Kapitel 21
An diesem Sonntag stand Finola erst gegen Mittag auf. Sie hatte wunderbar geschlafen und fühlte sich bereit, die Observierung nach dem Frühstück wieder aufzunehmen. Doch zuerst musste sie Anne sprechen.
Sie fand sie in ihrem Atelier vor einer fast leeren Leinwand mit ihrer Palette und einem Pinsel in den Händen. Abwechselnd sah Anne von den Farben zur Leinwand und wieder zurück und schien sich nicht recht entscheiden zu können, was sie zu den geschwungenen blauen Linien hinzufügen sollte.
»Ich will dich nicht stören«, sagte Finola. »Ich nehme an, du hast meine Nachricht von heute Nacht gehört?«
»Ja, wunderbar.« Anne legte ihre Malutensilien zur Seite und drehte sich zu ihr um. »Der Bericht ist schon geschrieben und an Senhor Machado geschickt. Er wird nicht sehr glücklich darüber sein.«
»Soll ich heute …«
Anne winkte ab. »Ich glaube, über Tícias Wochenendbeschäftigungen wissen wir genug. Wichtig ist, dass du morgen schaust, ob sie zur Uni geht und wie es mit ihrem Studium aussieht. Vielleicht kannst du ja auch noch mal diese Carol befragen? Möglicherweise hat sie Tícia nur länger nicht gesehen, weil die in der Bibliothek lernt oder eine Hausarbeit schreibt. Oder sprich doch noch mal mit dieser anderen Freundin.«
»Was hat Lachie über Tyler herausgefunden?«
»Dass der gar kein Student ist, sondern nur so tut als ob!«
»Puh! Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Dann hat er also schon Tessa belogen? Die hatte mir das mit dem Studieren erzählt. Sie kann echt froh sein, dass sie den Typen los ist.«
»Sieht so aus.«
»Vielleicht ist das seine Masche, um sich junge Freundinnen unter den Studentinnen zu angeln. Soll ich ihn mal aushorchen?« Finola grinste. »Ich habe eine blonde Langhaarperücke …«
»Ich denke nicht, dass das nötig ist.« Anne winkte ab. »Mach du dir heute mal einen schönen Sonntag.«
»Das werde ich. Laurie hat mich eingeladen, zu ihrer Scottish-Country-Dancing-Gruppe mitzugehen. Die haben heute wohl einen kleinen Ceilidh
»Wie schön! Tanzt du?«
»Schon lange nicht mehr, aber ich freu mich drauf. Als Kind hab ich an richtigen Highland-Dance-Wettbewerben teilgenommen, allerdings hatte meine Mutter nach dem Tod meines Vaters keine Lust mehr, mit mir immer zu Highland Games zu fahren, und als wir schließlich nach Glasgow gezogen sind …« Sie zuckte mit den Schultern.
»Och, das verlernt man ja nie ganz, oder? Ich wünsch dir viel Spaß! Es wird dir guttun, mal an etwas anderes als an eine Observierung zu denken!«
»Cool, dass du mitkommen kannst.« Laurie strahlte.
Finola nickte. »Ich freu mich auch. Anne und ich haben mir heute freigegeben, weil ich die letzten zwei Nächte unterwegs war.«
»Harter Job?«
»Manchmal schon.«
»Bei mir ging’s gestern im Café.« Laurie lächelte. »Es war zwar nicht so viel Betrieb wie sonst, aber es war immerhin Kundschaft da. Danke, dass du da nachgeholfen hast.«
Plaudernd erreichten Finola und Laurie den Saal der Kirche, in dem die Country Dancers sich zusammenfanden. Die Live-Band war schon da, und der Caller, der die Schritte ansagen würde, sprach sich gerade mit den Musikern ab.
In froher Erwartung setzte sich Finola neben Laurie auf einen der Stühle an der Garderobe und wechselte die Schuhe. Sorgsam schnürte sie die langen Bänder ihrer schwarzen Ghillies, die sie Ewigkeiten nicht angehabt hatte und die ihr ein wenig enger vorkamen als früher.
»Schöner Rock!«, sagte Laurie.
»Gleichfalls.« Finola lächelte und drehte sich, sodass der weite Rock um sie herumschwang. Wie angenehm, dass sie heute hier sein konnte.
Das Stimmen der Geige lud ein, sich unter die Leute zu mischen.
»Kennst du noch Trish und Rob?«, fragte Laurie, als sie einem Paar um die fünfzig gegenüberstanden.
