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Wir stellen uns vor: Name. Beruf. Schwangerschaftswoche. Befindlichkeiten. Die Frauen sitzen im Schneidersitz auf ihren Yogamatten. In der Mitte kugeln die Bäuche. Manche sind prall wie Luftballons. Manche wölben sich nur leicht über den Hosenbund. Ein paar Männer sitzen daneben. Auch du hast darauf bestanden mitzukommen. Ich will doch teilhaben, sagtest du. Die Vorstellungsrunde verläuft im Uhrzeigersinn, fünf Frauen kommen vor mir dran. Sylvia, 23, Verkäuferin. Marina, 33, Lehrerin. Martha, 37, Hausfrau. Ilaria, 32, Rezeptionistin. Sabine, 20, Studentin. Marina hat schon zwei Kinder. Ilaria erwartet ihr zweites. Sie alle befinden sich in der 27. bis 33. Schwangerschaftswoche. Solche Schmerzen wie bei diesem Kind hatte ich noch nie, sagt Martha. Ilaria sagt: Die letzte Schwangerschaft war die schönste Zeit meines Lebens, dieses Mal kann ich es bewusster genießen, weil ich weiß, was auf mich zukommt. Ich halte mich kurz: Andrea, 35, Grafikerin. 27. Schwangerschaftswoche. Keine Beschwerden. Ich gebe weiter an die nächste Frau, doch die Hebamme gibt sich nicht damit zufrieden.
Möchtest du uns nicht erzählen, wie es dir geht?
Es gibt nichts zu erzählen, läuft alles normal.
Hast du das Baby schon gespürt?
Ja, es drückt ständig gegen meine Eingeweide, ich bin froh, wenn es draußen ist.
Die anderen Frauen lachen.
Geht es den anderen auch so wie Andrea?
Ja, die Schmerzen bringen mich um, sagt Martha, nichts kann ich mehr allein machen, und mein Mann sagt nur: Stell dich nicht so an, du hast doch schon zwei Kinder, wie hast du es denn die letzten Male geschafft?
Die Männer lachen, die Frauen auch.
Ich habe starke Rückenschmerzen, sagt Sylvia, Sodbrennen, Wassereinlagerungen, und nachts kann ich nicht schlafen, weil das Baby sich dauernd bewegt.
Ich habe dreißig Kilo zugenommen, sagt Anita, und wenn ich in den Spiegel schaue, könnte ich kotzen.
Lasst es raus, sagt die Hebamme, genau dafür bin ich da. Andrea, möchtest du auch noch was sagen?
Mir geht dieser ganze Schwangerschaftszirkus auf die Nerven.
Du streichst mir über den Rücken und flüsterst: Schatz …
Das kann ich verstehen. So wie Andrea geht es vielen Frauen. In den letzten Wochen wird die Schwangerschaft zu einer körperlichen Anstrengung. Da wächst ein Kind in euch. Am Ende der Schwangerschaft kann es bis zu fünf Kilo schwer sein. Das ist eine Belastung, das müsst ihr euch zugestehen. Es ist nicht alles rosig, aber deshalb sind wir hier. Um euch bestmöglich auf die letzten Wochen vorzubereiten.
Eine Wehe kann man sich wie eine Welle vorstellen, sagt die Hebamme. Das Kind rutscht nach vorne und wieder zurück. Die maximale Spannung ist erreicht, wenn das Köpfchen schon fast draußen ist. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Frauen sagen: Ich kann nicht mehr. Mich zerreißt es fast. Dann ist das Schlimmste schon vorbei. Die meisten Kinder schreien spätestens nach sechzig Sekunden, doch manche brauchen mehr Zeit. Dann drehe ich den Kopf zur Seite, vielleicht ist noch etwas Fruchtwasser im Mund. Es war vorher ganz eng, jetzt ist viel Platz da. Es war vorher ganz dunkel, jetzt ist es hell. Es war vorher ganz warm, jetzt ist es kalt. Wenn es den ersten Schock überstanden hat, schreit es in der Regel laut und kräftig.
