Kapitel 15
»Ich bin ja so froh, dass Sie heute gleich kommen konnten, Sally.«
Finola tastete die Verhärtungen in der Schulter- und Rückenmuskulatur ab und begann dann zu massieren.
Helen Burke stöhnte.
»Ja, ich kann hier fühlen, dass Sie Schmerzen haben. Jetzt massiere ich erst ein bisschen, um alles zu lockern, und dann machen wir noch ein paar Übungen, die Ihnen auch in den nächsten Tagen helfen können.«
»Das klingt gut.« Mit einem tiefen Seufzer überließ sich Helen ihren Händen.
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, dann fragte sie: »Sie sind also neu in Edinburgh? Aus Glasgow, habe ich gehört?«
»Genau.« Finola ließ ihren Akzent noch ein wenig stärker werden. »Seit zwei Wochen. Der Liebe wegen«, behauptete sie. »Ich hatte einfach keine Lust mehr auf eine Wochenendbeziehung. Vor allem, wenn immer nur ich diejenige sein soll, die hin- und herfährt.«
»Ja, es läuft eben meistens so, wie es für die Männer am günstigsten ist. Passen Sie auf, sonst geht’s Ihnen letztlich wie mir. Dann opfern Sie Jahr für Jahr alles Mögliche, und letztlich geht die Beziehung doch schief. Ich kenne das, ich bin geschieden.«
Sie hielt kurz die Luft an.
»Hier tut es wahrscheinlich besonders weh, oder?«
»Mhm.« Helen atmete hörbar aus. »Genau da!«
»Nun, ich werde sehen«, plauderte Finola. »Ich denke, den nächsten Schritt muss natürlich er tun. Bisher läuft es aber ganz gut. Und am Montag hab ich schon ein Vorstellungsgespräch.«
»Hier bei Physio & Pilates ?«, erkundigte sich Helen.
»Nein, in Leith. Ist ganz praktisch – da wohnen wir nämlich.«
Finola widmete sich der linken Schulter. Helen stöhnte wieder.
»Haben Sie sich durch die Vergiftung so verkrampft?« Finola versuchte, die Frage ganz beiläufig klingen zu lassen.
»Sie wissen davon?«
»Laurie hat’s mir erzählt. Sie ist ziemlich durch den Wind, weil die Polizei bei ihr alles durchsucht hat. Und dann niemand mehr in ihr Café kam.«
»Das tut mir leid. Es ist so nett dort, ruhig. Ich gehe gerne in der Mittagspause hin, trinke Tee und lese ein wenig.«
Finola massierte schweigend weiter. Sie war froh, dass Helen sie aus Laurie’s Café nicht wiedererkannt hatte. Allerdings hatte sie sich heute auch entsprechend aufgemacht – völlig schwarz gekleidet und mit viel Kajal um die Augen. Für später steckten zudem noch ein Tuch für die Haare, ein Nietenhalsband und punkiger Silberschmuck in ihrem Rucksack. Auch Tícia und Tyler sollten schließlich die Frau aus dem Club von der Nacht zuvor nicht wiedererkennen.
»Legen Sie den Kopf nun bitte auf die andere Seite.«
»Wissen Sie, Sally, es wird viel zu viel Aufhebens um diese angebliche Vergiftung gemacht. So dramatisch war es ja nun auch wieder nicht«, murmelte Helen und folgte Finolas Aufforderung. »Die Analysen werden wahrscheinlich irgendein verdorbenes Lebensmittel zeigen – also nicht, dass ich Laurie und ihre Cupcakes verdächtige. Aber ich habe nachmittags noch ein Stück Pizza mit Meeresfrüchten gegessen, und da weiß man ja nie … Oh, ja, genau da sitzt der Schmerz.«
»Meeresfrüchte sind nicht ohne«, stimmte Finola zu. »Wo kam denn die Pizza her?«
»Die stand bei uns in der Praxis auf dem Tisch in der Küche. Da lassen wir immer stehen, was wir nicht schaffen aufzuessen oder was wir den anderen spendieren wollen. Ich nehme an, sie war von Lindsey. Die macht gerne Pizza. Haben Sie sich eigentlich schon in einer Zahnarztpraxis registriert?«
»Bisher nicht.« Finola fand eine besonders harte Stelle neben dem Schulterblatt und nahm sich ihrer an. »Ich war kürzlich noch in Glasgow beim Zahnarzt, ist daher nicht so dringend.«
»Also, wir sind eine der ganz modernen Praxen«, fuhr Helen fort. »Neben Dr. Somplatzky und mir gibt es noch Dr. McKay, der sich vor allem um die kosmetischen Behandlungen kümmert. Der kann Ihnen nicht nur die Zähne für ein schönes Lächeln herrichten, sondern auch die Lippen ganz wunderbar passend gestalten.«
Das klang trotz der lobenden Worte eher abfällig. Ob es in der Praxis Zwiste und Spannungen gab? Wahrscheinlich. Wo gab es die nicht?
»Kommen Sie doch mal vorbei und schauen sich die Burke Dental Clinic an«, schlug Helen vor.
Das würde Finola ohnehin tun, aber das musste Helen nicht wissen.
»Mal sehen, der Weg ist mir ein bisschen weit von Leith aus. Obwohl ich natürlich Laurie öfter mal besuchen werde. So, und nun setzen Sie sich bitte auf.«
»Oh, das fühlt sich alles schon viel besser an«, sagte Helen und bewegte vorsichtig ihre Schultern. »Ich werde mir jetzt erst mal ein ganz ruhiges Wochenende machen. Meinen Sie, Sie könnten am Montag noch mal kommen? Vormittags? Gegen elf? Ich gehe erst nachmittags in die Praxis. Oder kollidiert das irgendwie mit Ihrem Bewerbungsgespräch?«
»Nein, das ist okay. Ich komme gerne. So, und jetzt machen Sie bitte mal so …«
Leider schwieg Helen während der Übungen. Aber am Montag würde Finola sie ja wiedersehen, und bis dahin konnte sie sich eine Strategie ausdenken, wie sie mehr über Helens Umfeld herausfand, das doch ganz interessant zu sein schien. Was war mit den Kollegen, den Angestellten in der Praxis? Was mit dem Ex-Mann? Mit der Tochter?
Vielleicht konnte Lachie ihr einen Gefallen tun und in seinen Internetquellen nachforschen. Nur für den Fall, dass es doch nicht die Meeresfrüchte auf der Pizza gewesen waren.
»So, das war’s für heute«, erklärte Finola.
Helen zog den BH und ihre Bluse wieder an und nahm ein Portemonnaie aus der Schublade. Sie zählte das Honorar ab und reichte es Finola.
»Wir sehen uns am Montag, Sally?«
»Elf Uhr.« Finola nickte und steckte das Geld in ihre Hosentasche.
Helen kreiste erneut mit den Schultern.
»Also, ihre Hände können wirklich zaubern«, sagte sie. Dann runzelte sie die Stirn.
»Aber lassen Sie mich Ihnen noch einen guten Rat geben: Vielleicht sollten Sie sich für das Bewerbungsgespräch doch ein wenig anders kleiden.«