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Als ich aufwache, greife ich ins Leere. Ein Kissen liegt neben mir, eine Bettdecke, zerwühlt, niemand darunter. Ich drehe mich auf deine Seite und stelle mir vor, wie du neben mir liegst und mich anlächelst. Hast du gut geschlafen, würdest du sagen und mich an dich ziehen. Hast du was geträumt, würdest du fragen. Und dann würdest du aufstehen, und ich würde so lange im Bett bleiben, bis der Kaffeegeruch mich nach draußen lockt. Jetzt ist es still ohne dich, die Wohnung riesengroß, die Gänge ewige Weiten. Die Tage wie Wochen. Ich starre auf die unbenutzte Bettdecke. Ich atme laut, damit ich das Gefühl habe, es wäre noch jemand hier. In meinem Bauch zieht sich alles zusammen, und auf meiner Brust eine Schwere, als würde sich jemand gegen mich stemmen. Das Kissen riecht immer noch nach dir. Und überall liegen deine Gegenstände. Ein Pullover im Schlafzimmer. Die Zahnbürste im Badezimmer. Die Schuhe im Vorzimmer. Deine Comichefte am Nachttisch. Der Rasierapparat auf der Ablage. Unsere Gesichter, die von den Wänden lachen. Sie sehen so glücklich aus, als wären das gar nicht wir.

Die Assistentin schiebt ihre Brille auf die Nasenspitze und schaut mich an. Wann der erste Tag war.

Erster Tag?, frage ich.

Der letzten Regel, sagt sie genervt. Hinter mir stehen drei Frauen in der Schlange. Ich überlege, es fällt mir nicht ein. Ob ich schwanger bin. Ich schlucke.

Ich weiß es nicht.

Na, werma sehen, sagt sie beiläufig, weil es hier nichts Besonderes ist und schaut schon zur nächsten Patientin hinter mir.

Im Wartezimmer empfangen mich: Beethoven, ein brauner Teppichboden, ein Kunstobjekt aus Metall, ein großer Benjamin. Frauen, sitzend und stehend. Sie sagen »Grüß Gott«, als ich durch die Tür komme, schauen mich kurz an und dann wieder weg, in ihre Zeitschriften, auf ihre Finger oder Telefone. An der Wand hängen kleine Mosaike und ein großes Gemälde. Darauf ein Meer und ein Leuchtturm.

Ich setze mich und sinke in den großen roten Sessel. Keine ist schwanger. Sie sehen entspannt aus, nur eine wirkt ungeduldig und tippt mit ihren Fingern nervös auf den Oberschenkel. Ich spüre ihre Blicke auf meinem Bauch, als wüssten sie, was da in mir ist. Sie haben sicher gehört, was ich mit der Assistentin gesprochen habe. Dass da vielleicht ein Wurm in mir heranwächst.

Ich weiche ihren Blicken aus, und meine Augen wandern die Wände entlang. Da sehen mich andere Frauen an. Die kleinen Mosaike, die verteilt im ganzen Raum hängen, nackte Körper, die an griechische Göttinnen erinnern. Eine Frau mit einem Pfeil durch ihre Vagina. Ihre Brüste stolz nach vorn gestreckt. Eine Frau mit Kinderwagen, eine hält einen Fisch in der Hand. Eine liegt mit gegrätschten Beinen auf dem Boden. Ihre Vagina wie ein dunkler Schlund, der das ganze Wartezimmer einnimmt. Sie haben mich eingekreist. Alle schauen sie mich an und durchdringen mich mit ihren Blicken. Und die Wut kommt von ganz tief in mir hoch. Dass ich es ausbaden, mir in die Vagina schauen lassen muss, von diesem Mann, der ein Kultivierter ist und Frauenkörper als Kunstobjekte in seinem Wartezimmer ausstellt.

Diese Frauen machen mich wütend, mit ihren übereinandergeschlagenen Beinen, mit ihren Blicken, die mir sagen: Wir sind gleich. Aber da ist nichts Verbindendes zwischen uns. Da gibt es überhaupt nichts und keinen Grund, warum sie mich ansehen müssen. Schaut nicht mich an, sondern in eure Frauenzeitschriften. Schaut nicht auf meinen Bauch, sondern in die Babyzeitschriften, in die Schwangerschaftszeitschriften. In die Donna und Bella und Britta und Sophia und Freundin und Beste Freundin, in die Eltern und Gesundheit, in die Eltern und Baby, in die Junge Familie und Eltern Spezial, in die Baby & Co., Baby und Frau, Baby und Haus. Lasst doch mich aus dem Spiel.

Am liebsten würde ich mich in einem Loch verkriechen und nie wieder herauskommen. Und du sitzt zu Hause, schon seit Tagen keine Nachricht von dir, ahnungslos, unbedarft, als wärst du aus einem anderen Leben.

Er drückt meine Hand etwas zu fest und schließt die Tür mit Schwung hinter mir. Er hält sich nicht lange mit meinen Befindlichkeiten auf. Er schaut mich an, aber durch mich hindurch. Er trägt eine Jeans und einen weißen Mantel darüber, kurze spärliche Haare stehen von seiner Glatze weg.

