Kapitel 25
Der Weg zur Toilette führte an einer halb offen stehenden Tür vorbei, die den Blick auf eine Küche freigab. Das junge Mädchen von vorhin saß dort auf einem Stuhl und hielt einen Teebecher mit beiden Händen umfasst. Finola blieb neben der Tür stehen.
»Geh besser nach Hause, Pola«, hörte sie eine weibliche Stimme mit nordenglischem Akzent sagen. »Du bist hier heute ohnehin nicht wirklich zu gebrauchen.«
Trotz der harschen Worte klang sie mitfühlend.
»Aber ich möchte nicht …« Pola begann zu weinen.
»Schau, wir stehen alle unter Schock. Und jeder geht damit anders um. Wenn es dir guttut, hier zu sitzen, ist das schön für dich. Allerdings glaube ich nicht, dass Dr. Somplatzky begeistert davon ist, dich heulendes Elend hier vorzufinden, wenn er sich zwischen zwei Patienten seinen Kaffee genehmigt.«
»Der mochte Dr. Burke doch sowieso nicht.«
»Was hat denn das damit zu tun? Wir treffen uns nicht in der Praxis, weil wir uns mögen, sondern wir arbeiten hier. Zum Wohle der Patienten und natürlich, um unser Geld zu verdienen.«
»Aber irgendjemand hat Dr. Burke umgebracht, Rachel! Das hat doch was mit mögen zu tun!«
»Pst!«
Die Tür wurde geschlossen. Schade. Doch so konnte Finola tatsächlich auf die Toilette gehen und das eben Gehörte einsortieren. Sie wusch sich die Hände und überlegte. Wie konnte sie Kontakt zu dieser Pola aufnehmen? Die schien ja nicht abgeneigt, ihre Eindrücke von den Menschen in der Praxis von sich zu geben. Vielleicht sollte sie vor dem Haus warten, ob Pola sich tatsächlich krank meldete und heimging, wie Rachel es ihr geraten hatte? Auf jeden Fall musste sie selbst nun die Praxis verlassen, wenn sie keine unliebsamen Fragen aufwerfen wollte.
Als sie wieder auf den Gang trat, standen neben Pola zwei weitere Zahnarzthelferinnen vor der Küche.
»Das ist sicher besser so.« Rachel, deren Stimme Finola schon kannte, erwies sich als kleine, etwas füllige Enddreißigerin.
»Hast du jemanden, mit dem du reden kannst? Deine Familie? Oder eine Freundin?«, fragte ihre jüngere Kollegin.
Pola nickte und wischte sich die Tränen ab.
»Gut, dann müssen wir nur noch wen finden, der heute hier putzen kann. Gladys fällt ja aus, und ich fürchte, nicht nur heute! Ich muss das gleich mal mit Nikki besprechen.« Rachel schien die tatkräftigste Person in der Praxis zu sein.
Finola ging langsam zu den drei Frauen hin.
»Entschuldigung, wenn ich Sie einfach so anspreche. Ich habe eben zufällig gehört, dass sie jemanden zum Putzen suchen?«
Drei Augenpaare starrten sie an.
»Äh, ich bin ganz neu in Edinburgh, hab mich gerade hier registriert«, erklärte Finola und tat ein wenig schüchtern. »Ich habe aber im Moment keinen Job und suche … Also, ich könnte das machen.«
»Sie würden hier putzen? Ja, haben Sie denn Erfahrung mit so einer Praxis?« Rachel runzelte die Stirn. »Das ist ja nicht ganz so wie bei irgendjemandem zu Hause.«
»Ich habe in Glasgow in einer Physiotherapie-Praxis geputzt«, antwortete Finola ehrlich, denn auch wenn sie normalerweise dort Krankengymnastik gegeben hatte, so waren sie ohne Putzhilfe ausgekommen, weil jede der Kolleginnen mit angepackt hatte.
»Na ja, den medizinischen Kram machen wir ja ohnehin selbst sauber«, warf die Kollegin ein, deren Namensschild sie als Ina auswies. »Es ist eigentlich wirklich nur das Allgemeine zu tun.«
Rachel legte den Kopf schief. »Könnten Sie denn heute … haben Sie Zeit? Und ginge das eventuell auch noch ein anderes Mal?«
Finola nickte.
»Gut, dann rede ich gleich mal mit Nikki. Die ist für die Organisation der Praxis zuständig. Ich glaube nicht, dass einer der Herren Zahnärzte einen Sinn für solch profane Entscheidungen hat.«
»Vor allem nicht der gute Jonathan McKay«, flüsterte Ina und schüttelte den Kopf. »Der hat eher Halbgott-Allüren und lässt sich
ohnehin lieber bedienen. Dem muss Pola sogar seine Cupcakes für die Pause besorgen. Als wäre das ein Teil ihrer Ausbildung!«
Finola machte eine gedankliche Notiz zu Inas Bemerkung, während sie Rachels musternden Blick auf sich spürte.
»Gut, dann kommen Sie doch mal mit, wie heißen Sie?«
Gerne hätte Finola einen anderen Namen angegeben, aber durch ihre Registrierung vorhin war das nicht möglich.
»Finola, Finola MacTavish.«
Mit großen Schritten marschierte Rachel zur Rezeption, dicht gefolgt von Finola.
»Nikki – ich hab hier jemanden, die Gladys vertreten kann. Heute und vielleicht auch noch mal.«
Die Rezeptionistin rieb sich die Stirn. »Wunderbar. Ms MacTavish, nicht wahr?«
»Finola. Ja, ich bin gerade auf Jobsuche und kann gleich einspringen.«
»Schön.« Nikki wirkte erleichtert. »Dann kommen Sie doch einfach um sechs her, wenn die Praxis schließt, wir besprechen alles, und ich zeige Ihnen, was zu tun ist. Bis dahin weiß ich hoffentlich auch schon mehr, also, wegen Gladys.«
»Sechs Uhr«, wiederholte Finola und nickte.
»Gut, bis dann, Finola. Wolltest du noch was, Rachel?«
»Konntest du ein paar Patienten erreichen?«, fragte Rachel. »Dr. McKay würde sonst notfalls heute länger bleiben, hat er gesagt.«
Finola nickte beiden zum Abschied zu und verließ die Praxis.
Ob Gladys, die Putzhilfe der Praxis, dieselbe war, die bei Helen zu Hause gearbeitet hatte? Die, die sie tot aufgefunden hatte?
Und Pola hatte für Dr. McKay Cupcakes gekauft? Bei Laurie?
Das war doch alles sehr interessant.