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Aus der kleinen Renovierung ist eine größere Renovierung geworden. Wir nehmen einen Kredit auf. Nur einen kleinen, sagst du. Einen Teil finanzieren deine Eltern, den anderen wir. Fünfzehn Jahre vergehen im Flug. Doch deine Pläne ändern sich laufend. Zuerst war es nur eine Teilsanierung, dann kam die Terrasse, der Wintergarten, die Fußbodenheizung, die Vollsanierung. Du machst Finanzierungspläne und verwirfst sie wieder, nie entsprechen sie deinen Vorstellungen. Täglich wandert die Summe weiter in die Höhe. Von Fünfzigtausend auf Hunderttausend, auf Hundertzwanzigtausend, auf Hundertfünfzigtausend.
Ich will mehr für unsere Familie, sagst du, siebzig Quadratmeter sind nicht genug.
Siebzig Quadratmeter reichen vollkommen, sage ich.
Wir müssen größer denken, lass uns das Dachgeschoss ausbauen.
Hat das nicht Zeit?
Jetzt ist die beste Gelegenheit. Meine Eltern sind einverstanden, finanziell ist es machbar. Später werden wir nichts mehr verändern.
Aber was, wenn wir unsere Arbeit verlieren, was, wenn einer von uns ausfällt?
Mach dir keine Sorgen, meine Eltern helfen uns, wenn es nicht mehr geht. Die haben Geld genug. Im Notfall vermieten wir. Das ist eine Investition für das Leben. Das ist unsere Vorsorge, die Zukunft unserer Kinder. Und wenn meine Eltern sterben, gehört uns das ganze Haus. Du musst nur Ja sagen.
In deinem Gesicht so viel kindliche Freude und Aufregung, so viel Glück, nicht eine kleine Spur von Zweifel kann ich erkennen, während sich in mir alles zusammenschnürt. Das ist nicht mein Haus, will ich sagen, das ist nicht mein Traum. Dabei kann ich nicht einmal sagen, was es ändern würde. Ob ich nur zu dir ziehe oder ob wir auch noch renovieren, ob wir nur einen Teil renovieren oder das Dachgeschoss ausbauen, ob wir hunderttausend oder dreihunderttausend Kredit aufnehmen, ich bin doch schon mittendrin in deinem Leben.
Sag endlich was, sagst du.
Was soll’s, macht auch keinen Unterschied mehr.
Was soll schon passieren? Wenn alle es schaffen, schaffen auch wir das, sagst du.
Also erhöhst du die Summe bei »Fremdkapital« und addierst einige Kostenpunkte. Alles wird größer, besser, teurer.
Der Geruch von Sonntagsbraten und Kartoffelpüree strömt durch die Wohnung und klettert über die Treppen in das ganze Haus. Es ist derselbe Geruch wie damals. Meine Mutter und mein Vater in der Küche. Musik aus dem Radio. Mein Vater, der singt. Meine Mutter, die lacht. In meiner Erinnerung sehe ich immer nur ihren Hinterkopf, ihre Hände. Manchmal sehe ich ihr Gesicht, aber nur Einzelheiten, ihren Mund, ihre Augen, ihre Nase. Ihre schwarz-gelb karierten Hemden. Von hinten sieht deine Mutter fast so aus wie meine. Die Haare bis zu den Schultern, ihre zarten Hände, die Kartoffeln schneiden, ein tänzelnder Gang beim Kochen, ihr lautes Lachen. Dein Vater legt die Hand um ihre Hüften und küsst sie in den Nacken. Ein Bild wie ein Stillleben der Vergangenheit.
Wir. Das sind jetzt du, deine Mutter, dein Vater und ich, ein Quartett, das zusammen plant, zusammen isst und jedes Wochenende miteinander verbringt. Nach dem Essen sitzt du mit deinem Vater am Küchentisch, während deine Mutter und ich den Abwasch erledigen. Vor euch sind die Pläne ausgebreitet, auf die unser Wohnraum gezeichnet ist. Die Wände, die Türen, die Betten, die Steckdosen, der Küchentisch, alles hat seinen Platz, alles ist sorgfältig durchdacht. Du hast ganz genaue Vorstellungen, wie die Wohnung aussehen soll. Die Wohnung ist ein kleiner Traum, den du dir erfüllst. Die Wohnung ist eine Chance für deinen Vater, noch einmal zu planen, modern dieses Mal, wie er es vor Jahren hätte tun können, wie es sich aber jetzt nicht mehr auszahlt. Man muss jung sein, sagt er, in unserem Alter hat man keine Nerven mehr dafür.