Gehen Sie bitte in den nächsten Raum weiter, sagt er, während er etwas in seinen Computer tippt.

Der Raum ist dunkel, die Fenster verschlossen. Auf einer langen Ablage liegen Geräte aus Metall. Die Umkleide ist eine altmodische spanische Wand, die mitten im Raum steht.

Unten frei machen, sagt er, und: Auf die Liege, als er zu mir ins Zimmer kommt.

Auf die da, frage ich.

Es gibt nur eine, sagt er und zieht spöttisch eine Augenbraue nach oben.

Er tastet meine Brüste ab, sagt dann deutlich und langsam: Und jetzt bitte auf den Un-ter-su-chungs-stuhl, als wäre ich schwer von Begriff.

Weiter zu mir, sagt er.

Noch weiter, sagt er und schnauft. Noch etwas weiter. So ist es gut.

Eine Lampe beleuchtet meine Vagina, die nun das Zentrum bildet, den ganzen Raum für sich einnimmt. Er wendet sich ab, sucht nach den Geräten, während ich ausgeliefert vor ihm liege. Das Licht blendet. Meine Beine beginnen zu zittern. Er dreht sich wieder zu mir.

Ganz ruhig, ich tu Ihnen nichts. Ganz ruhig und entspannt.

Dieses Mal sieht er mich an, kurz, aber nicht durch mich hindurch. Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, ruhig zu sein. Nicht zu zittern, nicht zu atmen, mich wegzudenken.

Atmen Sie ganz normal, sagt er. Es passiert Ihnen nichts.

Ich sehe dich vor mir, wie du auf dem Sofa liegst und dir eine Fernsehserie anschaust. Wie du dir ein Bier aufmachst und wütend auf mich bist. Ich beiße noch fester auf meine Unterlippe, bis ich Blut in meinem Mund schmecke. Er schmiert kaltes Gel auf meinen Bauch und schaut konzentriert auf den Bildschirm.

Wir sind schwanger, sagt er, mit einem Anflug von Freude in seiner Stimme.

Er sieht mich erwartungsvoll an. Wieso wir? Wieso wir, will ich schreien, du hast doch damit überhaupt nichts zu tun!

Sehen Sie, sagt er. Da sieht man schon was.

Ich sehe nichts, sage ich. Da ist nichts.

Doch, sagt er, Sie müssen genauer hinsehen, mit so einer Stimme, mit der man über das Wunder des Lebens staunt.

Ich möchte ihn anschreien, dass es hier nichts zu wundern gibt. Dass ich ihm sein Ultraschallgerät hinterherwerfe und ihm diesen Ultraschallpenis in den Hals schiebe, wenn er nicht aufhört, mit dieser wundernden Stimme zu sprechen. Dass es hier nichts, überhaupt nichts zu bestaunen gibt und dass die Natur kein Wunder ist, sondern ein beschissenes Arschloch, weil das ist es wohl, was er in seinem Freundeskreis zu sagen pflegt, wenn er von seiner Arbeit spricht, nur jetzt sagt er es nicht, weil er es hier schon zu oft gesagt hat.

Ich schließe die Augen, meine Beine zittern jetzt so stark, dass ich es nicht mehr verbergen kann. Ich spüre die Tränen, die an meinem Gesicht hinunterfließen. Ich kann nichts dagegen tun, mein Herz schlägt gegen meine Brust, als wären es jetzt schon zwei Herzen und als möchte da drinnen jemand zu mir sagen, dass ich nicht allein bin, dass wir jetzt zu zweit sind und unsere Herzen miteinander schlagen werden.

Ist alles in Ordnung, fragt er besorgt. Er drückt seine Hände auf meine Oberarme, sanft, nicht so fest wie vorher. Seine Wärme durchdringt meinen Körper. Seine Stimme klingt dumpf und legt sich wie eine warme Decke über mich. Er sagt immer wieder: Alles wird gut. Atmen Sie. Atmen Sie ein, atmen Sie aus. Beruhigen Sie sich. Es ist alles gut. Es ist alles nicht so schlimm. Wir werden das schaffen, wir schaffen das gemeinsam. Ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht. Ich bin bei Ihnen.

Und ganz kurz hat sich seine Stimme so angehört, als wäre es deine.