Ich stehe am Ufer. Der Geruch von Salz und ein Rauschen. Am Horizont sehe ich eine Welle, die auf mich zukommt. Sie bäumt sich auf, je näher sie kommt, wird höher und höher. Ich sage mir: Sie wird schon wieder abflachen, bis sie zu mir kommt. Eine Welle kann nicht so hoch sein. Das Rauschen wird lauter. Der Wind schlägt mir Sandkörner ins Gesicht. Ich atme ein und zähle bis zehn. Atemübungen, höre ich noch und: Bewegung ist wichtig. Du legst deine Hand auf meinen Bauch. Wir beginnen zu hecheln. Was ist das nur für ein Zirkus, sage ich. In mir zieht und strampelt es. Mein Rücken schmerzt, es ist fast nicht zum Aushalten. Ich beiße meine Zähne zusammen, ich zähle wieder. Ich atme, so viel Luft, dass mir fast die Lunge zerspringt. Ist doch lustig, sagst du und hechelst mir ins Ohr, du musst das mit Humor nehmen. Lach doch mal!
Sobald du ein Kind hast, ändert sich alles. Das sagen alle, mit denen ich spreche. Sie sagen zum Beispiel: Das kannst du dir vorher nicht vorstellen. Oder: Ein Kind stellt alles auf den Kopf. Nichts bleibt nämlich, wie es vorher war. Ein Kind führt dich zur absoluten Selbstaufgabe. Ein Kind stellst du immer über dich. Alles verändert sich, dein Blick auf die Dinge, deine Einstellung zum Leben. Man führt ein anderes Leben, aber ein besseres. Das hättest du nie für möglich gehalten. Du weißt ja vorher nicht, wie das ist. Diese Liebe. Diese Schlaflosigkeit. Diese Aufopferung. Diese Verantwortung. Dass man überhaupt funktionieren kann mit so wenig Schlaf. Die ersten Monate erlebt man wie in Trance. Man lebt in einer eigenen, seltsamen Welt, bizarr und schön gleichermaßen. Es ist, als würde sich bei der Geburt ein Schalter umlegen. Das kannst du jetzt noch nicht verstehen. Mit Kind lebst du dein Leben bewusster. Du lernst wieder, die kleinen Dinge zu schätzen. Du wirst so viel lachen wie nie zuvor. Und das Glück wird von Tag zu Tag größer.
Sobald du ein Kind hast, bist du den ganzen Tag allein. Das sagen die Mütter mit Kleinkindern, die sich vieles anders vorgestellt haben. Dein Mann arbeitet den ganzen Tag, und wenn er abends endlich nach Hause kommt, ist er müde, hat keinen Kopf und keine Nerven für dich oder das Kind. Deine kinderlosen Freunde ziehen sich allmählich zurück. Dauernd triffst du nur andere Mütter. Beim Babyschwimmen. Beim Kinderarzt. Beim Babykrabbeln. Gehst du aus dem Haus, musst du stundenlange Vorbereitungen treffen, während dein Kind abwechselnd schreit, gefüttert und gewickelt werden will. Dein Aktionsradius verkleinert sich auf: Haus-Supermarkt-Haus-Kinderarzt-Haus-Krabbelgruppe. Deine Gespräche reduzieren sich auf Babynahrung und Babywindeln. Deine Wohnung sieht aus wie ein Schlachtfeld. Deine Kleidung ist voller Babykotze und Babyspucke. Das, was du vorher warst, zählt nicht mehr. Wie es dir geht, zählt nicht mehr. Das, was zählt, ist dein Kind. Wie es deinem Kind geht, was dein Kind macht, wie dein Kind wächst, was dein Kind sagt. Jetzt bist du Wickelhilfe, Ankleideassistentin und Nahrungszufuhr. Du schläfst vielleicht zwei Stunden am Stück, fühlst dich müde und kraftlos. Für dich ändert sich alles, aber für deinen Mann ändert sich wenig. Er arbeitet und schläft genauso wie vorher, und abends kommt er nach Hause und fragt: Was hast du den ganzen Tag gemacht? Das musst du wissen, bevor du ein Kind in die Welt setzt. Du musst dich von allen Illusionen lösen. Nichts bleibt nämlich, wie es vorher war. Und das erste Jahr mit Kind wird das anstrengendste Jahr deines Lebens. Nur, dieses Mal kannst du nicht aufgeben.
