Kapitel 10
Ein zierliches Mädchen mit langen blonden Haaren kam auf Finola zu. Sie sah jünger aus als auf den Fotos bei Instagram, das mochte an ihren kleinen Schritten liegen oder auch daran, dass sie nicht geschminkt war.
»Tessa Langley?«
Die Studentin blieb stehen. »Ja?«
»Ich bin Gloria von Students Today , dem neuen Online-Magazin«, stellte sich Finola vor. »Ich schreibe eine Reportage über südamerikanische Studentinnen und Studenten und wie das Zusammenleben mit ihnen so ist. Ich habe gehört, du kannst mir da helfen? Du kennst eine Brasilianerin namens Tícia?«
Tessas Gesicht verdüsterte sich.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass das manchmal auch Probleme mit sich bringt, weil …« Sie zögerte leicht, um Tessa die Möglichkeit zu einem Kommentar zu geben.
»Probleme kannst du laut sagen!«
Das hatte also schon mal geklappt. Finola bemühte sich um einen wissenden Gesichtsausdruck.
»Ja, das habe ich bereits ein paarmal gehört. Eine internationale Freundschaft scheint wohl doch nicht so einfach zu sein.«
»Ich könnte dir Sachen erzählen …«, ereiferte sich Tessa.
»Gibst du mir ein Interview?«
Tessa zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann nickte sie. »Ich bring schnell meine Sachen hoch, danach können wir was trinken gehen. Du zahlst.«
»Klar.« Finola lächelte.
Der Pub, in den Tessa sie nach längerer Wartezeit führte, lag gut zehn Minuten entfernt an der Ecke Grange Road und Causewayside und war überraschend leer für einen Freitag. Allerdings war es auch noch recht früh.
»Da drüben?«, fragte Tessa und deutete auf eine Nische mit Holzwänden, an denen Tartan-bezogene Rückenpolster angebracht waren.
Finola nickte. »Setz dich schon mal. Was willst du trinken?«
»Cider Berry, bitte.«
Finola ging an die Bar, um zwei Pints zu holen. Obwohl die Warterei sie genervt hatte, war sie nun doch froh, dass Tessa sich die Zeit genommen hatte, Make-up aufzulegen und nicht mehr wie fünfzehn aussah.
Als sie ihr schließlich gegenübersaß, zog sie einen kleinen Notizblock und einen Stift aus der Tasche. Dann schwieg sie einfach, und schon begann die junge Studentin zu reden. Sie erzählte, wie Tícia und sie sich gleich in der ersten Vorlesung kennengelernt hatten, dass sie ein paarmal zusammen zum Lernen in die Bibliothek gegangen und schnell Freundinnen geworden waren.
»Tissys Englisch war so süß«, erklärte sie und wirkte dabei ein wenig melancholisch. »Und es war so lustig, wenn man uns von hinten verwechselt hat, weil wir die gleichen Haare haben.«
Finola lächelte, kritzelte auf ihren Block und nickte, um Tessa weiter am Reden zu halten. Doch die war verstummt und schien sich nur noch für ihren roten Cider zu interessieren, von dem sie ein paar Schlucke trank und den sie dann aufmerksam im Glas betrachtete.
»Aber das blieb nicht so?«, fragte Finola leise.
Tessa schüttelte den Kopf. »Ich hätte sie nicht mit Tyler bekanntmachen sollen. Obwohl das zuerst so witzig schien. Und wir hatten so viel Spaß, wenn wir drei zusammen feiern gegangen sind.«
»Tyler?«
»Mein Freund. Ex-Freund.« Tessa schnaubte. »An den hat Tissy sich rangemacht, und der Arsch ist auch noch drauf eingegangen!«
»Nein!« Finola tat überrascht. »Das macht man doch unter Freundinnen nicht!«
»Genau das hab ich auch gedacht.«
»Aber dieser Tyler scheint ja auch kein toller Freund zu sein, wenn er sich so einfach um den Finger wickeln lässt. Ist er Amerikaner? Der Name klingt so.«
»Engländer. Tyler Gardener.«
»Und studiert er auch mit euch, oder wohnt er in der Nähe? Ich hoffe, du musst ihn jetzt nicht dauernd sehen.« Finola legte noch einen Hauch mehr Mitgefühl in ihre Stimme.
Tessa schüttelte den Kopf. »Zum Glück nicht. Er wohnt in einer Seitenstraße vom Leith Walk, da hat er eine eigene Wohnung, also die gehört einem Onkel oder so. Und er studiert Biochemie. Das ist in den King’s Buildings, südlich von hier.«
»Und diese Tissy?«
»Die weiß, warum sie mir nicht mehr über den Weg läuft.«
»Hm. Schade. Wäre sicher interessant zu sehen, was sie erzählt – was sie sich dabei gedacht hat, sich so unfreundschaftlich zu verhalten. Vielleicht ist es ja ein Problem der Mentalität?« Finola leistete im Stillen Abbitte bei allen Südamerikanerinnen. »Du weißt nicht zufällig, wo sie jetzt ist? Ihre Vermieterin hat sie seit Tagen nicht gesehen.«
Tessa schüttelte den Kopf und trank ihr Glas in einem Zug um ein Drittel leer.
»Kannst du mir vielleicht Tylers Adresse geben?«
»Nur, wenn du einen richtig bösen Artikel über ihn schreibst! Und über Tissy.«
»Natürlich«, log Finola. »Die haben es ja nicht anders verdient!«
Sie blätterte um und schob ihren Block und den Kuli zu Tessa, die gleich anfing, Zahlen zu notieren. Tylers Handynummer?
Wie konnte sie nun am einfachsten bald den Abflug machen? Der Zweck des Gesprächs war schließlich erfüllt: Mit Tyler Gardeners Adresse konnte sie weiterarbeiten. Sie hatte wenig Lust, den ganzen Abend mit Tessa zu verbringen und sich deren wütenden Klagen anzuhören. Sicher gab es auch bei dieser Geschichte zwei Seiten. Ja vielleicht hatten ja Tyler und Tissy sogar tatsächlich ihre große Liebe gefunden?
In diesem Moment klingelte ihr Handy. Gerettet!
»Tony!« Ihre Stimme klang begeisterter, als sie es beabsichtigt hatte.
»Seit wann nennst du mich Tony?«, fragte Antônio am anderen Ende.
»Oh, ja natürlich. Ich beeile mich!«, säuselte sie. »Ich bin nur gerade noch beruflich in Newington.«
»Bist du undercover?«
»Ja, ja, klar.«
Antônio lachte leise.
»Ich fahr gleich los!«, sagte sie und legte auf.
Tessa gab ihr den Block mit einer Handynummer und Tylers Adresse zurück.
»Du musst gehen?« Sie wirkte enttäuscht.
»Ja, tut mir schrecklich leid, war nett, mich mit dir zu unterhalten, aber mein Verlobter hat noch Karten gekriegt für …« Sie murmelte etwas Unverständliches, während sie ihre Jacke anzog und ihre Tasche nahm.
»Sagst du mir Bescheid, wenn der Artikel online ist?«, fragte Tessa. »Wie heißt noch mal das Magazin? Dann kann ich schon mal googeln.«
»Students Today. Es startet allerdings erst im nächsten Monat. Ich melde mich.«
Finola eilte hinaus auf die Straße. Geschafft. Wenn sie auch ein wenig gemein gewesen war. Aber immerhin hatte sie ihr noch fast volles Glas Cider Berry für Tessa stehen lassen.