Kapitel 19
Es war dunkel, als Finola die Augen aufschlug. Der Klingelton ihres Handys war zwar nicht laut, aber eindringlich. Sie tastete nach rechts, wo es auf ihrem Nachttisch liegen musste, doch da war kein Holz, sondern ein warmer Körper!
Mit einem Schlag fiel ihr alles wieder ein. Sie war nicht zu Hause.
Antônio.
Der knipste eine kleine Lampe an, reckte sich und gab ihr das Handy, das in seiner Reichweite gelegen haben musste.
Finola sah auf das Display. Anne.
»Ja? Soll ich dich ablösen?«, fragte sie.
»Wäre gut. Es sind zwei Freunde von Tyler gekommen, danach noch ein Mädchen. Ich schick dir ein paar Fotos. Die waren eine Weile oben, jetzt stehen sie mit Tyler und Tícia vor der Haustür und diskutieren, in welchen Pub sie vor dem Club noch gehen sollen. Ah, man scheint sich geeinigt zu haben.«
Anne schwieg, im Hintergrund waren Lachen und kurzes Gegröle zu hören.
»Blue Kitten – sagt dir das was, oder soll ich googeln?«
»Rose Street. Kenn ich«, erklärte Finola. »Ich geh direkt dorthin.«
»Danke.«
Drei kurze Signaltöne verrieten, dass drei Fotos angekommen waren. Sie waren nicht besonders scharf, würden aber helfen, die anderen Mitglieder der Clique zu erkennen.
»Wir müssen wieder los?«, fragte Antônio.
»Ich. Von ›wir‹ ist keine Rede.«
»Ich fahr dich natürlich. Charlotte Square oder St Andrew Square, was ist näher?«
»Dafür, dass du gerade erst nach Edinburgh gekommen bist, kennst du dich gut aus!«
Antônio grinste. »Meine Kollegen von der Stadtführung haben mich gleich am ersten Tag mit in die Rose Street genommen, und mein Gedächtnis für Straßen und Plätze ist sehr gut, vor allem, wenn es dort Pubs gibt.«
Finola lachte, stand auf und griff nach ihrer Kleidung. »Für Berge und Täler war es das weniger, wenn ich an Skye denke …«
»Nur weil ich mich einmal verirrt habe – ich bin eben ein Stadtkind.« Auch Antônio erhob sich. »Auf jeden Fall bist du schneller dort, wenn ich dich fahre.«
Der Pub war voller als beim letzten Mal, als sie hier observiert hatte. Und das Publikum war heute deutlich jünger, das »Blue Kitten« schien am Samstagabend vor allem Studentinnen und Studenten anzuziehen. Immerhin gab es einige verrückt gekleidete Leute hier, sodass sie in ihrem schwarzen Aufzug nicht übermäßig aus dem Rahmen fiel. Sie hätte lieber etwas weniger Auffallendes angehabt, aber zuerst nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, hätte zu viel Zeit gekostet.
Mit ihrem Glas Tonic Water auf Eis (es sah ja niemand, dass sie den Gin weggelassen hatte) streifte sie durch den Pub und postierte sich schließlich so, dass sie die Clique gut im Blick behalten konnte.
Tícia hing an ihrem Freund wie die sprichwörtliche Klette. Tyler dagegen schien nur an dem interessiert, was seine beiden Freunde von sich gaben. Die zweite junge Frau wirkte ein wenig, als würde sie gar nicht wirklich dazugehören. Sie war zierlich und dunkelhaarig und stand einfach nur schweigend neben den anderen, ein Pint Bier in der Hand.
Einmal sprach sie mit Tícia, doch die schüttelte den Kopf und drückte sich noch enger an Tyler, der sich mit einer ruckartigen Geste von ihr zu lösen versuchte. Was er sagte, konnte Finola nicht hören, aber es schien nicht besonders nett zu sein.
Arme Tícia.
»Ah, hier bist du!«
Finola fuhr herum. »Nicht du schon wieder!«
Antônio verzog beleidigt das Gesicht.
»Sorry. Das geht nicht. Du kannst nicht mein ständiger Begleiter werden, wenn ich arbeite«, versuchte Finola zu erklären.