Sie sagen: Lebensbejahung, Vertrauen in die Menschheit und Zuversicht. Sie sagen: Wir wollten einfach Kinder, da gibt es keinen Grund. Das ist die natürlichste Sache der Welt. Nein, sagen sie, es ging nicht darum, nicht allein zu sein oder um ein Abbild unserer Selbst. Es ging nicht um die Macht, ein Wesen zu erschaffen, über Leben zu bestimmen oder jemanden zu formen. Es ging auch nicht darum, aus dem Beruf auszusteigen oder die Beziehung zu kitten, im Alter jemanden zu haben, auch nicht darum, etwas zu hinterlassen oder dem Leben einen Sinn zu geben. Du kannst lange danach suchen, aber es gibt keinen Grund. Wir wollten diese Erfahrung machen. Wir waren dazu bereit.
Mein Bauch ist zu einem Vergnügungspark geworden. Jeden Tag lässt du dir etwas Neues einfallen. Einmal liest du was vor, dann spielst du Musik, einmal singst du, dann leuchtest du im Dunkeln mit der Taschenlampe in den Bauch. Du hast gelesen, dass man Kontakt aufnehmen soll und das Kind auf Musik, Stimmen und Licht reagiert. Dass es nach der Geburt die Stimme des Vaters unter vielen anderen erkennen kann. Du legst dein Ohr auf meinen Bauch und sagst: Hallo, wo bist du?
Es kann dich nicht hören!
Wart ab.
Hallo? Hallo, bist du wach?
Es bewegt sich, ich spüre es, da, sage ich und zeige dir die Stelle.
Du tastest von einem Punkt zum nächsten. Es folgt dir.
Ich glaube, ich spüre die Hand, sagst du.
Das kann nicht sein.
Doch, greif selbst.
Das ist doch der Fuß.
Es kann jetzt schon eine Faust machen, sagst du, es kann die Zehen halten, die Augen öffnen und zwischen hell und dunkel unterscheiden. Schau mal!
Du fährst mit der Taschenlampe meinen Bauch entlang. Es bewegt sich wieder.
Du sagst, das Baby wird jetzt empfindlicher, es fühlt alles mit. Wenn du glücklich bist, wenn du Stress hast. Du solltest glücklich sein, mach dir nicht immer so viele Sorgen, flüsterst du in mein Ohr und fährst mit der Zunge meinen Körper entlang, verschwindest unter meinem Bauch. Mal sehen, wie es darauf reagiert.
Meine Stelle wird nicht nachbesetzt, meine Projekte nur intern verteilt. Eine Kollegin erweitert von Teilzeit auf Vollzeit. Andere übernehmen die offenen Projekte, obwohl sie schon genug zu tun hätten. Hocherfreut präsentieren sie mir ihre Lösung. Die Stelle wird einfach geschluckt. Ich freue mich mit ihnen, es ist eine gute Lösung für alle, aber wenn eine Stelle geschluckt wird, wird sie auch wieder ausgespuckt? Ist doch egal, sage ich mir, du wolltest ohnehin eine Veränderung, wer weiß, wann du zurückkommst, wie viele Stunden du arbeiten kannst. Wir reden über Zeitpläne, über die komplizierten und einfachen Kunden. Mit jedem Tag rückt der letzte Tag näher. Mit jedem Tag fühle ich mich nutzloser und wie ein Gast im eigenen Büro. Bald werde ich zu Hause sitzen und auf die Geburt warten. Sandra schreibt mir aus Hamburg: Mal nicht gleich den Teufel an die Wand, die Zeit wird so schnell vergehen. Genieß es doch einfach. Also stelle ich mir vor: Ich sitze zu Hause, in diesem leeren Haus. Die Wände sind nackt, es hallt durch die Räume. Ich warte auf dich. Du kommst spät von der Arbeit nach Hause. Du gibst mir einen Kuss: Was hast du den ganzen Tag gemacht? Ich stelle mir vor: Ich richte unsere Wohnung ein. Hänge Bilder auf. Sortiere unsere Bücher. Streiche das Kinderzimmer. Ich pflanze Blumen und sitze im Garten. Ich habe wieder Zeit zu malen. Ein Buch zu lesen. Im Bett zu liegen, wenn mir danach ist. Das sind doch die Dinge, die man macht. Doch das einzige Gefühl, das sich in mir ausbreitet, ist eine Leere, ein schwarzes Loch, das mich immer weiter nach unten zieht. Im Büro geht alles weiter, als hätte ich nie existiert. Im Haus habe ich nichts zu sagen, weil ich mich ausgeklinkt habe. Und um mich herum wuseln überall diese Mütter, deren einziger Lebensinhalt ihre Kinder sind. Mein einziger Stolz sind die Kinder, sagen sie. Oder: Die Kinder sind mein Ein und Alles. Oder: Meine Kinder schaffen das, was ich nie erreicht habe.