Ich sage, ich wünsche mir, oder ich stelle mir das so vor. Ihr sagt: Besser wäre doch. Oder: Das geht nicht. Schau, Andi, so macht man das nicht mehr. Wenn ich sage, wie wäre es mit, sagt dein Vater, das passt nicht. Wenn ich sage, könnten wir nicht, sagst du, nein, das habe ich schon anders geplant. Wenn ich sage, schön wäre doch, sagst du, mittlerweile gibt es. Jetzt hat man. Den Architekten hast du ausgewählt, schließlich arbeitest du in einem Architekturbüro. Die Baufirma hast du ausgewählt, schließlich kriegst du bessere Konditionen. Du hast die Expertise, dein Vater die Erfahrung. Ihr übertrumpft euch mit eurem Wissen, vertieft euch in eure Pläne, habt andauernd Termine, zu denen ich mitgehen kann, aber erwünscht bin ich nicht. Also nehme ich mich zurück. Du wirst schon wissen, was du tust. Was weiß ich schon vom Bauen und Einrichten. Was weiß ich schon von Häusern und Eigentumswohnungen. Was weiß ich schon von diesem neuen Leben. Darüber weißt du besser Bescheid.
Seit wir renovieren, haben wir andere Themen. Wir sprechen jetzt nicht mehr von Ultraschalluntersuchungen, sondern von Parkettböden, Schalldämmung und Jalousien. Es gibt Parkett aus Eichenholz, Parkett mit Fischgrätmuster, dunkles und helles Parkett. Es gibt Jalousien aus Holz oder Aluminium, Innen- und Außenjalousien, Falt- und Plisseerollos. Deine Mutter sitzt stundenlang in der Küche, Dutzende Möbelkataloge auf dem Tisch verteilt, in jedem Katalog hat sie Dinge angestrichen, die in unsere Wohnung passen könnten. Alle sind wahnsinnig beschäftigt und gestresst. Es soll schnell gehen, damit wir bald einziehen können. Nur ich werde außen vor gelassen, schließlich bin ich die Schwangere in der Familie. Nach und nach stelle ich fest, dass du das meiste schon vorher arrangiert hast. Du hast schon vor Monaten mit dem Architekten gesprochen und dich bei einer Baufirma erkundigt. Du hast erste Pläne anfertigen lassen und Kostenvoranschläge angefordert, als wir noch gar nichts besprochen hatten. Du warst schon bei der Bank und hast um Kredit angefragt, jedoch erfahren, dass wir für diese Summe zu zweit sein müssen. Du bist immer einen Schritt voraus.
Wir sehen uns weniger, meist erst im Bett. Ich gehe allein zu den Untersuchungen. Du hast immer einen Termin. Du verbringst viel Zeit bei deinen Eltern oder mit deinen Kollegen, die dich rund um die Uhr beraten. Dafür bezahlst du die Bierkisten, die ihr am Abend konsumiert. Kommst du zu mir, bist du müde und gehst gleich ins Bett. Komm ich zu dir, bist du oft bei deinen Eltern oder noch nicht zu Hause. Alles dreht sich nur mehr um das Haus, du bist wie besessen.
Mein Kopf explodiert gleich, sagst du dann, wenn ich reden will. Oder: Alles ein Chaos, nichts funktioniert, wie es soll.
Es muss doch nicht perfekt sein, sage ich.
Ich will nur das Beste für uns, bald ist der größte Stress vorüber.
Deine Mutter entscheidet aber nicht über die Einrichtung?
Wie kommst du darauf? Natürlich nicht!
Sie sitzt den ganzen Tag in der Küche und streicht Dinge in Katalogen an.
Ach, lass ihr doch die Freude. Sie braucht eine Aufgabe, sie möchte sich einbringen. Vielleicht fahrt ihr mal zusammen ins Möbelhaus?
Natürlich, warum sollten wir das nicht tun.
Sei nicht so!
Wir müssen drin wohnen, nicht deine Mutter.