»Aber ich bin doch sehr hilfreich – ich habe übrigens auch was zum Umziehen für dich im Wagen, so wirst du ja kaum nachher in den Club gehen können. Die haben gestern dort schon komisch geguckt, und da warst du doch eigentlich ganz hübsch angezogen!«
Finola stöhnte. »Das Schlimme ist, du hast natürlich recht. Ich habe bereits hin und her überlegt, wie ich mein Outfit anpassen kann.«
»Na, siehst du. Da passt es doch prima, dass ich gerade für mein Schwesterchen shoppen war. Sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich ihr Kleid an dich verleihe.«
»Bist du sicher?«
Antônio zuckte mit den Schultern. »Noch hab ich es ihr nicht geschenkt. Und du brauchst es heute. Du siehst, ich bin sehr nützlich. Und nett.« Er zog sie an sich und küsste sie.
Unwillkürlich schloss sie die Augen, riss sie dann aber mit einem Ruck wieder auf und sah sich um.
»Wo sind Tyler und das andere Mädchen hin?«, fragte sie hastig.
»Durch die Tür da hinten. Toiletten, nehme ich an.«
»Zusammen?«
»Kurz nacheinander. Erst sie, dann er.«
»Kannst du Tícia kurz im Blick behalten?« Sie drückte Antônio ihr Glas in die Hand und ging auf die Tür zu den Toiletten zu. Dabei kam sie so nahe an Tícia vorbei, dass sie sie erstmals richtig betrachten konnte.
Die Brasilianerin war wirklich sehr hübsch, hübscher als auf den gestellten Fotos. Selbst das blondgefärbte Haar zu der hellbraunen Haut wirkte kleidsam und nicht billig. Doch sie sah erschöpft und unglücklich aus, fast ein bisschen verloren. Sie drehte sich nach der Tür um, schien unschlüssig zu sein, was sie tun sollte.
Finola warf einen Blick zurück zu Antônio, der ihr aufmunternd zulächelte, und ging hinaus.
Tyler stand mit dem Rücken zu ihr ganz hinten im Gang in einer Ecke und verdeckte fast das Mädchen, das bei ihm war. Finola zögerte. Betrog Tyler seine Freundin und knutschte hier mit einer anderen? Nein, es sah eher so aus, als ob sie sich leise unterhielten.
Finola tat, als sei ihr etwas runtergefallen, das sie jetzt suchen musste, und behielt die beiden im Blick.
Schließlich nickte Tyler und verschwand in der Herrentoilette. Die Kleine kam den Gang zurück, und ohne Finola zu beachten, betrat sie die Damentoilette. Finola folgte ihr und wusch sich sehr gründlich die Hände, bis sie aus der Kabine kam. Sie wirkte animierter als zuvor. Das Gespräch mit Tyler hatte ihr wohl gutgetan. Oder …
Als sie am Waschbecken das Wasser anstellte, eilte Finola zurück zu Antônio und konnte so beobachten, wie das Mädchen wieder in den Pub kam und Tícia etwas ins Ohr flüsterte. Tícia schüttelte den Kopf, doch die Kleine gab nicht nach. Mit dem Kinn deutete sie auf die Tür zu den Toiletten. Tyler war noch nicht zurück.
Schließlich ließ sich Tícia überreden und ging hinaus.
»Fällt dir an dem dunkelhaarigen Mädchen was auf?«, fragte Finola Antônio.
»Sie hat jetzt bessere Laune als vorhin. Und definitiv eine Schwäche für den Rothaarigen. Schau mal, wie sie den anflirtet.«
Jemand stieß Finola heftig in die Seite und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte gegen einen breiten Rücken und konnte sich gerade noch aufrecht halten.
»Ey, pass auf!«, rief sie dem Rempler nach und verpasste dadurch fast Tícias und Tylers unerwartet schnelle Rückkehr. Jetzt hatte Tyler den Arm um seine Freundin gelegt, und sie sah sehr viel glücklicher aus als zuvor.
Die Clique blieb noch auf eine zweite Runde, wurde immer ausgelassener und ließ schließlich Anzeichen von Aufbruch erkennen.
»Wo hast du meine Umziehsachen?«, fragte Finola.
»Im Auto, in der Sporttasche auf dem Rücksitz. Auf dem Parkplatz Richtung Calton Hill. Ich hoffe, das Kleid passt. Hab ich eigentlich für meine Schwester gekauft. Hier, nimm die Schlüssel; ich halte noch etwas die Stellung, bis sie gehen«, schlug Antônio vor. »Aber andererseits, wir kennen ja den Club.«
»Meinst du, es ist derselbe wie gestern?«
»Bestimmt – Tyler wirkte dort sehr bekannt. Ich tippe darauf, dass das sein Biotop ist.«
Finola nahm den Autoschlüssel entgegen. »Danke. Ich komm dann zum St Andrew Square und gable dich auf!«