Kapitel 31
»Kannst du dir vorstellen, dass der Somplatzky die Chefin vergiftet hat?«
»Nee, nicht wirklich. Obwohl er sicher genug Gründe hatte, sie zu hassen. Die hat ihn doch förmlich gemobbt.«
Finola blieb stehen und stellte leise den Eimer ab. Um die Ecke in der Küche sprachen zwei Frauen. Die mit dem nordenglischen Akzent hörte sich nach Rachel an.
»Na, ich könnte mir schon vorstellen, dass er Gift über meine Pizza streut, weil er genau weiß, wer hier immer alles aufisst, was übrig bleibt!«
»Lindsey!«
»Na, ist doch wahr. Sogar mein angefangener Joghurt aus dem Kühlschrank war neulich leer. Und der ist bestimmt nicht verdunstet.«
Wer war Lindsey? Auf jeden Fall eine weitere Angestellte. Wahrscheinlich diejenige, von der die Meeresfrüchtepizza stammte, die Helen am Donnerstag gegessen hatte, bevor sich die ersten Vergiftungserscheinungen gezeigt hatten.
»Kann ich mir nicht vorstellen. Deine Pizza zu vergiften wäre viel zu riskant gewesen. Hätte zu leicht jemand anderen treffen können.« Rachels Stimme klang zweifelnd. »Und wie soll er die zweite Vergiftung hingekriegt haben – am Wochenende?«
»Mit einem kleinen Geschenk? Pralinen oder noch besser: einer Flasche Wein. Da kann man doch sicher das Gift ganz leicht durch den Korken spritzen. Und das Ganze am besten anonym, als Dank eines Patienten.«
»Pass bloß auf, dass dich niemand hört, sonst verhaften die dich gleich!«
Finola zögerte. Sollte sie weiter zuhören oder hineingehen und sich diese Lindsey anschauen? Vielleicht war sie ja selbst diejenige,
die den eben so locker vorgeschlagenen Plan tatsächlich ausgeführt hatte? Am Ende mit Lauries Cupcakes? Wenn sie da welche in die Küche gestellt hatte …
»So, ich bin weg«, sagte Rachel. »Muss noch einkaufen.«
Jetzt oder nie. Finola griff nach ihrem Putzeimer, eilte um die Ecke und stieß fast mit Rachel zusammen, die in Jacke und Schal die Küche verlassen wollte.
»Oh, sorry. Ich will nur schnell noch hier durchwischen!«, erklärte Finola und wandte sich an die dunkelhaarige Frau, die mit einem Kaffeebecher in der Hand am Tisch saß. »Ich bin Finola. Ich vertrete heute Gladys.«
»Ach ja, die wird jetzt erst mal allen von ihrer schrecklichen Entdeckung heute Morgen erzählen müssen!« Sie lachte. »Übrigens, ich bin Lindsey. Ihre Spezialistin für professionelle Zahnreinigung.«
»Tolle Werbestimme!«, sagte Finola.
»Okay, ich bin jetzt echt weg. Bye!« Rachel verließ die Küche.
Finola stellte den Eimer ab und lehnte den Wischmopp an den Küchenschrank. »Soll ich hier erst mal die Tassen spülen?«
»Quatsch, wir haben ’ne Spülmaschine«, erklärte Lindsey und zeigte auf das Gerät. »Die meisten Leute sind allerdings nicht fähig, ihre Tassen da hineinzupacken!«
»Umso besser!« Finola öffnete die Spülmaschine und begann, das herumstehende Geschirr hineinzuräumen. »Hab heute nämlich noch was anderes vor. Ich bin nur als Notdienst eingesprungen. Scheint bei euch hier ja gerade alles ein wenig drunter und drüber zu gehen.«
»Nicht wirklich. Ist auch entlastend, wenn die Chefin nicht da ist. Also, versteh mich nicht falsch, aber die konnte mit ihren bissigen Bemerkungen schon ganz schön nerven.«
Seltsam. Ihr gegenüber hatte Helen sich anders gezeigt. Aber da war natürlich auch die Situation anders gewesen. Finola war keine ihrer Angestellten, sondern eine Frau, die ihr gegen Schmerzen geholfen hatte. Nur diese eine Bemerkung über ihre Scheidung hatte verbittert geklungen.
»Meinst du, ihre Ehe ist deshalb schiefgegangen? Weil sie so spitzzüngig war?«, fragte Finola wie nebenbei.