Sie meint es doch nur gut.
Mit dem Kredit haben wir uns verpflichtet. Mit deinem Haus schlagen wir Wurzeln. Mit diesem Kind führen wir genau dieses Leben, das alle hier führen. Wir werden immer hierbleiben. Erst jetzt wird es mir bewusst, wenn ich die Pläne sehe, die für unser Leben gedacht sind. Keine Großstadt. Kein Madrid. Kein Haus am Meer. Keines dieser Luftschlösser. Nur dieses Haus am Waldrand und tausend Einwohner, die alles von uns wissen, uns beobachten, uns bewerten nach unserem Verhalten und unserem Besitz. Mit denen man über das Wetter spricht, weil man über Politik und Religion nicht spricht. Das ist, was es heißt, hierzubleiben: Wir fügen uns ein. Wir fallen nicht auf. Wir haben: 1 Haus, 2 Autos, 1 Kind.
Die Tage sind hell und sind dunkel, manchmal trüb und regnerisch, manchmal leuchten sie geradezu. Wenn ich an das neue Haus denke: aus dem Wohnzimmer der Blick über das Tal, die Berge, die sich unter uns öffnen. Der Nebel, der morgens über die Felder zieht und allmählich von den ersten Sonnenstrahlen durchbrochen wird. Unser gemeinsames Leben, das vor uns liegt. Bunt und voller Wärme. Das Lachen unseres Kindes. Doch an manchen Tagen kommt ein anderes Gefühl wieder zurück. Wenn du über Baupläne und Bewilligungen sprichst, wandere ich in Gedanken durch die Wohnung, öffne die Tür, gehe die Treppen hinunter. Ich gehe über die Straße, niemand, der mich aufhält, nur meine Schritte auf dem Asphalt. Ich gehe, so weit mich meine Füße tragen können. Jeder Schritt trägt mich weiter, jeder Atemzug wird leichter, immer schneller. Aber als ich kurz davor bin, den Ort zu verlassen, holst du mich wieder zurück.
Du hörst mir schon wieder nicht zu. Hast du gehört, was ich gesagt habe?
Aber ja doch.
Dann wiederhol, was ich gesagt habe.
Bewilligung.
Kannst du mir nur einmal zuhören, wenn ich was sage? Nicht mal unsere gemeinsame Wohnung interessiert dich.
Und plötzlich kleine Schläge. Wie ein Schmetterling, der seine Flügel ausbreitet und gegen eine Wand stößt. Ich lege die Hand auf meinen Bauch. Da ist wirklich wer drin. Vielleicht ein kleines Insekt, bedeckt mit Lanugohaaren, die Flügel schimmern blau und violett, durchzogen von schwarzen Mustern. Jetzt unternimmt es die ersten Flugversuche, und in einigen Monaten wird es aus meinem Bauch fliegen. Vielleicht nimmt es mich mit. Vielleicht verwandle auch ich mich in einen Schmetterling, und wir fliegen beide davon.
Wann zieht ihr denn ein, fragt Alex.
Die Geburtstagsfeiern haben sich verändert. Sie finden nachmittags statt, und der Großteil der Gäste sitzt auf dem Boden im Wohnzimmer, inmitten von Babydecken, Rasseln und Bauklötzen. Es sind fast gleich viele Kinder wie Erwachsene da, im Alter zwischen fünf Monaten und drei Jahren. Die Väter und Mütter haben alle Hände voll zu tun. Sie laufen ihren Kindern nach und halten sie davon ab, sich gegenseitig zu schlagen oder zu kratzen, während wir mit Alex und einigen anderen am Tisch sitzen. Du mit einem Glas Sekt in der Hand, ich mit einem Sektglas Orangensaft in der Hand.
In zwei bis drei Monaten sollte der Umbau abgeschlossen sein, sagst du.
Georg hat an alles gedacht, sage ich, eine Wand wird komplett verglast, der Blick ist atemberaubend von dort. Man sieht über das gesamte Tal. Nur wenige Meter vom Haus entfernt ist man mitten im Wald, und im Garten steht ein Kirschbaum, der bis zum Dach reicht.
