Kapitel 39
Laurie hatte gut gewählt. Der Pub war altmodisch gemütlich mit einer Menge Holz, Messing, alten Schildern und alten Glasfenstern. Es gab keine exklusive Speisekarte, sondern richtigen Pubfood, der hervorragend schmeckte.
Finola hätte nichts dagegen gehabt, noch länger zu bleiben, aber gegen neun fing Laurie an zu gähnen.
»Sorry, ich muss ins Bett. Mein Tag beginnt beim ersten Hahnenschrei.«
»Den du hier in der Stadt eher nicht hören dürftest.«
»Ist doch egal, ob der Hahn schreit oder der Wecker«, erklärte Laurie, stand auf und griff nach ihrer Jacke. »Ich geh jetzt auf jeden Fall heim. Und du solltest dir echt überlegen, ob wir uns nicht mal mit Evan und Scott treffen sollten. Scott hat nach dir gefragt.«
»Ich dachte, Daniel mit dem Akkordeon wäre eher dein Fall?«
»Ich würde mich opfern für dich.«
»Dich opfern oder ihn opfern?«
»Lass uns das morgen besprechen. Das letzte Pint hat mich nicht unbedingt munterer gemacht.«
Finola lachte und zog sich ebenfalls an. »Gut, ich komm morgen bei dir vorbei, falls Anne nicht gerade einen neuen Fall hat, den ich auf der Stelle lösen muss.«
Draußen vor dem Pub verabschiedete sich Finola von Laurie, dann schlenderte sie die Morningside Road entlang nach Hause. Nach einer Weile blieb sie jedoch stehen und sah sich um. Es war niemand zu sehen, nur auf der gegenüberliegenden Seite ging ein Mann, der telefonierte. Er beachtete sie nicht.
Seltsam, es hatte sich so angefühlt, als ob ihr jemand folgte. Sie schüttelte den Kopf, um ihr leicht benebeltes Denken zu klären, und ging weiter.
Unwillkürlich dachte sie an Craig Erskine. Hatte er damals
tatsächlich gespürt, dass sie ihn observiert hatte? Ach, egal. Sie hatte mit dem Mann ja nichts zu tun. Vielleicht würde er in Zukunft auch nicht mehr zum Scottish Country Dancing gehen, wenn sie …
Plötzlich packte jemand sie von hinten fest an den Armen und schob sie vorwärts in die Nische vor der Tür der geschlossenen Bücherei.
»Kein Wort«, zischte er und drückte sie gegen die Holztür.
Finola fühlte einen spitzen Gegenstand durch ihre Kleidung dringen und die Haut ihres Rückens erreichen.
Messer, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und begann dann zu rasen.
Sie nickte stumm.
»Mit wem hast du telefoniert?«, fragte der Angreifer leise. Eine Männerstimme.
Finola schwieg.
»Sag schon!«
»Ich soll doch nicht sprechen«, flüsterte Finola.
»Antworte! Leise!«
»Ich hab mit vielen telefoniert.«
»Vorhin, vor dem Café.«
In ihrem Hirn klickte es. Cameron Burke. Er musste es sein. Er war der Einzige, der bei ihrem Gespräch in der Nähe gewesen war.
»Mit meiner Granny.«
»Und warum hast du vom Faltentintling gesprochen?«
Finola zögerte.
»Los, sprich!«
»Meine Granny hat mir von einer Freundin erzählt, die sich sehr gut mit Pilzen auskennt und … Also, sie fand es so interessant, dass man früher da Tinte draus gemacht hat«, fantasierte Finola und versuchte, ihrer Stimme einen dümmlich-harmlosen Klang zu geben.
Doch ihr Gehirn arbeitete nun wie im Zeitraffer. Die Puzzleteile ordneten sich in Windeseile zu einem Bild. Warum nur war sie vorhin so abgelenkt gewesen, dass sie bei Grannys Worten nicht sofort geschaltet hatte?
Cameron Burke.
Pilze.
Gladys hatte erzählt, dass er am Freitag wahrscheinlich
Pilzrisotto für Helen gekocht hatte. Was, wenn er Faltentintlinge zubereitet hatte? Harmlos zur Zeit der Mahlzeit. Harmlos weiterhin für ihn. Aber – Granny hatte gesagt: »Wenn in den folgenden zwei, drei Tagen Alkohol dazukommt … bumm!« Und Cameron Burke wusste garantiert vom Sonntagswein seiner Ex-Frau.
»Was wollen Sie?«, jammerte Finola. »Geld? Ich hab nicht viel, aber nehmen Sie das. Ist in meiner Tasche.«
Der Druck des Messers schien schwächer zu werden. Noch wusste Cameron Burke nicht, dass sie ihn erkannt hatte. Vielleicht würde er die Gelegenheit wahrnehmen, für einen Straßenräuber gehalten zu werden, und abhauen.
