Kapitel 24
Laurie sackte auf ihrem Stuhl zusammen.
Finola ging an ihr vorbei zur Tür und schloss diese ab. Dann setzte sie sich zu Laurie und nahm deren Hand.
»Was ist los, dearie?«, fragte sie leise.
»Ach, das alles mit der Polizei …«
»Diese MacFarlane schien doch ganz nett zu sein. Hast du schon mal schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht?«
Laurie entzog ihr die Hand und stand auf. »Ich kann irgendwie gar nicht glauben, dass Helen tatsächlich tot ist. Meinst du, dass sie wirklich nur was Falsches gegessen haben könnte?«
Warum wechselte Laurie so abrupt das Thema?
»Definitiv. Gift ist immer was Falsches«, erklärte Finola. »An einem verdorbenen Lebensmittel stirbt man meines Wissens allerdings nicht so schnell, wenn man nicht gerade allergisch dagegen ist, einen anaphylaktischen Schock erleidet und keine Hilfe in der Nähe ist. Aber das wird man bei der Autopsie ja herausfinden. Wegen eines verdorbenen Magens dürfte nicht die Kriminalpolizei ermitteln. Also muss schon ein ernsthafter Verdacht bestehen.«
Sie verschluckte das Wort, das ihr auf der Zunge lag. Mord.
»Kannst du nicht einfach …« Laurie verstummte.
»Laurie, du hast doch gehört, was DI
MacFarlane gesagt hat. Ich kann Helens Tod unmöglich zu meinem Fall machen!«
»Ich meine ja auch nicht, dass du dich in die Polizeiarbeit einmischst. Aber so ein bisschen umhören könntest du dich doch. Ganz diskret?«
Finola schüttelte den Kopf. »Ich sehe nicht, wie. Natürlich könnte ich mich als Patientin in der Praxis registrieren lassen und einen Termin ausmachen und mich dort ganz allgemein umsehen, aber …«
»Das wäre doch schon etwas. Vielleicht hörst du zufällig was. Oder dir fällt sonst was auf. Ob zum Beispiel jemand Cupcakes bei mir
kauft und sie dann vergiftet, um den Verdacht auf mich zu lenken!«
»Wie bitte?« Auf diese Idee wäre Finola nicht im Traum gekommen. Wer sollte Laurie schaden wollen? Und dabei ein Menschenleben opfern?
»Du merkst schon, dass du ein bisschen paranoid bist?«, fragte sie.
»Ja, ich weiß, aber ich komm einfach nicht von dem Gedanken los, dass meine Cupcakes zum zweiten Mal unter Verdacht stehen.« Laurie biss sich auf die Unterlippe. »Was wird denn jetzt aus meinem Café?« Ihre Stimme zitterte.
Finola trat auf sie zu und nahm sie in die Arme.
»Es wird alles gut«, sagte sie.
Sie würde Laurie noch ein wenig trösten und dann tatsächlich in der Praxis vorbeischauen, um sich zu registrieren. Irgendwann und irgendwo musste sie das ja ohnehin tun. Warum also nicht in der Burke Dental Clinic
?
Die Zahnarztpraxis war hell und freundlich, türkisfarbene Akzente lockerten das Weiß-Grau der Wände und Möbel auf.
Finola trat an die Rezeptionstheke, hinter der eine Frau Anfang vierzig stand und beruhigend auf ein junges Mädchen einredete, das völlig verschreckt wirkte.
»… erst mal eine große Kanne Tee für uns alle. Und dann setzt du dich in die Küche und trinkst eine Tasse. Mit viel Milch und Zucker. Atme ein paarmal tief durch, und du wirst sehen, es geht wieder besser. Ja?«
Das Mädchen nickte und verschwand in einem Gang um die Ecke. Die andere Frau drehte sich zu Finola um.
»Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Sie wirkte auf den ersten Blick völlig ruhig, doch Finola entging nicht, dass ihr Lächeln sich auf den Mund beschränkte und eines ihrer Lider mehrfach zuckte.
»Guten Morgen. Ich bin neu nach Edinburgh gezogen und möchte mich gerne hier registrieren.«
Die Rezeptionistin, deren Namensschild sie als Nikki auswies, zögerte kurz, dann holte sie aus einer Schublade ein Formular, klemmte dieses auf ein Brett, an dem eine Schnur mit einem Kuli
befestigt war, und reichte Finola die Unterlagen.
»Bitte füllen Sie das aus. Sie können sich dort um die Ecke im Wartebereich hinsetzen.«
Finola dankte ihr. Sie tat, als ob sie anfing, das Formular zu lesen, und ging sehr langsam in die angegebene Richtung. So konnte sie aus dem Augenwinkel sehen, wie Nikki das Telefon abnahm.
»Dr. Somplatzky, hallo. Eben kam eine neue Patientin. Wie machen wir es denn jetzt mit Neuregistrierungen? Kann ich überhaupt noch jemanden annehmen? Wie geht es mit der Praxis weiter?«
Finola machte noch einen Schritt und blieb dann stehen. Von dieser Stelle im Gang aus konnte sie die Rezeption nicht mehr sehen, war also auch für Nikki nicht sichtbar. Das war ideal zum Lauschen.
