Kapitel 22
Am Montagmorgen fuhr Finola mit dem Bus zu den Uni-Gebäuden am George Square. Eigentlich hatte sie die Fünf nach Newington nehmen wollen, um zuerst bei Tícias Wohnung vorbeizuschauen. Vielleicht war die Studentin ja heute Morgen da, zumindest, um frische Klamotten zu holen oder ihre Bücher für die Uni? Möglicherweise hatte sie nur das Wochenende bei Tyler verbracht, und sie und Carol hatten sich in der letzten Woche einfach verfehlt?
Aber dann war zuerst die Dreiundzwanzig gekommen, und Finola hatte kurzerhand umgeplant. Mit diesem Bus konnte sie bis zur Forrest Road fahren und von dort bequem das kleine Stück zum George Square laufen, um zu überprüfen, ob Tícia um neun zu ihrer ersten Vorlesung erschien. Wenn nicht, würde sie zu ihr nach Hause gehen. Wie weit war das? Eine halbe Meile höchstens, ein schöner kleiner Spaziergang bei dem sonnigen Wetter. Danach war ausreichend Zeit, um ihren Elf-Uhr-Termin bei Helen wahrzunehmen.
Sie warf noch einmal einen Blick auf Tícias Stundenplan, den sie sich aus der Akte im Büro abfotografiert hatte. Am Anfang ihres Auslandsstudiums hatte Tícia wohl jede kleinste Info nach Hause geschickt, und ihr Vater hatte Anne alles gemailt.
Tícias Vorlesungen und Seminare lagen alle zwischen Montag und Donnerstag. Jetzt war dieser Stundenplan endlich nützlich; Finola würde in den nächsten Tagen so ganz einfach ihre Anwesenheit überprüfen können. Gegen Ende der Woche konnten Tícias Eltern also begründet entscheiden, ob ihre Tochter ihr Leben wie derzeit weiterführen sollte oder ob sie ihr den Geldhahn abdrehen und sie zur Rückkehr zwingen würden.
Das Handy in ihrer Hand summte, blinkte, und der Name Laurie leuchtete auf.
»Hi!«
»Wo bist du? Kannst du kommen?« Lauries Stimme klang seltsam belegt.
»Ich sitz gerade im Bus zur Uni. Ist was passiert?«
»Helen ist tot.«
Finola sog unwillkürlich die Luft ein.
»Ich hab’s eben erfahren, als ich zum Café gekommen bin. Hab vor der Tür eine Kundin getroffen, die wusste davon. Die Putzfrau hat Helen heute Morgen gefunden. Und«, Laurie schluchzte kurz auf, »sie wurde vergiftet!«
»Bist du sicher?«
»Die Putzfrau hat gehört, wie die Notärztin mit den Polizisten gesprochen hat.«
»Wann ist das passiert? Wann hat sie sie gefunden?«
»Ich weiß nicht. Vor ’ner Stunde vielleicht oder anderthalb. Ich bin eben zu Helens Haus gegangen, und da ist abgesperrt, und es steht alles voll Polizei und …« Sie schluchzte wieder.
»Beruhige dich, Laurie. Gestern hattest du dein Café ja zu, also kannst du sie nicht vergiftet haben, als sie bei dir Tee getrunken hat.«
»Das ist nicht witzig!«
»Ja, okay, tut mir leid, warte mal … ich muss aussteigen.«
Beinahe hätte Finola ihre Haltestelle verpasst. Erst als sie auf der Straße stand, sprach sie weiter.
»So. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht so ganz, warum dich das so aufregt, dass ich unbedingt kommen soll. Ich arbeite gerade, und im Moment ist es wirklich ein bisschen ungeschickt. Wie wär’s um halb zwölf? Um elf habe ich meinen Termin mit Helen … oh!«
Finola wurde plötzlich sehr heiß.
Helen lebte nicht mehr.