Beneidenswert, sagt Alex, wir haben nur die Hauptstraße daneben und den Blick auf die nächste Siedlung. Die Großeltern im Haus zu haben ist eine große Erleichterung, ihr werdet sehen. Paul und ich haben niemanden, der uns mit den Kindern hilft. Meine Eltern sind drei Flugstunden entfernt, weil sie sich eingebildet haben, ihren Lebensabend in Griechenland zu verbringen. Seine Eltern kommen manchmal für ein Wochenende, oder wir können sie hinbringen. Damit ist uns aber auch nicht geholfen. Zwei Kinder sind wirklich eine Herausforderung.
Mach ihnen doch nicht alles madig, sagt Paul, man muss sich nur neu strukturieren. Und im Unterschied zu uns habt ihr ja alle vier Großeltern in der Nähe.
Zwei, sage ich.
Warum das?
Meine Mutter hat uns verlassen, als ich zehn war. Mein Vater wohnt zwar nicht weit von hier, aber ich habe ihn schon Jahre nicht gesehen.
Das wusste ich nicht, sagt Paul, und deine Mutter hast du nie wieder gesehen?
Nein.
Und nie nach ihr gesucht?
Hör auf, sagt Alex, das geht dich nichts an.
Ist schon gut, sage ich, warum sollte ich nach ihr suchen? Es gibt nichts mehr zu sagen. Menschen treffen Entscheidungen, und das muss man akzeptieren.
Und dein Vater? Weiß er, dass du schwanger bist?
Jetzt hör schon auf, sagt Alex.
Irgendwann ist ein »Psscht« zu hören. Jemand schaltet die Lichter aus, und Paul kommt mit der kleinen Tochter durch die Tür. Gemeinsam halten sie die Torte. Fünfundreißig Kerzen darauf. Ihre Gesichter leuchten. Alles Gute für dich. Alles Gute für dich. Alles Gute, liebe Alex. Alle singen und klatschen. Die Kleine hat ein Bild gemalt. Ein Haus, zwei Erwachsene, zwei Kinder und eine violette Sonne. Paul hat ihr Schmuck geschenkt, handgefertigte Ohrringe mit der passenden Halskette. Alles ist so, wie es sein muss. Alex schneidet die Torte an. Perfekte kleine Kuchenstücke in exakt gleicher Größe. Währenddessen haben die Eltern am Tisch die Gespräche Richtung Kindergartenplätze, Kinderwägen und Tragetücher gedreht. Du hörst interessiert zu und stellst viele Fragen. Dazwischen essen wir Kuchen. In einigen Monaten gehören auch wir dazu.
Eine Freundin von Alex erzählt, dass ihre Firma angerufen hat, um zu fragen, wann sie wieder zurückkommt.
Das Kind ist gerade mal zwei Monate alt, und schon muss ich alles entscheiden. Woher soll ich jetzt wissen, wie lang ich zu Hause bleibe? Mein Mann arbeitet den ganzen Tag und kommt erst abends nach Hause. Im Moment kann ich es mir einfach nicht vorstellen.
Dann wird es Zeit für das zweite Kind, sagt Alex.
Um Gottes willen. Mich macht ja das eine Kind schon total fertig. Ich schlafe kaum mehr als zwei Stunden am Stück. Ich fang doch nicht von vorne an, wenn ich das erste geschafft habe.
Im öffentlichen Dienst kann ich fünf Jahre zu Hause bleiben, sagt Alex’ Schwester, sobald Oskar ein Jahr alt ist, möchte ich wieder schwanger werden. Es zahlt sich nicht aus, wieder arbeiten zu gehen. Wenn ich nur Teilzeit arbeite, würde ich beim nächsten Kind weniger Karenzgeld bekommen. Besser, wir schießen gleich das nächste nach.
So schnell?, sagt Alex. Willst du dich nicht erst mal von der Geburt erholen?
Ach, das ist schon fast vergessen. Die zweite Geburt kann nicht so schlimm sein.
Und was, wenn dir das wieder passiert?
Was ist denn passiert, fragst du.
Ich bin mit zu hohem Blutdruck ins Krankenhaus, da hatte sich mein Fruchtwasser schon grün gefärbt. Eine Schwangerschaftsvergiftung. Sie haben das Kind sofort mit Kaiserschnitt geholt, zwei Monate zu früh, sonst wären wir beide gestorben. Aber jetzt geht es uns gut. Ein zweites Mal kann mir das nicht passieren. Die zweite Geburt kann nur besser werden. So was ist selten, Andi, mach dir keine Sorgen, wenn du solche Geschichten hörst.
