Kapitel 36
Während Laurie frohgemut ihre Gäste bediente, saß Finola am hintersten Tischchen und versuchte, etwas über das Mittel herauszufinden, das DI MacFarlane erwähnt hatte. Disulfiram. Es handelte sich, wie sie ergoogeln konnte, um ein Medikament, das für Krebserkrankungen allerdings erst im Forschungsstadium war. Interessanter fand Finola, dass Disulfiram zur Unterstützung der Abstinenz bei Alkoholabhängigkeit angewandt wurde. Den Leuten, die das einnahmen, wurde übel, sobald sie Alkohol tranken.
Solche Tabletten hatte Helen doch sicher nicht genommen und dann Wein getrunken? Das Medikament verhinderte, wie das allwissende Internet verriet, schließlich den Abbau des Alkohols und führte zu unangenehmen Unverträglichkeitsreaktionen, von denen Übelkeit noch die harmloseste war. Im Zweifelsfall konnten sogar ein Kreislauf-Schock oder ein Herzinfarkt die Folge sein. Nein, das Zeug musste ihr jemand verabreicht haben. Jemand, der von ihrem Sonntagswein wusste.
Niemand schien sie am Sonntag besucht zu haben. Aber das war wahrscheinlich auch nicht nötig gewesen, ein kleines Weinpräsent und ein wenig Abwarten hätten ausgereicht.
Hatte jemand die Tabletten aufgelöst und durch den Korken in den Wein gespritzt? Dr. Somplatzky musste sich mit Medikamenten auskennen. Hatte er Helen die Flasche geschenkt?
Oder Lindsey? Sie war auch nicht gut auf Helen zu sprechen gewesen, und ihre Vergiftungsfantasien hatten Finola doch beeindruckt. Im Prinzip konnte es aber jeder und jede andere aus ihrem Bekanntenkreis gewesen sein.
Andererseits – MacFarlane hatte gesagt, dass der Wein unschuldig gewesen war. Wenn man also Disulfiram bei der Obduktion gefunden hatte, wovon Finola jetzt ausging, musste Helen das anderswie zu sich genommen haben. Nur – wie? Hatte ihr jemand angebliche Schmerztabletten gegeben, die in Wirklichkeit etwas ganz anderes waren? Jemand aus der Praxis, einer ihrer Zahnarztkollegen? Und sie hatte die dann am Sonntag genommen? Vielleicht weil sie wieder Rückenschmerzen hatte?
War ihr Tod also am Ende doch eine Art Unfall gewesen? Oder so etwas wie ein Vabanquespiel?
Nein, warum sollte ihr jemand ein solches Medikament auf gut Glück geben und dann warten, ob etwas passierte? Dann war es doch wahrscheinlicher, dass es mit etwas verabreicht worden war, von dem keine Reste übriggeblieben waren, die die Polizei untersuchen konnte. So etwas wie Pralinen? Aber hätte sie das Zeug nicht schmecken müssen, oder war es geschmacklos?
Nun, all das herauszufinden war Aufgabe der Polizei und nicht ihre. Laurie’s Café schien die Krise schließlich überwunden zu haben. Finola konnte also zu ihrem eigentlichen Fall zurückkehren.
Sie warf einen Blick auf Tícias Stundenplan. Wenn sie den nächsten Bus nahm, konnte sie rechtzeitig an der Uni sein, um Antônio abzulösen und zu sehen, ob Tícia heute dort aufgetaucht war.
Das Café im Erdgeschoss der Business School der University of Edinburgh war hell, freundlich und nicht besonders voll. Etwa die Hälfte der runden Tische war frei, an anderen unterhielten sich junge Leute bei einem Imbiss oder Getränk, an einem kauerte ein Student mit verzweifeltem Blick vor seinem Laptop. Und neben einer der weißen Säulen saß Antônio.
Er war nicht allein. Bei ihm am Tisch saß ein Mädchen mit einem bunten Tuch, das es zu einer Art Turban gewickelt hatte. Ein Zufall? Wohl eher nicht, denn die beiden schienen miteinander zu sprechen.
Finola runzelte die Stirn. Es war okay, wenn er, während Tícia in ihrer Vorlesung war, einen Kaffee trinken ging. Aber musste er den unbedingt in Gesellschaft trinken? Was, wenn er plötzlich Tícia folgen musste?
Nein, eifersüchtig war sie nicht, stellte sie fest, als sie in sich hineinspürte, aber Antônios mangelnde Professionalität ging ihr auf die Nerven, auch wenn sie wusste, dass das ungerecht war. Schließlich war er ja nur hier, um ihr zu helfen.
Energisch durchquerte sie das Café und postierte sich neben seinen Tisch.
Antônio sah auf und zuckte zusammen. »Finola!«
»Genau die. Und wer …«
Nein, das konnte nicht wahr sein. Das Mädchen mit dem bunten Tuch war – Tícia!
»Äh, das ist Tícia. Möchtest du dich nicht zu uns setzen?«, fragte Antônio.
Dankbar ließ sich Finola auf den Stuhl fallen, den er ihr hinschob. Ihr Herz klopfte zu schnell, und ihr war ein wenig schwindelig. Was war hier schiefgelaufen?