»Was weiß denn ich?«
»Ach so, du kennst wahrscheinlich ihren Ex gar nicht.«
»Doch, klar kenn ich Cameron und Tessa. Bin ja schon zehn Jahre hier in der Praxis. Da kriegt man einiges mit.«
»Tessa?«
»Ihre Tochter. Die studiert jetzt in St Andrews. Scheiße, ich hab noch gar nicht dran gedacht, wie die das wohl aufnimmt. Obwohl sie ja eigentlich von Cameron aufgezogen wurde und gar nicht so viel mit Helen zu tun hatte. Die war mehr so die Karrierefrau.«
»Wie ungewöhnlich! Das wusste ich gar nicht.«
Finola ließ heißes Wasser in das Spülbecken, fügte einige Spritzer Reinigungsmittel hinzu und tauchte das Putztuch hinein. Dann begann sie, die Oberflächen abzuwischen. Die meisten Leute fühlten sich dabei entspannt, anderen bei solch einer Arbeit zuzusehen, also würde Lindsey hoffentlich weiterreden.
»Nach der Pleite von Camerons Restaurant hat sich das so eingespielt. Damals hatte Helen gerade diese Praxis eröffnet, also übernahm sie das hauptsächliche Geldverdienen für die Familie. Cameron ist zu Hause geblieben und hat sich um Tessa gekümmert. Und nebenbei ist er Taxi gefahren. Ich glaube, das macht er jetzt auch noch.«
»Meinst du, das war schwer für ihn? Manche Männer haben ja andere Rollenbilder im Kopf?«
»Ich glaube nicht, dass Rollenbilder das Problem waren. So kam er mir nicht vor. Aber bei der Scheidung im Frühjahr war er ziemlich sauer, weil seine Familienarbeit nicht finanziell anerkannt wurde. Ging ihm eben wie sonst den Frauen.«
»Im Frühjahr? Ich dachte, die beiden wären schon viel länger geschieden.«
»Bist du fertig, Finola?« Nikki stand plötzlich an der Tür. »Oh, Lindsey, du bist ja auch noch da. Hast du kein Zuhause?«
Lindsey sah auf ihre Armbanduhr. »Doch, und so langsam dürfte mein Chauffeur auch da sein. Mein Mann holt mich ab, ich habe nämlich keine Lust, durch den Regen zu laufen.«
Sie stand auf und räumte ihren Becher in die Spülmaschine. Dann griff sie nach ihrer Jacke und der Tasche, die über der Stuhllehne hingen, und verabschiedete sich mit einem kurzen »See you«.
»Ich wisch nur noch schnell den Boden hier«, sagte Finola zu Nikki. »Ansonsten bin ich durch.«
»Sehr gut, danke. Komm dann nach vorn, ich hab dein Geld da. So kommen wir ja einigermaßen früh raus.«
Finola beeilte sich, und kurze Zeit später verließ sie mit Nikki die Praxis.
»Kannst du mir sagen, wie ich Gladys erreiche?«, erkundigte sie sich. »Vielleicht kann ich ja noch einen anderen Job für sie übernehmen?«
Nikki schüttelte den Kopf. »Darf ich nicht. Datenschutz!«
»Ach ja. Gut. Falls ihr mich noch mal braucht, ruf einfach an«, sagte Finola der Form halber.
Schließlich konnte sie Lachie nach Gladys fragen. Sie musste dabei allerdings geschickt und diskret vorgehen, damit er nicht merkte, dass sie außer Tícia noch einen anderen Fall im Kopf hatte.
Bis zu Gladys’ nächstem Putztermin in der Praxis würde die Polizei hoffentlich den Mord an Helen Burke ohnehin aufgeklärt haben. Vielleicht sollte sie DI
MacFarlane einen anonymen Tipp geben, sich diesen Dr. Somplatzky näher anzuschauen? Und am besten auch die mordideenreiche Lindsey. Diese Ms MacLean mit ihrem verpfuschten Implantat. Und Gladys und den Ex-Ehemann natürlich. Aber darauf würde MacFarlane von alleine kommen. Und sicher würde Cameron Burke seiner Tochter doch nicht die Mutter nehmen?
Finola seufzte. Irgendwie gab es zu viele Verdächtige. Sie konnte unmöglich allen Spuren nachgehen. Und sie hatte eigentlich genug andere Sorgen. Von Antônio hatte sie seit Stunden nichts mehr gehört!