Wir stehen im Kreis. Der Tisch ist voller Geschenke, bunte Luftballons drängen sich an die Decke. Wir essen Brötchen und trinken Orangensaft aus Sektgläsern. Wir feiern meinen letzten Arbeitstag, als wäre es wirklich was Schönes, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen, während alle anderen arbeiten. Habt ihr schon ein Kinderzimmer, fragen sie. Hast du Angst vor der Geburt? Wann wirst du wiederkommen? Wir freuen uns so für dich. Das erste Agenturbaby!
Meine Mundwinkel schmerzen schon vom vielen Lächeln. Die Tritte in meinem Bauch werden stärker, ich kann fast nicht mehr atmen vor Schmerz. Aber ich strecke den Rücken durch und halte mich aufrecht. Ich esse meine Brötchen und trinke meinen Saft. Wollt ihr mal anfassen, sage ich. Gerade tritt es, jetzt könnt ihr es spüren. Sie strecken ihre Hände aus, und ich gehe reihum, damit sich jeder davon überzeugen kann. Da ist was drin. Es ist ein Kind.
Wir sagen, wir haben alles erreicht, was wir uns gewünscht haben. Was ist schon Madrid oder Hamburg, was ist schon eine Ausstellung, was macht man schon auf Reisen, was sind schon andere Wege, das sind doch Hirngespinste, kleine Wünsche, die nicht den Ausschlag geben. Luftschlösser am Ende. Leben, die man nicht führen möchte. Naive Ideen, die jeder hat und die nichts Besonderes sind. Wünscht sich nicht jeder, irgendwo anders zu leben, in einer Stadt oder am Meer. Wünscht sich nicht jeder, etwas zu schaffen, eine Ausstellung, einen Film, eine Platte. Am Ende ist es nur der Wunsch, etwas zu hinterlassen. Die größte Hinterlassenschaft ist jetzt unser Kind. Es wird so aussehen wie wir. Es wird sich an uns erinnern. Und dann unsere Enkelkinder und so weiter. Das wiegt noch viel mehr. Ein Jahrhundert werden wir weiterleben, meine Bilder hätten sich bis dahin schon zersetzt. Wir sagen, es gibt so viele Dinge, auf die wir zurückschauen werden. So vieles, auf das wir stolz sein können. Vieles ist für dich: dein Job, dein Haus, dein Kind. Vieles ist: einen Kredit zu bezahlen. Aus etwas Altem etwas Neues zu machen. Kleines in Großes umzuwandeln. Etwas ist vieles, und vieles ist alles. Du bist stolz, und ich muss es auch sein. Das Luftschloss hat sich materialisiert. Es ist aus Stein, und man kann hineingehen. Du sagst, siehst du nicht, was du für ein schönes Leben hast. Siehst du nicht, wie gut es dir geht. Sieh es dir an, unser Schloss. Wie stabil es ist.
Wir liegen im Bett. Körper an Körper. Es sind die letzten Nächte in meiner Wohnung. Du umarmst mich von hinten und drückst mich fest an dich. Du küsst meinen Nacken, stützt dein Kinn auf meine Schulter.
Alle meine Wünsche sind jetzt in Erfüllung gegangen, sagst du. Ich kann es kaum erwarten, bis wir einziehen.
Jetzt sind es ja nur mehr ein paar Tage, sage ich.
Du weißt ja nicht, wie sehr ich dich liebe.
Doch, sage ich, das weiß ich.
