Kapitel 27
Laurie hatte verstanden. Sie begrüßte Finola und Pola freundlich, aber ohne Vertraulichkeit. Das Café war leer.
»Lass uns da in die Ecke gehen, ja?«, schlug Finola vor. »Ich nehm einen Latte macchiato. Und du?«
»Ich auch.«
»Also, zweimal, bitte«, bestellte Finola und schob Pola sanft in den hinteren Teil des Cafés.
Sie setzten sich. Finola kramte ein wenig in ihrem Rucksack, um Pola Zeit zu geben, sich auf die Situation einzustellen.
»Mhm. Hab ich’s wohl doch liegen lassen«, murmelte sie, schloss den Rucksack wieder und stellte ihn beiseite.
»Geht es dir ein wenig besser?«, fragte sie Pola.
Die nickte stumm.
»Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich dich einfach angesprochen habe. Aber du hast mich so an meine kleine Schwester erinnert«, behauptete Finola, »und ich wollte dir irgendwie helfen.«
Pola bemühte sich um ein Lächeln. »Ich bin froh, dass ich nicht alleine nach Hause gehen muss. Da ist jetzt niemand. Und ich kann einfach an nichts anderes denken als an Dr. Burke.«
»Das versteh ich. Sonst liest man von solchen Fällen ja nur in der Zeitung, aber wenn eine, die man kennt, so stirbt …«
Pola nickte. »Es ist schrecklich, sich vorzustellen, dass sie ermordet wurde.«
Nun war das Wort gefallen. Mord. Das machte es Finola leichter, die nächsten Sätze zu formulieren.
»Ja, nicht wahr, man denkt dann unwillkürlich darüber nach, wer es gewesen sein könnte.«
Pola nickte.
»Und ob man den Mörder oder die Mörderin am Ende kennt.«
Pola nickte noch heftiger.
Laurie brachte die Getränke. »Mögt ihr einen Cupcake dazu?«, fragte sie. »Heute als Geschenk des Hauses.«
»Für mich gerne. Gibt es einen mit Blaubeeren?«, fragte Finola.
Laurie nickte und wandte sich an Pola. »Für dich auch einen? Wieder mit dunkler Schokolade wie beim letzten Mal?«
Aha, Laurie gab ihr zu verstehen, dass sie Pola als Kundin kannte.
Pola schüttelte den Kopf. »Ich nehm lieber auch einen mit Blaubeeren. Ich mag keine dunkle Schokolade – die waren für meinen Chef.«
Laurie warf Finola einen dankbaren Blick zu und ging zurück zur Theke, um die Cupcakes zu richten.
»Dieser Dr. McKay lässt dich tatsächlich für sich einkaufen?«, fragte Finola.
Pola nickte. »Das macht mir aber nichts. Es ist ja in der Arbeitszeit, also werde ich praktisch dafür bezahlt. Ich gehe auch manchmal für ihn auf die Post, oder letzte Woche – da hab ich was in der Apotheke besorgt.«
»Das gehört eigentlich nicht zu deiner Ausbildung, oder?«
»Natürlich nicht. Aber bei Dr. McKay kann ich so viel lernen, da macht mir das wirklich nichts aus, wenn ich mal kurz was anderes tue.«
»Dann ist er ein guter Chef?«
»Wenn man genau das macht, was er sagt, ja.« Über Polas Gesicht huschte ein Lächeln. »Er ist mir lieber als Dr. Somplatzky. Der ist zwar immer enorm nett und freundlich, aber ich trau ihm nicht. Ich glaube, der denkt oft was ganz anderes. Wie der Dr. Burke manchmal angestarrt hat. Also, wenn Blicke töten könnten …« Sie brach ab.
»Nun ja, zum Glück besteht da ja keine Gefahr. Ich meine, mit den tötenden Blicken. Ah, unsere Cupcakes. Vielen Dank.«
Laurie stellte zwei Tellerchen mit den Gebäckstücken auf ihren Tisch und verschwand umgehend wieder hinter ihrer Verkaufstheke.
»War eure oberste Chefin bei euch in der Praxis also nicht so besonders beliebt?«, erkundigte sich Finola beiläufig.
»Na ja.« Pola zuckte mit den Achseln. »Es war nicht immer einfach mit ihr. Sie hatte eine ziemlich spitze Zunge. Die haben wir alle manchmal abgekriegt, aber ich glaube, Dr. Somplatzky am meisten. Der tat mir einmal richtig leid, als sie …« Sie verstummte.