»Ja, ja, ich verstehe. Gut, dann mach ich erst mal alles wie gehabt, und wir besprechen das in der Mittagspause. Danke, Dr. Somplatzky … Nein, ich habe noch nicht mit Dr. McKay gesprochen. Er ist ja erst seit Kurzem … Ja, ja natürlich.«
Sie musste aufgelegt haben, denn es war nichts weiter zu hören. Aus einer der Türen kam eine Zahnarzthelferin und eilte ins Wartezimmer, das mit einer Glastür vom Gang abgeteilt war. Sie rief einen Patienten aus und führte ihn in den Raum, aus dem sie gekommen war. Eine große Eins auf der Tür ließ darauf schließen, dass es sich um einen der Behandlungsräume handelte. Den von Dr. Somplatzky? Oder den von Dr. McKay?
Finola betrat das Wartezimmer und setzte sich so, dass sie beim Ausfüllen des Formulars durch die Glastür den Gang im Blick behalten konnte. Viel geschah nicht. Nur einmal sprachen zwei Frauen in weißen Kitteln leise miteinander, bevor sie wieder in verschiedene Richtungen auseinandergingen.
Außer Finola saßen nur noch ein Mann und eine Frau im Wartezimmer. Der Mann starrte unglücklich vor sich hin, während die Frau in einer bunten Illustrierten blätterte.
Helen Burkes Tod schien die Praxis in ihrem Ablauf bisher nicht allzu sehr durcheinanderzubringen. Natürlich – Helen hatte Finola, oder besser gesagt Sally, ja erzählt, dass sie montags erst am Nachmittag arbeitete. Wie es dann wohl aussah? Würden die anderen Zahnärzte ihre Patientinnen und Patienten übernehmen? Oder gab es
so etwas wie einen Vertretungsdienst? Wie würde es insgesamt mit der Praxis weitergehen? Dem Namen nach – Burke Dental Clinic
– war Helen Burke die Chefin gewesen. Würde einer der anderen beiden Zahnärzte die Praxis übernehmen? Jemand Fremdes mit einsteigen?
Finola erhob sich. Es hatte keinen Sinn, hier herumzusitzen, die Rezeptionistin würde sich zudem wundern, wenn sie so ewig nicht zurückkam.
»Hier, bitte.« Finola legte das Klemmbrett mit dem Formular auf der Rezeptionstheke ab.
Nikki sah vom PC
-Bildschirm auf. »Vielen Dank. Wollen Sie auch schon einen ersten Untersuchungstermin machen? Ich kann Ihnen allerdings nichts für die nächste Zeit anbieten, erst in etwa drei bis vier Monaten haben wir wieder Kontrolltermine frei.«
»Das ist in Ordnung«, versicherte Finola. »Ich war vor meinem Umzug noch bei meiner alten Zahnärztin, es eilt überhaupt nicht. In fünf Monaten reicht es.«
Nikki wirkte erleichtert. »Gut, dann schau ich mal. Mitte März also?«
Finola zückte ihr Handy und checkte den Termin, den Nikki ihr vorschlug.
»Ich werde Sie bei Herrn Dr. Somplatzky eintragen, Dr. McKay nimmt im Moment nur noch Privatpatienten an.«
»Und was ist mit Dr. Burke?«, fragte Finola. »Ich würde eigentlich lieber zu einer Frau gehen.«
Nikki hielt kurz die Luft an und kniff die Lippen zusammen. Dann sagte sie: »Es tut mir leid, Dr. Burke steht nicht mehr zur Verfügung. Sie ist … sie ist unglücklicherweise gestorben.«
»Oh, Entschuldigung, das wusste ich nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Die Nachricht ist noch ganz frisch. Es ist nur …«
»Das muss ja sehr schwierig für Sie alle hier sein.« Es fiel Finola nicht schwer, Mitgefühl und Verständnis in ihre Stimme zu legen.
»Das ist es. Ich kann es noch gar nicht glauben. Helen war …« Nikki räusperte sich. »Entschuldigung. Ich bin doch etwas aufgewühlt, aber wir können ja die Patienten nicht …«
Finola nickte und wollte gerade zu einer weiteren Frage ansetzen,
als ein älterer Mann die Praxis betrat.
»Oh, wie gut, Sie haben geöffnet!«, rief er. »Ich hatte schon gefürchtet, dass ich an meinen Zahnschmerzen zugrunde gehen muss!«
»Aber nein, Mr Thomas«, antwortete Nikki. »Wir helfen Ihnen natürlich. Haben Sie einen winzigen Moment Geduld.«
Sie wandte sich noch einmal Finola zu. »Wir sehen uns dann im Mai, und falls vorher was ist, rufen Sie bitte an.«
»Ja, mach ich. Äh, wo ist hier bitte die Toilette?«
»Dort den Gang entlang auf der linken Seite. Es steht dran!«
Finola bedankte sich und steckte möglichst umständlich ihr Handy ein, während Nikki sich bereits wieder an den älteren Herrn wandte.
»Sie haben also Schmerzen?«