Als du eingeschlafen bist, wird dein Körper schwer. Dein Kopf liegt wie ein Stein auf meiner Schulter. Dein Arm drückt gegen meinen Bauch. Deine Knochen bohren sich in mein Bein. Ich nehme deinen Arm, so schwer wie ein Holzbrett, lege ihn beiseite wie einen Gegenstand. Ich rutsche zur Seite, weiter an den Bettrand, so weit, bis ich deinen Atem nicht mehr spüre. Dann erst legt sich die Nacht über mich.
Im Traum sind wir auf einem Schiff. Das Ufer ist kilometerweit entfernt. Du sitzt am Steuer. Ich hinter dir. Der Wind wird stärker. Das Schiff schaukelt. Wir fliegen über die Wellen und schlagen auf der Meeresfläche auf. Das Wasser schäumt unter uns. Es ist hart wie Stein. Ich habe Angst, das Schiff könnte beim nächsten Aufschlag zerspringen, aber nach jedem Aufschlag geht es weiter. Der Wind wird stärker. Die Wellen werden höher. Du kannst das Steuer nicht mehr halten. Vor mir sehe ich das Meer. Es ist überall.
Als ich aufwache, liegst du seelenruhig neben mir. Auf deinem Gesicht ein zufriedener Ausdruck, als würdest du etwas Schönes träumen.
Ich schlichte meine Dinge in Kisten, nur die wichtigsten nehme ich mit: Bücher. Kleider. Pinsel. Farben. Ich schlichte sie in zwei Lagen. Die schweren Bücher bis zur Hälfte, die leichten Kleider nach oben. Den Rest werfe ich weg. Ballast loswerden, sagtest du. Also zerreiße ich alte Bilder, die mir jetzt nichts mehr bedeuten. Werfe Kleider weg, die ich vor Jahrzehnten getragen habe. Alles werfe ich in einen großen schwarzen Sack. Alte Schulsachen. Mathematikhefte, Zeichenbücher, Notizhefte. Alte Zeitungen, Comichefte, CDs, die ich als Jugendliche gehört habe. Bücher, die ich bereits gelesen habe: Kafka, Duras, Dostojewski. Meine Sammlung von Zigarettenschachteln, Briefmarken, Knöpfen und Glasmurmeln. Je weiter ich in meinen Kästen und Schubladen grabe, desto älter werden die Gegenstände. Ich finde alte Puppen und Kuscheltiere. Sie riechen nach Kindheit, nach Moder und Plastik. Ein brauner Plüschbär, halb so groß wie ich. Er war einmal größer als ich, jetzt fehlt ihm ein Auge, und sein Fell ist verfilzt und staubig. In einer der letzten Schubladen tauchen alte Fotoalben und lose Fotos auf. Ich als Neugeborene. Wie ich eingewickelt in Tüchern zwischen anderen Babys liege. Meine Mutter, die mich in einer Plastikschüssel badet und in die Kamera lächelt. Ich, auf meinem ersten Fahrrad, zum ersten Mal am Strand, in meinem ersten Faschingskostüm, am ersten Tag im Kindergarten. Wie ich das erste Mal Ski fahre. Wie ich weinend im Schnee liege. Wie ich auf den kräftigen Schultern meines Vaters stehe. Wie ich auf seinem Schoß sitze. Ich halte das Lenkrad und trage seine Sonnenbrille, die mir von der Nase rutscht. Er hat lange Haare und einen Schnurrbart. Ein Foto hatte ich vergessen. Ich mit meiner Mutter auf einer Schaukel. Abwechselnd schaukeln wir durch die Luft. Meine Mutter ist barfuß und trägt ein langes rotes Kleid. Ihre Locken wehen im Wind, ein strahlendes Lächeln. Sie sieht so unbeschwert und glücklich aus. In unseren Haaren stecken frisch gepflückte Blumen. Ich sehe noch meinen Vater, wie er vor uns steht, wie er seine Zunge rausstreckt beim Fotografieren. Höher, ruft er, höher.