Fünfunddreißig Kerzen sind ganz schön viel für so eine Torte, lacht Paul, als er die Kerzen wegräumt.
Mein fünfunddreißigster Geburtstag hat mir zu schaffen gemacht, sagt Alex’ Schwester, fast schlimmer als mein dreißigster, ich weiß auch nicht mehr, warum.
Ich kann mich erinnern, du hast mich angerufen und geheult. Ich bin nicht so wie du. Ich habe kein Problem mit meinem Alter. Ich habe alle meine Ziele erreicht. Ich bin verheiratet, habe ein Haus und zwei Kinder. Andi, habt ihr eigentlich schon die Hochzeitsfotos gesehen?
Sie holt ein weißes Album, und wir blättern von einem Foto zum nächsten. Wie sie auf dem Brautauto liegen und sich küssen. Wie sie am Eingang der Kirche lehnen und sich verliebt in die Augen schauen. Wie Alex ihren Brautstrauß in die Luft wirft, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen, ein überglückliches Lachen. Wie das Brautpaar im Konfettiregen tanzt. Als wir das Hochzeitsalbum durchgeblättert haben, folgen die Familienfotos: Der schwangere Bauch von Alex, von hinten legt ihr Mann seine Hände auf ihre, gemeinsam formen sie ein Herz. Eine kleine Hand, die ihren Finger umklammert, der Ehering glänzt golden in die Kamera. Ein kleines Baby liegt nackt und mit geschlossenen Augen in einem Korb. Um den Kopf hat es ein Haarband mit einer riesigen rosaroten Blume gebunden. Das ist das schönste Bild, sagt Alex, kommt, ich muss euch was zeigen. Wir folgen ihr in das Schlafzimmer. Über ihrem Bett hängt dasselbe Bild lebensgroß. Das Baby schwarz-weiß, die Blume leuchtet rosa. In geschwungenen Lettern ist zu lesen: Family is where LIFE begins and LOVE never ends.
Als wir die Tür hinter uns schließen, muss ich erst einmal durchatmen. Alle tun, als wäre das wirklich das Schönste der Welt. Dieses Schwangersein, dieses Kindhaben, dieses Hausbauen. Ich habe bald auch dieses Leben: eine eigene Wohnung, ein Kind, einen Mann, der mich liebt. Die Familie ist die Erfüllung. Eine wohlige Seifenblase, die nie zerplatzt.
Ist dir schlecht, fragst du.
Alles gut, ich bin müde, sage ich, zu viele Menschen.
Die Familie füllt deinen Körper mit Liebe und Geborgenheit aus. Die Familie ist der Anker, der dich zurückholt, wenn du davontreibst.
Du streckst deine Hand nach mir aus. Komm schon, lass uns gehen.
Deine Hand fühlt sich kalt an und rau.
Die Handwerker sind schon in der Wohnung. Du wohnst jetzt bei mir, bis wir einziehen können. Deine Kleidung liegt in kleinen unförmigen Stapeln in meinem Schrank. Damit du Platz für deine Sachen hast, habe ich mich von alten Kleidungsstücken getrennt und den Rest in Kisten verstaut. Im Vorraum liegen jetzt deine Schuhe verstreut. Im Wohnzimmer stehen deine Fitnessgeräte. Im Bücherregal deine Schallplatten. Auf dem Esstisch dein Computer. In der Wohnung stehen Kartons mit Dingen, die du in den nächsten zwei Monaten brauchst. Der Rest ist bei deinen Eltern. Wir suchen Nachmieter für meine Wohnung. Wir schreiben ein Inserat: 50 m², Miete kalt: 400 Euro. Bezugsfertig ab Oktober. In spätestens drei Monaten muss ich die Wohnung verlassen. Dann schließe ich die Tür hinter mir und schlage ein neues Kapitel auf. Wir sortieren meine Einrichtung in Möbel, die wir verkaufen, Möbel, die wir wegwerfen, und Möbel, die wir vielleicht mitnehmen. Du siehst dir jedes Stück an und beurteilst, kaum etwas passt zur neuen Einrichtung. Entweder beißt sich der Farbton, oder sie sehen zu billig aus. Es ist ein Neubeginn, sagst du, besser wir werden den alten Ballast los.
