Kapitel 8
Nachdem Finola zwei Stunden lang praktisch alle, die aus dem Wohnheim kamen oder hineingingen, angesprochen hatte, wusste sie, dass Tessa außer Tícia bisher keine Freundinnen gefunden hatte. Meistens schien sie ohnehin – bevor es vorbei war – nur mit ihrem Freund zusammenzuhängen, über den allerdings niemand wirklich etwas sagen konnte.
Zwei weitere Studentinnen kannten Tessa oberflächlich, nicht aber Tícia.
Finola seufzte und gab für den Moment ihren Posten auf. Sie würde gegen Abend noch einmal zurückkommen müssen, dann war Tessa hoffentlich zu Hause.
Der Weg zur Bushaltestelle war nicht weit, und die Fünf kam nach wenigen Minuten Wartezeit. Finola stieg ins Oberdeck. Ganz vorn waren Sitzplätze frei – wie schön! Hier saß sie am liebsten. Sie genoss die freie Aussicht auf die Straße und die Menschen, auf deren Leben sie so einen Moment lang ihren Blick hatte. Zwei ältere Männer vor einem Zeitungsladen, eine Mutter, an deren Hand ein Kind hüpfte, eine Frau mit vollen Einkaufstaschen. Wer sie wohl waren? Wie ihr Leben aussah?
Ihr Magen knurrte. Spontan beschloss Finola, nicht am Church Hill auszusteigen, sondern noch ein Stück weiterzufahren und sich in Laurie’s Café einen Latte macchiato, einen Salat und einen der quietschbunten Cupcakes zu gönnen. Sie sah auf die Uhr. Hoffentlich war es nicht allzu voll.
Es war nicht voll – ganz im Gegenteil. An keinem der Tischchen saß auch nur eine Person, niemand stand bewundernd vor der Auslage mit den bunten Minikuchen, nur Laurie saß auf einem Hocker hinter der Theke und sprang auf, als Finola ins Café trat.
»Hi. Magst du was? Heute spendier ich dir, was du willst!«, rief sie.
Ihre Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt, ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Was war hier los?
Finola bestellte nach einem Blick auf die kleine Tafel, die auf der Verkaufstheke stand: »Ich würde gerne einen Salat mit Ziegenkäse essen. Und danach einen von diesen grässlich aussehenden Regenbogencupcakes. Kann mir nicht vorstellen, dass die schmecken, aber man muss ab und zu was wagen.«
»Du kannst ja beim Essen die Augen zumachen«, schlug Laurie vor. »Latte macchiato dazu?«
Finola nickte.
»Setz dich, ich komme gleich.«
Finola setzte sich an das hinterste Tischchen und beobachtete Laurie, wie sie mit routinierten Bewegungen ihre Bestellung auf ein Tablett richtete und ein Kännchen Tee und eine Tasse dazustellte.
»Heute habe ich mal etwas mehr Zeit für dich.«
Laurie kam herüber, deckte alles auf den Tisch, stellte das Tablett an die Wand und setzte sich zu Finola.
»Das sehe ich. Was ist denn los? Haben heute alle schon früher ihre Mittagspause gemacht? Thank God it’s Friday und so?«
Laurie goss sich Tee ein und seufzte tief. »Du bist erst meine zweite Kundin heute. Vor zwei Stunden hat sich eine Touristin hierher verirrt.«
Finola schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht, ist etwas passiert?«
Laurie zog eine Grimasse. »Ich sollte dich vielleicht warnen, hier zu essen oder zu trinken – es könnte sein, dass ich eine Giftmischerin bin!«
Finola lachte kurz auf, aber an Lauries Gesichtsausdruck war klar zu erkennen, dass ihre Worte nicht als Scherz gemeint waren.
»Und dann sitzt du hier rum und bist noch nicht verhaftet?« Sie versuchte dennoch, den leichten Ton beizubehalten.
Der Salat sah wirklich lecker aus. Finola stach mit der Gabel hinein.
»Na ja, die Polizei hat bei mir kein Gift gefunden.«
Finola ließ ihre Gabel sinken. »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst?«
Laurie antwortete nicht, griff nur nach ihrer Teetasse und trank ein paar Schlucke. Ihre Augen schimmerten auf einmal feucht.
Finola drückte kurz ihre Hand. »Ich glaube, du solltest mir das Ganze mal von vorne erzählen. Sieht ja aus, als hättest du Zeit. Also: Wieso sucht die Polizei bei dir nach Gift? Wen sollst du denn vergiftet haben?«
»Helen. Helen Burke.«
»Die Zahnärztin? Anne hat mir erzählt, dass sie zufällig dazukam, als die gestern mit dem Notarztwagen abgeholt wurde.«
Laurie nickte. »Helen wurde möglicherweise vergiftet. Und irgendjemand hat wohl ausgesagt, dass sie in der Mittagspause bei mir gegessen hat. Also war die Polizei hier und hat alles durchsucht.«
»Aber nichts gefunden.«
Laurie nickte. »Bei mir zu Hause auch nicht«, fügte sie hinzu.
»An was für einem Gift ist sie denn gestorben?«, erkundigte sich Finola vorsichtig und nahm eine Gabel voll Salat. Gerade zum Trotz. Die Idee, dass Laurie ihre Gäste vergiftete, war absurd. Oder? Kannte sie sie wirklich gut genug, um das zu beurteilen? Ganz so wie vorher schmeckte der Salat nicht mehr.
»Das hat niemand gesagt, aber sie ist zum Glück nicht tot.« Laurie starrte in ihre Teetasse. »Hoffentlich sagt sie aus, dass es nicht hier passiert sein kann. Andererseits, sie liest ja immer in ihrer Pause, da könnte ihr schon jemand was in den Tee geschüttet haben, wenn er oder sie bei ihr am Tisch saß.«
Mit einem Schlag begriff Finola. »Helen ist die Frau mit dem Buch, bei der ich gestern am Tisch gesessen habe.«
Laurie sah auf. »Ja, das könnte sein. Oh Mist, das hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm. Ich hab der Polizei nicht gesagt, dass du auch noch da warst. Hoffentlich denken die jetzt nicht …«
»Dass ich es war? Ich kenne diese Helen doch überhaupt nicht.«
Laurie seufzte tief. »Auf jeden Fall will heute niemand mehr bei mir essen oder trinken. Ich werde das alles hier wegschmeißen müssen und dann kann ich den Kredit nicht zurückzahlen und …« Sie kämpfte mit den Tränen.
»Was kann ich tun, um dir zu helfen? Also, ich nehm schon mal sechs Cupcakes für MacTavish & Scott mit.«
»Das ist lieb«, sagte Laurie mit belegter Stimme. »Aber das allein wird nicht reichen. Kannst du nicht einfach meine Unschuld beweisen und herausfinden, wer Helen vergiftet hat?«