Die Fotos liegen vor mir. Wie ein Mosaik meiner Kindheit. Ich versuche, die Bilder in meine Erinnerung einzufügen. Ich kann Mutters Lachen hören. Spüre ihren Händedruck, die Schultern meines Vaters unter mir. Ein Luftballon, der mir aus der Hand gleitet. Ein Sturz mit dem Fahrrad. Eine Umarmung. Ein Kuss auf die Nase. Ein Schlag auf meinen Kopf. Das Kratzen der Barthaare. Seine große Hand, in der meine verschwindet. Eine geschlossene Schlafzimmertür. Schlagende Türen. Scherben auf dem Küchenboden. Ein Schluchzen. Ihre Tränen auf meinen Fingern. Ein kaputtes Telefon. Der Klang ihres Klaviers. Wie sie spielt und singt. Eine leere Wohnung. Wie ich warte. Ein Bild legt sich über das andere. Durch die Schlafzimmertür schwingt eine leere Schaukel. Das Gesicht meines Vaters verschwimmt mit dem meiner Mutter. Die Adern pochen auf seiner Stirn. Silhouetten eines Kinderlebens. Ich sehe meinen Vater wie eine fremde Gestalt vor mir. Immer, wenn ich ihn berühre, löst er sich auf wie ein Geist. In allen Erinnerungen ist er im Hintergrund oder abwesend. Nur in wenigen Bildern ist er real. Sein Gesicht. Seine dunklen Augen. Wie er den Kopf senkt. Wie ich ihn anschreie. Wie er mich ansieht, verzweifelt und traurig. Wie er stottert und keinen Ton mehr herausbringt. Weint er? Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals habe weinen sehen.
Ich sitze mit Marlene in der leeren Wohnung. Wir sitzen auf dem Boden zwischen Kisten und Säcken und trinken Prosecco. Ich einen kleinen Schluck mit viel Orangensaft, Marlene die restliche Flasche.
Das war’s dann, sage ich.
Ein neuer Abschnitt beginnt, sagt Marlene.
Wir stoßen mit unseren Gläsern an.
Auf dich, sagt Marlene.
Auf uns, sage ich.
Irgendwie beneide ich dich.
Warum?
Ich bin bald sechsunddreißig, aber ein Kind kann ich mir noch immer nicht vorstellen.
Ich doch auch nicht, sage ich.
Marlene lacht: Du bist aber schon mittendrin.
Ich stelle mir vor: Du stehst mit Blumen an meinem Krankenbett. Mit dem Kind im Arm kehren wir nach Hause zurück. Ich stelle mir vor: Nach der Geburt gehe ich über die Gänge der Geburtsstation. Es ist Nacht. Niemand hält mich auf, als ich verschwinde. Ich stelle mir vor: Das Kind hat zwei Köpfe und einen langen Hals. Es hat vier Hände und drei Beine. Ein Kopf sieht aus wie deiner, der andere wie meiner. Es ist wunderschön, sage ich.
Ich stelle mir vor: Die Ärzte ziehen ein dunkelblaues Kind aus mir heraus. Sie packen es an den Füßen und schlagen auf seinen Hintern. Es schreit nicht. Ich stelle mir vor: Du sitzt mit dem Kind im Garten. Ihr seid eine glückliche Familie. Eine Frau kommt auf euch zu. Sie sieht ein wenig aus wie ich. Nur wenn sie lacht, strahlt sie wie du. Ich stelle mir vor: Ich lebe in Madrid. Niemand weiß, woher ich komme. Niemand, wo ich bin. Ich sitze auf dem Balkon und schaue auf die Plaza, beobachte die Menschen, die lachen und tanzen. Ich laufe auf die Straße. Auch ich beginne zu tanzen. Ich trage ein langes rotes Kleid.
Ich gehe aus dem Haus. Die Straße entlang. Du bist in der Arbeit, wie alle anderen auch. Es ist nicht weit, ein paar Straßen entfernt. Ich warte, bis jemand aus dem Haus kommt, und schleiche mich ins Treppenhaus. Ich gehe langsam nach oben. Das Treppensteigen fällt mir schwer. Als ich die Wohnungstür erreiche, bin ich ganz außer Atem. Ich bleibe stehen und warte, halte mein Ohr gegen die Tür. Nichts ist zu hören. Niemand zu Hause. Dann höre ich doch etwas. Einen Fernseher. Also doch. Ich klopfe leise. Niemand öffnet. Dann läute ich an. Der Boden knarrt unter den Schritten. Jemand schaut durch den Spion. Ein Schlüssel. Die Tür geht auf. Ich gehe hinein, ziehe meinen Mantel, meine Schuhe aus und lege mich in sein Bett.
