das weiche Fell. Olga rührte sich nicht, begann aber, laut zu schnurren. Als Finola
ihre Hand zurückzog, hob die Katze den Kopf.
»Ich muss jetzt arbeiten«, erklärte Finola ihr, setzte sich an ihren Schreibtisch und öffnete den Laptop.
Die Information, dass die gesuchte Studentin auch unter den Namen Tícia oder Tissy bekannt war, hatte sie auf die Idee gebracht, mit diesen Namen noch einmal die Social Media abzusuchen.
Auf Facebook wurde sie angesichts von Tissys Alter wie erwartet nicht fündig, konnte aber zumindest den neuesten Post ihrer Granny kommentieren und liebe Grüße schicken.
Bei Instagram sah es besser aus. Mehrere Accounts schienen vielversprechend: ticiaandrade, ticia_0202, ticiamo.beleza – ah, da war sie ja! Das Foto passte. ticiamo.beleza. Beleza? Schönheit? Eingebildet war sie wohl überhaupt nicht.
Mit einem kleinen Stich erinnerte sich Finola daran, dass Antônio sie früher manchmal so genannt hatte. Und daran, dass sie ihm versprochen hatte, ihn heute anzurufen. Zuerst aber musste sie sich diese ticiamo.beleza anschauen.
Tícia mit einer Schottland-Flagge im Edinburgh Castle, albern posierend an der Blumenuhr in den Princes Street Gardens, inmitten einer großen Clique junger Leute. Aber auch, ein wenig älter: Tícia im knappen Bikini am Strand, in einem kurzen Kleid und High Heels an einer Palme lehnend, mit einem Glas voller Limettenstücke und Eiswürfel in der Hand – Caipirinha? – und knallpink geschminkten Lippen. Dazu jede Menge Kommentare auf Portugiesisch mit jeder Menge Emojis.
Finola seufzte. War sie wirklich inzwischen zu alt, um diesem oberflächlichen Teeny-Gepose noch etwas abzugewinnen? Nein, sie war immer schon anders gewesen. In Tícias Alter hatte sie den verloren gegangenen Sinn in ihrem Leben gesucht.
Nun, vielleicht tat Tícia das auch, nur eben auf andere Weise. Suchte nicht jeder Mensch irgendwie nach Liebe und Anerkennung und seiner Bestimmung?
Finola scrollte noch ein wenig weiter, dann schaute sie sich die Liste von Tícias Followern an. Ah, da war carolhiggins123, das konnte die Carol sein, die sie gestern getroffen hatte.
Ja. Das Profilbild stimmte.
Und hier war auch Tessa: tessawlangley. Wlangley?
Wahrscheinlich eher Langley, das W musste eine Initiale sein.
Wenige Klicks später wusste Finola genug, um ihre Suche nach Tessa gezielt zu beginnen. Tessa, die fast wie eine Schwester von Tissy aussah und auf ihren Bildern das gleiche lange Blondhaar in Szene setzte. Eines der Fotos hatte ihre neue Unterkunft gezeigt – die Pollock Halls, das große Studentenwohnheim in Newington.
Mit einem Satz sprang Olga auf den Schreibtisch.
»Ätsch, ich bin schon fertig, du kannst mich nicht mehr ablenken!«, sagte Finola, als die Katze es sich auf der Tastatur gemütlich machte.
Sie fuhr den Laptop herunter und streichelte noch einmal über Olgas Kopf. Dann griff sie nach ihrer Tasche und machte sich auf den Weg nach Newington.
Ihre Zimmertür ließ sie nur angelehnt.