»Ja, wir saßen mal in deinem Café an einem Tisch«, erinnerte sich Finola. »Als ich ganz neu hier war.«
»Schön, dass Sie heute bei uns sind.« Trish und Rob schienen ehrlich erfreut.
»Darf ich Ihnen Finola einen Moment hierlassen?«, fragte Laurie. »Ich muss kurz zur Band.«
Trish nickte. »Selbstverständlich. Ich stell sie allen vor. Ah, da sind ja Gavin und Tara – haben sie also doch einen Babysitter gefunden!«
Die beiden schätzte Finola auf Anfang dreißig, sie hatten, wie sie erzählten, einen zweijährigen Sohn und konnten daher nicht regelmäßig kommen. Anschließend stellte Rob ihr Max vor, dessen Falten auf ein höheres Lebensalter schließen ließen als sein dynamischer Gang.
Beim Scottish Country Dancing war, wie üblich, jedes Alter vertreten. Die Gäste waren einzeln oder als Paar gekommen, die meisten Herren im Kilt, die Damen in weiten Röcken oder Kleidern. Man würde Gelegenheit haben, sich miteinander zu unterhalten und ein wenig zu essen und zu trinken – was für ein Gegensatz zu der letzten Nacht im Club! Finola sandte einen kurzen Gedankengruß an Antônio und wandte sich auf ein Zeichen von Trish lächelnd dem nächsten Neuankömmling zu.
Mit einem Ruck rutschte ihr Herz in den Magen. Ihr Lächeln gefror.
Craig Erskine runzelte die Stirn. »Bist du wegen mir hier, oder ist dieses Mal ein anderer armer Teufel dran?«
»Ihr kennt euch?«, fragte Trisha überrascht.
»Lange Geschichte.« Craig winkte ab. »Gehört nicht hierher.«
So wie er den letzten Satz betonte, klang er, als wollte er damit sagen, dass Finola seiner Meinung nach nicht hierhergehörte.
»Ist Amanda auch da?« Finola legte den Kopf schief und gab ihrer Stimme einen süßlichen Klang.
»Nein.«
»Die Arme hat sich letzte Woche beim Sport die Achillessehne gezerrt«, erklärte Trisha. »Schön, dass du trotzdem kommst, Craig.«
»Ihr entschuldigt, ich muss gerade mal mit Max …?«
Er nickte Rob und Trisha zu und durchquerte dann mit großen Schritten den Raum, wo Max sich mit ein paar anderen Leuten unterhielt.
Trisha sah ihm bedauernd nach. »Schade, Sie hätten mit ihm ein Paar für den ersten Tanz bilden können.«
Finola bemühte sich um ein höfliches Lächeln. Danke. Nein, danke!
»Ich muss kurz noch Laurie was fragen!«, behauptete sie und ging hinüber zur Band, wo Laurie mit dem Akkordeonisten zu flirten schien.
»Das ist Daniel!«, stellte Laurie ihn vor. »Und das ist Finola. Sie ist neu hier, aber ich hoffe, das ist heute nicht ihr letztes Mal bei uns. Sie hat früher schon getanzt.«
»Na, dann ist sie richtig! Wir reden später, ja?« Er begann, in seinen Noten zu blättern, und Laurie wandte sich Finola zu. Sie stutzte.
»Ups, wie siehst du denn aus? Ist dir ein Geist begegnet?«
»So was Ähnliches«, bekannte Finola. »Jemand, den ich mal beschattet habe.«
»Erzähl!«
»Besser nicht. Schweigepflicht. Nur so weit: Der Mann hat es mir damals sehr übel genommen, dass ich ihn im Auftrag seiner Frau bespitzelt habe. Sie wollte wissen, ob er sie betrügt.«
»Und?«
»Nein.«
»Wie langweilig! Aber sollte er nicht eigentlich froh sein, dass seine Unschuld bewiesen wurde?«
Finola verzog das Gesicht. »Er sieht es wohl anders. Vielleicht sollte ich besser gehen? Nicht, dass das hier auf die Stimmung schlägt.«
»Quatsch! Der soll seinen Frust an seiner Frau auslassen – die hat den Auftrag erteilt –, nicht an dir! Komm, da drüben sind Evan und Scott, die tanzen beide klasse und sind total cool. Ich denke, ich nehme Evan, und du kriegst Scott.« Sie zog Finola mit sich. »Das passt doch prima: MacTavish und Scott.«
Laurie lachte so laut über ihr eigenes Wortspiel, dass sich mehrere Leute amüsiert nach ihr umdrehten.