Er hielt sie mit einem Arm immer noch fest an die Holztür gedrückt, aber das Messer spürte sie jetzt plötzlich nicht mehr. Würde er tatsächlich fliehen und sie loslassen – oder holte er nur aus, um zuzustechen? Konnte sie sich so weit unter seinem Arm lösen, dass sie sich zu Boden fallen lassen konnte?
»Cameron Burke! Lassen Sie sofort Ms MacTavish los! Ich verhafte Sie wegen des Verdachts des Mordes an Dr. Helen Burke!«, sagte eine weibliche Stimme mit Nachdruck, und Finola war auf einmal frei.
Sie drehte sich um.
DI
MacFarlane legte Cameron Burke Handschellen an und spulte die übliche Belehrung herunter. Neben ihr steckte DS
Croft seine Waffe ein. Zwei weitere Männer in Zivil standen hinter ihm, und jetzt hielt auch noch ein Polizeiwagen am Straßenrand.
Finola lehnte sich an die massive Holztür.
»Geht es?«, fragte MacFarlane.
Finola nickte. »Aber wieso …«
»Wir haben Mr Burke seit heute Mittag observiert. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause. Ihre Aussage nehme ich morgen auf, wenn Sie sich wieder gefangen haben. Mein Wagen steht drüben bei Waitrose
.«
»Das ist nicht nötig. Ich kann alleine …«
»Nein, Ms MacTavish, das können Sie nicht. Sie sind ganz blass und – ach, kommen Sie einfach!«
Kaum war Finola in MacFarlanes Auto gestiegen, fing sie an zu zittern.
»Sehen Sie«, die Polizistin nickte. »Der Schock.«
»Er hat sie mit den Pilzen umgebracht«, flüsterte Finola. »Mit Faltentintlingen. Am Freitag schon. Er wusste von ihrem Sonntagswein. Und die Pilze sind zwar essbar …«
»… aber enthalten Coprin. Ich weiß. Das Zeug wirkt wie Disulfiram. Das ist ein Medikament, das …«
»Ich weiß.«
MacFarlane sah sie abschätzend an. »Sie wissen ein wenig zu viel für meinen Geschmack. Aber ich werde dem jetzt nicht nachgehen. Nur so weit – haben Sie eine Idee, warum Mr Burke Sie angegriffen hat?«
Finola nickte. »Er hat wohl ein Telefonat von mir mit meiner Granny mitgehört. Da fiel das Wort Faltentintling. Und er dachte dann, ich wüsste, dass er die Dinger für Helen gekocht hatte oder gebraten oder was man so mit denen macht.«
»Helen? Sie meinen Helen Burke?«
»Wir saßen mal bei Laurie am selben Tisch.«
Verflixt, sie musste jetzt höllisch aufpassen, was sie sagte. Diese so harmlos und nett wirkende DI
war ziemlich clever.
Finola stellte daher eine Gegenfrage: »Aber wie sind Sie auf ihn gekommen?«
»Eigentlich darf ich … Ach was. Ich fand es von Anfang an seltsam, dass er sich gestern so überaus trauernd zeigte. Zeugen hatten das Verhältnis zu seiner Ex-Frau eher anders beschrieben. Und dann war da noch eine etwas undurchsichtige Sache mit Helen Burkes Testament und ihrem doch nicht ganz kleinen Erbe, aber darüber kann ich nun wirklich nicht sprechen.«
Finola nickte.
MacFarlane fuhr fort: »Zuerst hat uns die Sache vom Donnerstag natürlich irritiert, aber das war tatsächlich eine im Grunde harmlose Lebensmittelvergiftung von Muscheln, die zu lange im Warmen gestanden hatten. Genau, wie Helen Burke selbst vermutet hatte.«
Ihre Überraschung brauchte Finola nicht zu spielen. »Die beiden Vergiftungen hatten also gar nichts miteinander zu tun?«
»Nein. Außer dass diese erste Vergiftung ihrem Ex als Inspiration gedient haben mag. Und da er am Donnerstag gar nicht in Edinburgh war, dachte er wohl, er hätte dafür schon mal ein Alibi.«
»Und wenn er am Freitag dasselbe aß wie Helen, aber gesund blieb … Er muss sich sehr sicher gefühlt haben.«
»So sehe ich das auch. Aber dann gab es heute Mittag diesen ersten seltsamen Befund des Gerichtsmediziners. Bis das Ergebnis klar feststand, konnten wir allerdings nichts unternehmen, außer Burke zu beobachten. Und da war es schon auffallend, dass er heute Abend vor einem Pub in Morningside herumlungerte, statt bei seiner trauernden Tochter zu bleiben. Croft und ich wollten gerade die Kollegen ablösen, als Sie mit Ihrer Freundin aus dem Pub kamen und Burke Ihnen folgte. Et voilà! Und nun fahre ich Sie nach Hause. Schnallen Sie sich an!«