In meinem Körper wabert es und windet sich. Wenn ich nicht schlafen kann und wach im Bett liege, erwacht es und schwimmt im Fruchtwasser hin und her, als wäre jetzt ein kleiner Ozean in mir. Es stößt an die Decke, hält inne. Auf meinem Bauch ist eine Ausbuchtung zu erkennen, die sich bewegt. Einmal verschwindet sie sofort wieder, ein anderes Mal bewegt sie sich zum Bauchnabel und zurück. Spürst du das nicht, will ich sagen, aber natürlich spürst du es nicht. Du schläfst neben mir, als wäre nichts Außergewöhnliches dabei, wenn ein Wesen zum Leben erwacht. Ich klopfe gegen meinen Bauch. Das Schlagen hört auf, aber dann kommt es wieder, stärker dieses Mal. Georg, flüstere ich und greife nach deiner Hand, wach auf. Ich lege deine Handfläche auf meinen Bauch. Wie ein Geist, sage ich. Ein kleiner Hai, sagst du. Du legst deinen Arm um mich, und ich lege jeden Teil meines Körpers an die passende Stelle: meinen Kopf auf deine Brust, mein rechtes Bein über dein linkes, meine Brust an deinen Bauch. Eine Einheit aus Körpermasse.
Wir gehören zusammen, sagst du, siehst du, dein Kopf passt genau hinein.
Jeder andere Kopf würde genauso hineinpassen, sage ich und beiße dir sanft in den Bauch.
Im Traum begegne ich meiner Mutter. Wir sind kleine Fische, die im Ozean schwimmen. Die anderen Fische sind schon weit voraus. Wir erkennen sie nur an ihren Bewegungen, wenn das Licht durch das Wasser fällt. Ich werde immer langsamer. Etwas zieht mich zurück. Meine Mutter schwimmt weiter, ihre Schwanzflosse schimmert in allen Farben: orange, türkis, rot und gelb. Ich bin fasziniert von den Farben und schaue mich um nach meiner eigenen Schwanzflosse. Sie ist grau und unförmig, auf der linken Seite fehlt ein Stück. Mama? Mama, warte doch auf mich. Sie dreht sich um und lächelt mir zu. Komm doch endlich. Ich nehme alle Kraft zusammen, versuche, schneller zu schwimmen, aber ich kann sie nicht einholen. Etwas zieht mich immer energischer zurück, wickelt sich um meinen Hals und nimmt mir die Luft. Ich ersticke. Mama, rufe ich. Das Schimmern ihrer Schwanzflosse ist im Ozean verschwunden. Nur das Licht zieht sich als langer Strahl durch das Wasser. Plötzlich habe ich wieder Arme, und ich greife an meinen Hals, etwas Glitschiges krieg ich zu fassen. Eine Nabelschnur.
Im Büro feiern wir den Abschied von Sandra und Carmen, die nach Hamburg ziehen, um den neuen Standort zu eröffnen. Wir trinken Sekt und essen Brötchen. Sie zeigen uns Bilder von ihrer Wohnung, Dachgeschoss mit Blick auf die Elbe. Das neue Büro befindet sich in einem hippen Viertel in der Nähe vom Hafen. Sandra wird Standortleiterin, Carmen ihre Stellvertreterin. Beide haben keine Kinder und sind ungebunden. Ich nippe an meinem Sekt und bin schon nach zwei Schlucken so betrunken, dass ich etwas aus dem Gleichgewicht gerate. Ich schlinge ein Brötchen hinunter und lächle, während sie von ihren neuen Kunden erzählen. Vollkommen neue Möglichkeiten. Erste Gespräche. Start-up-Szene. Kreativwirtschaft. Erweiterung des Leistungsspektrums.
Darauf müssen wir trinken, sagt Carmen.
Auf euren Neustart, sage ich und trinke das Glas in einem Zug leer.
Auf euren Neustart, sagen alle. Sie prosten sich zu und sehen mich verwundert an. Entschuldigung, sage ich, stoße mit meinem leeren Glas an und nehme mir noch ein Brötchen.