Finola biss in ihren Cupcake und wartete darauf, dass Pola weitersprach. Doch diese machte keine Anstalten, den Faden wieder aufzunehmen. Stattdessen trank sie schweigend ihren Latte macchiato.
»Und ihre Patienten?«, fragte Finola vorsichtig. »War sie eine gute Zahnärztin? Oder hast du nicht mit ihr zusammengearbeitet?«
»Ich schaue im Moment ja meistens nur der eigentlichen Zahnarzthelferin zu oder reiche ein Instrument oder sauge ab oder so. Aber ich arbeite mit allen drei Zahnärzten zusammen, das hängt immer vom Dienstplan ab. Montags bin ich morgens bei Dr. McKay und nachmittags bei Dr. Burke.« Pola schluckte.
»Das ist jetzt bestimmt für euch alle sehr schwierig. Aber Rachel und Nikki scheinen ja gut organisieren zu können. Das hilft sicher dabei, die Praxis in Gang zu halten.«
Pola nickte und nahm ihren Cupcake in die Hand. Sie sah ihn unschlüssig an und legte ihn dann wieder auf den Teller. »Ich hab irgendwie gar keinen Appetit.«
Das schien sie ehrlich zu meinen. Offenbar lehnte sie nicht ab, weil sie von den Cupcakeförmchen in Helens Müll gehört hatte. Vielleicht standen Lauries süße Versuchungen doch noch nicht unter Generalverdacht.
»Manchmal ist Zucker gut gegen Schock, oder wenn man traurig ist«, erklärte Finola.
»Vielleicht kann ich den ja mitnehmen?«
»Bestimmt.«
Pola schwieg.
Wie sollte Finola das Gespräch wieder in Gang bringen, ohne ihr das Gefühl zu geben, sie auszuhorchen?
»Hast du einen Tipp, was ich heute beachten muss, wenn ich zum Putzen gehe?«, fragte sie schließlich. »Ich möchte alles gut machen, vielleicht kann ich ja noch ein paarmal kommen und wenigstens ein bisschen was verdienen, bis ich einen richtigen Job hab. Meinst du, diese Gladys ist länger krank?«
Pola sah sie überrascht an. »Gladys ist nicht krank. Es ist nur … Sie hat Dr. Burke tot aufgefunden.«
Bingo.
» Oh, das wusste ich nicht«, behauptete Finola. »Das muss ja schlimm für sie gewesen sein.«
Pola nickte.
Verflixt, warum musste man dem Mädchen jeden Satz aus der Nase ziehen? Finola schwieg nun auch und aß ihren Cupcake zu Ende.
»Ich glaube, ich gehe jetzt. Vielen Dank für deine Zeit.« Pola stand auf.
»Vergiss deinen Cupcake nicht, lass ihn dir einpacken. Der ist wirklich lecker.«
Wieder nickte Pola nur. Sie nahm ihre Jacke und ihre Tasche und blieb zögernd stehen.
»Mir ist noch was eingefallen«, sagte sie. »Da war vor ein paar Wochen eine Patientin, die war stinkesauer auf Dr. Burke. Ms MacLean, die wollte sie sogar verklagen. Kunstfehler, hat sie gesagt. Irgendwas war mit ihrem Implantat. Und dass das ja nicht das erste Mal sei, dass sie gepfuscht hätte.«
»Ah ja.« Finola bemühte sich, nicht allzu interessiert auszusehen.
»Ich dachte nur, weil du doch vorhin gefragt hast, ob sie eine gute Zahnärztin war.«
»Danke. Aber mich wird sie nun ja nicht mehr behandeln.«
Pola schüttelte den Kopf. Sie schien wieder den Tränen nahe, und Finola verwünschte sich für ihre letzte Bemerkung.
»Dann also bye«, sagte Pola. »Danke für die Einladung.«
Finola sah ihr nach, wie sie Laurie’s Café verließ, ohne sich noch einmal umzuschauen. Den Cupcake hatte sie stehen lassen. Vielleicht hatte sie doch von den Förmchen in Helen Burkes Müll gehört.
Finola griff nach dem Blaubeerküchlein und überlegte, dass die vielen Cupcakes der letzten Tage wahrscheinlich nicht die gesündeste Ernährung darstellten. Zumindest konnte sie davon ausgehen, dass Laurie sie bestimmt nicht vergiften würde. Schließlich wartete sie darauf, dass Finola ihr half, ihre Unschuld zu beweisen. Finola grinste unwillkürlich.
»Und, was hast du rausgekriegt?« Laurie setzte sich an den Tisch und beugte sich zu ihr.
»Dass diese Blaubeercupcakes wirklich ausgezeichnet sind.«