Jetzt untersuchte die Polizei ihren Tod. Und Helen hatte den heutigen Termin in ihr Handy eingespeichert. Elf Uhr – Sally. Sicher stand auch der Samstagstermin in ihrem Kalender. Und je nachdem, wann Helen gestorben war, Samstag oder Sonntag, würde man nach Sally suchen, um sie zu befragen. Oder man würde sie gar verdächtigen.
Fucking shit!
Adrenalin pumpte durch Finolas Körper, in den Ohren summte
es. Kampf oder Flucht? Oder in diesem Fall: Sich bei der Polizei melden und zugeben, dass sie sich unter falschem Namen bei Helen eingeschlichen hatte, oder schweigen und hoffen, dass niemand sie gesehen und erkannt hatte?
»… doch kommen? Bitte, Finola. Finola?«
Langsam drangen wieder Laute an ihr Ohr, Laurie rief ihren Namen.
»Ja, Moment, ich überlege. Ruf dich gleich zurück.«
Finola ließ ihr Handy sinken. Sie atmete mehrmals bewusst ein und aus und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Okay, Panik war nicht angesagt. Schließlich hatte sie Helen nicht ermordet. Und Laurie auch nicht. Und es konnte ihr keiner verbieten, einen kleinen Nebenjob anzunehmen und jemandem privat eine Massagebehandlung zu geben. Nur falls Anne mitkriegte, dass das genau in der Zeit geschehen war, in der sie angeblich Tícia observiert hatte, in der aber Antônio …
Antônio. Hoffentlich war er erreichbar!
Er meldete sich schon nach dem ersten Klingeln. »Spreche ich mit Rosie-Maus oder der heißen Braut aus dem Club?«, säuselte er.
Finola musste unwillkürlich lächeln.
»Du sprichst mit einer Privatdetektivin in großen Nöten.« Sie versuchte, auf seinen heiteren Ton einzugehen. »Ich habe gerade einen Anruf in einem anderen Fall bekommen und kann jetzt nicht wie geplant Tícias Uni-Veranstaltungen und ihre Wohnung überprüfen.«
»Oh, ich kann das für dich übernehmen«, bot er sofort an. »Gar kein Problem.«
»Das klingt ja ziemlich erfreut.«
Antônio lachte. »Es macht Spaß, mit dir zu arbeiten. Und ich habe erst heute Abend wieder zu tun. Eine Ghost Tour.«
»Na, viel jobbst du dort nicht gerade. Ich kann dir für deine Hilfe aber was zahlen.«
»Mach dir darum keine Sorgen. Alles in Ordnung. Also, wo soll ich was überprüfen?«
»Ich schick dir Tícias Stundenplan und die Adresse. Guck einfach, ob sie an der Uni oder zu Hause ist und was sie so macht. Aber unauffällig.«
»Klar doch. Du kannst dich auf mich verlassen und in Ruhe deinen anderen Fall lösen. Ich gebe dir heute Abend meinen Bericht nach der Ghost Tour, ja? Ganz persönlich. Und wenn was unklar ist, schick ich dir ’ne Nachricht.«
»Danke, Antônio! Du bist ein Schatz! Du rettest mich jetzt wirklich … also, danke!
Wenige Sekunden später hatte sie Antônio die Unterlagen geschickt und eilte um die Ecke zur Bushaltestelle in die Gegenrichtung. Sie wählte Lauries Nummer.
»Laurie?«
»Kommst du?«
»Ja, bin schon unterwegs zum Bus. Wir sehen uns gleich im Café.«
»Ich bin so froh!« Laurie schluchzte. »Hoffentlich kommt die Polizei nicht vor dir. Ich will nicht allein sein, wenn sie …«
»Wieso die Polizei?«, fragte Finola. »Du hast ja mit Helens Tod gar nichts zu tun.«
»Hab ich auch nicht. Aber ich hab’s dir doch vorhin erklärt.«
»Was? Ich verstehe nicht!«
»Die Putzfrau hatte, bevor sie Helen fand, schon die Mülleimer in der Küche geleert. Und darin waren ihr die bunten Cupcakeförmchen aufgefallen. Genau solche, wie ich sie fürs Café benutze!«