Willst du uns nicht etwas sagen, Andi?, sagt Sandra.
Ich verschlucke mich und fange an zu husten, ich spüre, wie mir die Hitze in den Kopf steigt.
Was meinst du?
Alle starren auf meinen Bauch.
Als ich weinend nach Hause komme, riecht es nach gebratenem Fleisch und Tomaten. Du stehst in der Küche, hast das Radio laut aufgedreht: I, I wish I could swim. Like the dolphins. Like dolphins can swim. Der Tisch ist liebevoll gedeckt. Die Servietten zu kleinen Pyramiden gefaltet, ein Strauß aus weißen Lilien steht auf dem Tisch. Mineralwasser in Weingläsern für mich und für dich. Du kommst mir entgegen, küsst mich auf die Stirn und hilfst mir aus dem Mantel. Ich lasse die Taschen fallen, eine Dose rollt über den Boden.
Warum weinst du?
Du hast an alles gedacht.
Und deshalb weinst du?
Jetzt wissen es alle im Büro.
Das ist doch gut, sagst du und umarmst mich, deshalb musst du doch nicht weinen. Du trägst die Taschen in die Küche.
Ich habe eine Überraschung für dich, sagst du, aber die zeig ich dir erst nach dem Essen.
Während du die Teller anrichtest, setze ich mich an den Tisch und trinke Mineralwasser aus dem Weinglas. So dumm fühle ich mich, so zerstörerisch. Alles machst du, damit ich glücklich bin. Du willst doch nur eine glückliche Familie, ein Leben, wie alle es führen. Ohne große Aufregung, ein ruhiges Abendessen bei Kerzenschein, miteinander einschlafen, sich auf das gemeinsame Kind freuen, ein Nest bauen, in dem wir bleiben können, um miteinander alt zu werden.
Setz dich auf das Sofa und schließ deine Augen, sagst du.
Als ich die Augen wieder öffne, hast du das Licht ausgeschaltet. Der Beamer projiziert in geschwungener Schrift an die Wand: »Unser neues Zuhause«.
Was ist das?
Du wirst schon sehen.
Eine 3D-Animation deines Elternhauses erscheint. Im Garten sitzt ein Kind auf der Schaukel. Die Obstbäume blühen. Ein Hund liegt im Gras.
Ein Hund?
Den hat mein Kollege hineinmontiert.
Willst du jetzt einen Hund auch noch?
Vielleicht. Warum nicht? Aber darum geht’s nicht. Schau!
Du lässt das Haus um dreihundert Grad drehen. Der obere Stock des Hauses ist aus Naturholz, eine Seite ist verglast. Von außen sieht man in die Küche und das Wohnzimmer hinein. Über die Terrasse ist ein großer weißer Sonnenschirm gespannt. Darunter stehe ich, vor mir eine Staffelei, ich halte einen Pinsel in der Hand.
Und das Beste kommt erst.
Unsere Wohnung. Wendeltreppen aus Holz, die ins Dachgeschoss führen. Ein Kinderzimmer mit Stockbett und Rutsche. Eine großräumige Küche in Türkis. Eine riesengroße Rattan-Hängeschaukel im Wohnzimmer und daneben ein Zitronenbaum. Die Wände im Gang sind bunt bemalt und darüber ein Schriftzug »Wand frei für Kunst«.
Was ist mit den Wänden?
Die gehören dir.
Deshalb die Heimlichtuerei?
Deshalb, sagst du und küsst mich auf die Stirn, es wird perfekt.
Die Dielen werden rausgerissen. Alle Möbel verschenkt, verkauft oder weggeworfen. Die Fenster und Türen ausgetauscht. Die Wände neu verputzt oder eingeschlagen. Die Badewanne kommt raus, die Fliesen werden abgeschlagen. Nichts bleibt mehr von der alten Wohnung. Es kann jetzt hören. Es hört meinen Herzschlag, das Rauschen meines Blutes. Es hört die Bohrmaschinen, den Hammer, die Mauern, die einbrechen. Die endgültige Anzahl der Nervenzellen – zwölf bis vierzehn Milliarden – ist jetzt vorhanden. Ich nehme den Hammer. Er liegt schwer in meiner Hand. Ich fixiere die Wand. Ich schlage zu. Ein Loch, das größer und größer wird.