Kapitel 9
Anne rieb sich die Stirn. Sie hatte es nicht lassen können, noch einmal den kompletten E-Mail-Verkehr ihres verstorbenen Mannes aus den letzten sechs Monaten seines Lebens durchzulesen. Irgendwo musste es doch einen Hinweis geben, eine Bemerkung, die ihr weiterhalf! Die ein wenig Licht darauf warf, was Malcolm gedacht und getan hatte. Die erklärte, wo das Geld abgeblieben war. Die vielleicht sogar einen Zusammenhang mit seinem Tod in York herstellte.
»Hi, Anne.«
Anne zuckte zusammen. Sie hatte Finola nicht ins Büro kommen gehört. Hastig schloss sie das Mailprogramm.
»Ich hab dir was mitgebracht.« Finola stellte einen Teller mit zwei Cupcakes vor sie hin.
»Genau das, was ich jetzt brauche!« Anne seufzte.
»Ist die Nanny so schwierig zu durchschauen?« Finola setzte sich mit ihrem eigenen Teller in der Hand auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. »Erzähl!«
»Nein, bei dem Fall läuft alles gut«, sagte Anne zwischen zwei Bissen der kleinen Köstlichkeit.
»Bei dem Fall? Hast du noch einen anderen?«
Anne schüttelte den Kopf.
Finola sah sie fragend an, aber Anne beschloss, nicht darauf einzugehen. Stattdessen fragte sie zurück: »Wie sieht es bei dir mit der Machado-Tochter aus? Hast du sie gefunden?«
»Fast. Ihre Freundin Tessa war nicht zu Hause, da gehe ich heute gegen Abend noch mal hin. Aber zu der Beziehung hab ich eine interessante Info gekriegt. Die gute Tissy soll Tessa nämlich den Freund ausgespannt haben. Und Tessa soll ihr das seeehr übel genommen haben.«
»Spricht irgendwas dafür, dass sie sich an ihr gerächt hat?«
»Gerächt? Meinst du gerächt so wie ihr eine Stinkbombe in die Wohnung geschmissen? Oder gerächt so wie entführt und eingesperrt? Oder gar gerächt wie um die Ecke …«
»Finola!«
»Sorry, ich bin gerade nicht besonders gut drauf. Also – ich hab keine Ahnung. Ich persönlich würde mich ja eher an dem Freund rächen.«
Anne hob die Brauen.
»Na, ist doch wahr!«, verteidigte sich Finola. »Am wahrscheinlichsten ist aber, glaube ich, dass mein Zielobjekt sich in Tylers starken Armen rekelt.«
»Rekelt?«
Statt zu antworten, nahm Finola einen großen Bissen von ihrem Cupcake.
»Weißt du Näheres über diesen Freund – Tyler?«
»Nur, dass er Engländer ist und auf junge Blondinen zu stehen scheint. Aber wenn ich Tessa heute Abend abpasse, verrät sie mir sicher mehr.«
»Gut, dann läuft das ja so weit, und ich kann Senhor Machado beruhigen, falls er anruft. Und das wird er, fürchte ich.«
Finola nickte, doch sie wirkte gedankenabwesend.
»Warum nur habe ich das Gefühl, dass dich ganz was anderes beschäftigt? Ist es dein junger Mann?«
»Antônio? Nein. Ich muss an diese Helen Burke denken. Weißt du, dass sie tatsächlich vergiftet wurde, das aber überlebt hat?«
»Hat sich rumgesprochen«, bestätigte Anne und griff nach ihrem zweiten Cupcake.
»Hast du auch gehört, dass Laurie in Verdacht geraten ist, weil Helen Burke mittags bei ihr Tee getrunken und einen Cupcake gegessen hat?«
Anne betrachtete den kleinen Kuchen in ihrer Hand und legte ihn zurück auf den Teller.
»Keine Angst!« Finola lachte. »Die Polizei hat sie schon überprüft, sie war’s nicht.«
»Könnte ich mir auch nicht vorstellen«, sagte Anne, doch ihr Appetit auf den Cupcake war vergangen.
»Was für ein Mensch ist diese Zahnärztin eigentlich?«, fragte Finola ein wenig zu beiläufig.
»Na, mit ihrem Beruf hat sie natürlich nicht nur Freunde. Wer liebt schon Zahnärzte! Und überhaupt ist sie jemand, die man entweder mag oder nicht.«
»Anne!« Finola stöhnte. »Das hilft mir jetzt genau – rein gar nicht!«
»Das braucht dir auch gar nicht zu helfen, du sollst dich auf Letícia de Sousa Machado konzentrieren und dir keine Gedanken um eine fremde Frau machen.«
»Aber du hast gesagt, ich sollte mich bei einer Zahnarzt-Praxis registrieren lassen. Da muss ich doch wissen, ob diese Frau etwas kann und ob ich ihr vertrauen soll.«
Anne sah Finola tief in die Augen und hoffte, sie würde darin lesen können, ob diese die Wahrheit sagte. Finola erwiderte ihren Blick. Entweder war dies also wirklich ihr Motiv für die Frage oder sie konnte beachtlich gut schwindeln.
»Ich kann dazu nicht viel sagen«, antwortete Anne schließlich. »Es gab vor zwei, drei Jahren mal eine Patientin, die gegen sie geklagt hat, wegen einer Implantatsache und chronischen Schmerzen, glaube ich. Aber sonst hatte sie, soweit ich weiß, einen guten Ruf als Zahnärztin.«
»Und menschlich? Ihre Tochter war doch bei deinem Sohn in der Klasse, da hast du sie sicher etwas näher kennengelernt.«
»Ich mochte sie nicht besonders«, gab Anne zu. »Ein bisschen zu arrogant. Sie wusste zum Thema Kindererziehung immer alles besser. Dabei hatte sie nur dieses eine Kind.«
Und das war total verzogen gewesen, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Und war sie …«
»Finola, lass es. Es ist nicht an uns, herauszufinden, was passiert ist – dafür ist die Polizei zuständig. Helen Burke hat die Vergiftung überlebt, und vielleicht steckt ja auch einfach ein Missgeschick dahinter. Du kümmerst dich bitte um deine Studentin und ich mich um meine Nanny. Abgemacht?«
Finola sah nicht besonders zufrieden aus, nickte jedoch.
»Wir müssen einfach sehen, dass wir professionell arbeiten und uns auf unsere eigenen Aufgaben konzentrieren.«
Anne griff nach der Computermaus und öffnete willkürlich irgendeine Datei. Hauptsache, sie konnte Finola vermitteln, dass sie jetzt zu tun hatte.
Finola stand auf. »Wir sehen uns später.«
Anne nickte und starrte auf ihren Bildschirm. Erst als Finola die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich noch einmal zurück und atmete tief durch.
Wie kam sie dazu, ihrer Geschäftspartnerin vorzuschreiben, wie diese arbeiten sollte, wenn sie selbst sich nicht daran hielt?
Sie rieb sich die Stirn. Hoffentlich bekam sie keine Kopfschmerzen. Obwohl die Tropfen von Finolas Granny da gut halfen. Vielleicht sollte sie einmal nachfragen, ob es auch Tropfen gegen Grübeln und Abgelenktsein gab. Die konnten ihnen möglicherweise beiden zupasskommen.
Fast ein wenig trotzig griff Anne nach dem Cupcake und biss herzhaft in die tröstende Süße.