Die Zeit steht still. Das Licht von der Dunkelheit verschluckt. Jemand hält meinen Kopf. Ein Körper legt sich über mich. Eine Stimme spricht zu mir. Eine Hand hält mich fest. Mein Körper fühlt sich leicht an, als würde ich schweben. Ich bewege mich langsam nach oben. Es ist Nacht, und die Sterne kreisen um mich wie kleine Leuchtkäfer. Ich drehe mich, bis mir schwindlig wird. Andi? Es ist stickig. Ein fremder Geruch in meiner Nase. Fremde Lippen, die über meine Haut wandern. Ein fremder Blick. Erdige Augen, die mich ansehen, das Universum gesprenkelt und die Pupillen wie kleine Planeten. Ein müdes Lächeln. Die Haut fühlt sich kalt an. Ich taste über den Körper. Keine Stelle kommt mir bekannt vor.
Ich wache vom Regen auf, der leise gegen das Dach trommelt und stärker wird, gegen das Dach hämmert. Unser Atem füllt den Raum aus, im Takt mit dem Regen. Ich betrachte das Zimmer. Es ist klein und karg. Ein Bild von mir hängt an der Wand. Ich habe es auf seinen Tisch gelegt, als ich das letzte Mal hier war. Eine Frau steht vor dem Meer. Weit draußen bäumt sich eine Welle auf, die immer näher kommt. Ich ziehe seinen Pullover an, der über der Stuhllehne hängt, nehme meine Schuhe in die Hand und gehe leise zur Tür. Als ich die Türklinke nach unten drücke, höre ich eine leise Stimme aus dem Zimmer: Warum gehst du?
Bald können wir einziehen. In der Wohnung fügt sich langsam alles zusammen. Mit jeder Leiste grenzen wir unser Leben ein, mit jeder Steckdose versichern wir uns einander. Mit jeder Stromleitung legen wir uns fest. Das Kinderzimmer ist unsere Zukunft. Unheimlich ist es und kalt. Bunt gestreifte Vorhänge vor den Fenstern. Deine alte Wiege aus dunklem Holz in der Mitte. Ein paar Kinderbücher und vereinzelte Kuscheltiere stehen auf den Regalen. Wir haben das schönste Kinderzimmer im Möbelhaus genommen, mit einem Stockbett, einer Kletterwand und einer Rutsche. Genau so ein Zimmer habe ich mir als Kind immer gewünscht. Ich schalte die Lampe ein. Kleine Halbmonde und Sterne leuchten an die Decke. Sie kreisen über mir. Manche Sterne sind klein wie Punkte. Manche riesengroß und verzerrt. Unser Kind sitzt oben auf dem Stockbett und ruft nach mir. Komm zu mir, sagt es, erzähl mir eine Geschichte. Ich sage, ich weiß keine Geschichte, schlaf ein. Es lässt seine Beine vom Bett baumeln. Ich will aber eine Geschichte. Mama, Mama, Mama, Mama. Lies mir was vor. Alles drückt in meinem Bauch, als würde es sich gegen meine Eingeweide stemmen. Etwas schnürt mir den Hals zu, und mir wird schwarz vor Augen. Ich setze mich auf die Rutsche. Mama, wo bleibst du denn? Nur fünf Minuten, sage ich. Ich schließe meine Augen und lehne mich zurück. Mir ist so kalt und keine Decke im Zimmer. Mama, lies mir was vor. Mama, Mama, Mama. Hör auf, sage ich. Mama, komm endlich. Halt deine Klappe, sage ich, hast du gehört? Mama, Mama, Mama. Sei endlich still, lass mich endlich in Ruhe.
Im Traum steht mein Vater mit einer Pistole hinter mir. Ich soll mich zwischen Kopf- und Mundschuss entscheiden. Ich kann mich nicht entscheiden. Er trifft mich am Hinterkopf. Ich spüre keinen Schmerz, nur ein leichtes Kribbeln. Ich fasse an meinen Kopf und ertaste die Kugel. Eine Kruste hat sich gebildet. Ich wundere mich, dass ich lebe. Mein Vater ist verschwunden. Ich wähle den Notruf. Es ist besetzt. Ich wähle die Nummer noch einmal. Immer noch besetzt.