Aus dem Augenwinkel konnte Finola erkennen, dass auch Craig kurz herüberschaute, sich dann aber sofort wieder abwandte.
Sie hob ihr Kinn ein wenig höher. Nein, sie würde sich nicht von einem missgelaunten Ex-Zielobjekt vertreiben lassen. Sie hatte das Recht, hier heute Spaß zu haben. Wenn es ihm nicht passte, dass sie hier war, konnte er ja gehen.
Kaum hatten Laurie und Finola Evan und Scott erreicht, spielte die Band einen typischen Akkord zur Begrüßung, dann trat der Caller ans Mikrofon.
»Willkommen, meine lieben Freunde«, rief er. »Für die, die mich noch nicht kennen sollten – ich bin Ronnie, und ich werde euch heute helfen, eure Beine zu schwingen!«
»Hi, Ronnie!«, antworteten alle im Chor, und einige lachten.
Finola lächelte unwillkürlich.
»Ich habe mir gedacht, wir fangen mal ganz leicht an – mit einem Gay Gordons . Da kennt ihr alle die Schritte doch in- und auswendig, da muss ich nicht arbeiten und kann mir noch ein wenig die Kehle anfeuchten.«
»Oooh!«
»Ja, danach wird es nämlich ernst. Ihr sollt euch ja nicht langweilen. Also – stellt euch jetzt auf für den Gay Gordons
Laurie sah Finola fragend an. Die nickte, tatsächlich wurde dieser Tanz so oft gespielt, dass er ihr auch ohne calling , also ohne Ansage der Schritte, hoffentlich keine Probleme bereitete.
Ronnie forderte zur Partnerwahl auf, und da Laurie sofort nach Evans Hand griff, bildete Finola automatisch mit Scott ein Paar. Der lächelte ihr zufrieden zu und führte sie zur Tanzfläche. Zusammen mit den anderen Paaren stellten sie sich gegen den Uhrzeigersinn im Kreis auf.
Wieder erklang ein Begrüßungsakkord, und die Tanzenden verbeugten sich oder knicksten voreinander. Finola und Scott fassten sich an den Händen und nahmen beim ersten Ton der Melodie die entsprechende Tanzhaltung nebeneinander ein.
Und dann war es einfach ein großes Vergnügen. Vier Schritte vor, umdrehen, vier Schritte rückwärts. Dasselbe in die andere Richtung. Mit den passenden Schritten drehen unter Scotts Arm und Polkaschritte im Kreis um die Tanzfläche. Und wieder von vorn.
Am Ende des Tanzes war sie dank Scotts enthusiastischem Tanzstil ein wenig außer Atem, aber glücklich. Warum hatte sie eigentlich so lange nicht mehr getanzt?
Der Reel, der folgte, war, wie Ronnie sagte, ganz neu und daher allen unbekannt. Scott nickte ihr aufmunternd zu. Dieses Mal stellten sich vier Paare in ein Set auf, und bestimmt war nicht nur Finola froh, dass Ronnie zu Beginn die Schritte mit ihnen durchging und sie mit seiner warmen, kräftigen Stimme auch während des Tanzes ansagte. Zweimal tanzte sie ansatzweise in die falsche Richtung, und einmal vergaß einer der Herren seine Schritte. Jedes Mal halfen die Mittanzenden bereitwillig und fröhlich.
»Und?«, rief Laurie ihr zu, als die Damen des Sets sich während des Tanzes in der Mitte trafen.
»Wenn euch eine Tänzerin fehlt, könnt ihr mit mir rechnen!«
Laurie lachte.
Finolas Entscheidung, Lauries Scottish-Country-Dancing-Gruppe beizutreten oder zumindest hin und wieder zu einem Ceilidh zu kommen, wurde in den Pausen bestärkt. So entspannt hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Ronnies Witze waren wirklich lustig, sie führte mit allen möglichen Leuten nette Gespräche, und es mangelte weder an Getränken noch an verschiedenen guten Tänzern.
Selbst Craig Erskine wirkte irgendwie aufgetaut, auch wenn er sie keines Blickes würdigte, als er irgendwann beim Dashing White Sergeant im Dreierset gegenüber landete und schließlich direkt an ihr vorbeitanzte.
So what?