»Du darfst das nicht falsch verstehen«, erklärte Tícia mit erschrockenem Blick. »Es ist alles ganz harmlos. Ich habe nichts mit deinem Freund.«
Sie hatte also auch Finola von der Begegnung vor dem Club wiedererkannt. Na, toll.
»Ich hol dir einen Kaffee.« Antônio stand auf, bevor Finola ablehnen konnte.
Gut. Dann blieb ihr jetzt nichts anderes übrig, als das Beste aus dieser Situation zu machen.
»Wie geht es dir?«, fragte sie Tícia.
»Gut. Das verdanke ich Antônio. Wir haben gestern ganz lange miteinander geredet. Weil Tyler … also mein Freund … also eher mein Ex-Freund … oder vielleicht muss ich sagen Fast-ex-Freund …«
Obwohl ihr Englisch bisher recht gut gewesen war, schienen ihr nun die passenden Worte zu fehlen. Sie schaute hilfesuchend zu Antônio, der gerade Finolas Kaffee bezahlte.
Als er Finola den Becher in die Hand drückte und sich wieder setzte, sagte Tícia einige Sätze auf Portugiesisch zu ihm und lehnte sich dann zurück.
Antônio räusperte sich. »Tícia hat mich gebeten, dir zu erklären … Also. Tícia und ich haben uns ja gestern zufällig beim Einkaufen getroffen, und sie wusste noch, dass du und ich ihr im Club helfen wollten, als es ihr nicht gut ging. Deshalb hat sie mich zu einem Kaffee eingeladen. Wir kamen dann ins Reden …«
»Es ist so viel einfacher auf Portugiesisch«, warf Tícia ein.
Finola nickte automatisch und signalisierte Antônio fortzufahren. Immerhin hatte er, wie es aussah, ihre Tarnung nicht auffliegen lassen.
»Ich habe Tícia gesagt, dass dieser Tyler sie scheiße behandelt und dass sie sich das nicht gefallen lassen soll.«
Tícia nickte. Tränen standen ihr in den Augen. Sie schluckte. Dann murmelte sie »Bin gleich wieder da« und verschwand in Richtung Toiletten.
Antônio beugte sich näher zu Finola. »Jetzt mal ehrlich, solange sie weg ist. Der ist ’ne ganz üble Nummer, dieser Tyler. Der nutzt Tícia nur aus, menschlich wie finanziell. Sie kommt ja aus einer sehr reichen Familie. Und was bietet er ihr? Partys, Alkohol, Drogen statt Studium. Und sie zahlt. Er hat sie seit Tagen von ihrer Familie und ihren Freundinnen ferngehalten, und zu allem anderen ist er inzwischen auch noch gewalttätig, wenn sie sich nicht so verhält, wie er sich das vorstellt.«
»Das hat sie dir einfach so bei einem Kaffee erzählt?«
Antônio schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Das hat sie mir gestern Abend erzählt, nachdem er sie geschlagen hatte und sie nicht wusste, wohin.«
»Gestern Abend? Aber gestern Abend war ich doch mit dir zusammen …«
Antônio nickte. »Das war danach, kurz nachdem du gegangen warst. Da hat sie angerufen. Völlig aufgelöst. Sie war aus seiner Wohnung abgehauen und hatte jetzt Angst, dass er sie finden könnte. In ihre Wohnung traute sie sich nicht, weil Tyler die kennt. Und zur Polizei wollte sie auch nicht.«
»Verstehe, Ritter Antônio. Du hast die Jungfrau in Nöten gerettet. War sie also heute Nacht bei dir?«
»Da ist nichts gelaufen zwischen uns. Es war nur eine Hilfe unter Landsleuten! Glaub mir, bitte.«
Finola legte ihre Hand auf seine. »Ich glaube dir. Ich bin nicht eifersüchtig, falls du das denkst. So was Ernstes ist das mit uns ohnehin nicht, oder?«
Antônio zuckte mit den Achseln.
»Ich bin nur ein bisschen sauer, dass du mich nicht gleich informiert hast«, erklärte Finola. »Wie hast du dir das vorgestellt? Wann hattest du vor, mir von eurer neuen Freundschaft zu berichten?«
»Nachher, ich wollte sie heute zur Uni begleiten, falls Tyler hier rumlungert.«
»Aber dann müsste sie jetzt in der Vorlesung sitzen.«
»Sie will aber nicht weiterstudieren. Also nicht hier. Sie will zurück nach Brasilien.«
»Das ist ja mal eine Neuigkeit!« Finola lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wann hat sie das denn beschlossen?«
»Vor etwa einer halben Stunde. Oh, da kommt sie.«
Tícia sah gefasst aus, als sie sich wieder setzte. Sie warf Antônio einen dankbaren Blick zu. Dankbar? Oder lag darin nicht noch etwas, was eher nach Heldenverehrung aussah? Verständlich, denn wenn der Ritter in silberner Rüstung aus demselben Land stammte und dieselbe Sprache sprach, machte das alles so viel einfacher.
Schön. Dann war dieser Fall wohl auch gelöst, und sie konnte Senhor Machado von der baldigen Heimkehr seiner verlorenen Tochter berichten. Hoffentlich würde er nicht das Honorar reduzieren wollen, weil Finola nicht bis zum Ende der Woche observiert hatte.
Aber eigentlich konnte er sich glücklich darüber schätzen, wie alles ausgegangen war.
Und sie auch.
Sie nickte Antônio dankend zu.