Ich lese, dass in meinem Mutterleib ein eigener Mikrokosmos entstanden ist. Fruchtwasser. Fruchtblase. Plazenta. Eine zottige Hülle mit bäumchenartigen Ausläufern, die jetzt Chorion und später Mutterkuchen genannt wird. Die Gebärmutter ist so groß wie eine Mandarine und das Embryo eine Bohne. Ein kleiner Organismus hat sich in mir gebildet. Ein Zellhaufen und darin das Gehirn, die Leber, der Magen, der Darm, das Rückenmark und ein Herz wie ein Röhrchen. Ich streiche über meinen Bauch. Da ist nichts. Ich atme ein. Tief. Ich zähle bis zehn. Wie kann da etwas in mir wachsen. Mit Armen, mit Beinen. Einem Kopf, einem Herz. Ich schließe die Augen. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich zähle jeden Atemzug. Elf zwölf dreizehn vierzehn fünfzehn sechzehn siebzehn. Ich schlage mit der Faust gegen meinen Bauch. Da ist kein Schmerz, nur ein dumpfes Schlagen. Ein sechs Millimeter großes Embryo kann ich zwischen meinen Fingern zerdrücken. Nicht viel mehr als eine Fischlarve, unsichtbar, und die Augen schwarze kleine Löcher. Es hat einen Kopf, einen Rumpf, einen Schwanz. Kiemenbögen, woraus sich die Unterkiefer, das Mittelohr, der Stimmapparat formen. Ein kleines Nichts, das alles werden könnte. Ein Rochen. Ein Parasit. Ein Vogel. Ein Mensch.

Ich spiele Szenarien durch. Ich treibe ab. Ich betrinke mich. Ich schlage gegen meinen Bauch. Ich sage dir, dass ich schwanger bin. Ich sage dir, dass ich abtreibe. Ich sehe dein strahlendes Gesicht. Ich sehe mich mit Kinderwagen. Ich sehe dich mit Kinderwagen. Ich sehe ein Kind, das in meinen Armen liegt. Und dann, wie es in deinen Armen liegt. Ich sehe uns, wie wir im Wartezimmer sitzen. Das erste Ultraschallbild. Oder das letzte. Deine glücklichen Eltern. Dein Gesicht, als ich dir sage, dass ich abgetrieben habe. Ich sage dem Arzt, dass ich es behalten will. Ich kaufe mir Mifepriston und Wermut. Ich kaufe den ersten Strampelanzug. Ich sage dir nichts. Ich stürze mich die Treppen hinunter. Ich weine vor Glück. Ich laufe in den Wald und schreie. Deine strahlenden Augen. Ich packe meine Koffer und fahre, einfach weiter, immer weiter. Der Schock in deinen Augen. Die Empörung deiner Eltern. Ich sage dir, dass ich glücklich bin. Ich sage dir, dass ich verzweifelt bin. Ich sage dir, dass dieses Kind das Beste ist, was uns passieren konnte. Dass dieses Kind unser ganzes Leben zerstört. Ich sage, dass es mein Leben zerstört.

Ich stelle mich vor den Spiegel. Ich sehe aus wie immer. Nichts hat sich verändert. Keine Anzeichen von einem Mutterleib oder einem Kind. Nichts regt sich, es ist alles wie im Traum, bei dem man versucht, sich zu erinnern, dass man träumt. Ich versuche, mich an die Gesichtszüge meiner Mutter zu erinnern. Sie hatte ein Gesicht, das immer etwas verbarg, und zwischen den Augen eine tiefe Falte. Nie wusste ich, was sie dachte. Ob meine Mutter sich im Spiegel betrachtet hat, mit mir in ihrem Bauch? Hat sie sich über ihren Bauch gestrichen? War sie irgendwann einmal glücklich, oder hat sie es nur Jahre hinausgezögert? Bis der Druck in ihrer Brust so stark wurde, dass sie beinah erstickt wäre? Woran erkennt man diesen Moment? Ich schließe die Augen, presse die Hände an meine Ohren. Ich höre ein Rauschen. Das Meer in mir. Und ein leises, unruhiges Pochen. Ein Herz. Oder zwei, die gegeneinanderschlagen.

Es ist ein Wunder. Das größte Wunder der Natur. Ein besonderer Moment. Eine Meisterleistung. Ein Spektakel. Das emotionalste Erlebnis im Leben einer Frau. Ich lese, dass ich mich freuen soll und worauf: 1. Auf die ersten Wochen, in denen nur du und ich von der Schwangerschaft wissen. 2. Zu wissen, dass ich neun Monate Zeit habe zum Planen. Zum Träumen. Zum Fantasieren. 3. Auf die Schwangerschaftskleidung. Sie ist praktisch und erotisch. 4. Zunehmen zu müssen. 5. Ausschlafen zu können. 6. Mich selbst zu verwöhnen mit Massagen, Bädern und Lotionen. 7. Auf den Mutterschutz, dank dem ich entspannt auf meine Entbindung warten kann und nachher viel Zeit für mein Baby haben werde. 8. Einen Geburtsvorbereitungskurs zu besuchen und viele neue Freundinnen zu finden. 9. Auf die Brüste, die ich immer schon wollte. 10. Alles das zu genießen, wofür wir nachher keine Zeit mehr haben werden. 11. Die eigene Mutter besser zu verstehen. Ich werde eine ganz neue Art der Bewunderung empfinden, für alles, was meine Mutter durchgemacht, was meine Mutter für mich getan hat. 12. Auf das Funkeln in den Augen der Eltern, Tanten und Onkel, wenn wir es ihnen sagen. 13. Das Handwerk wieder zu entdecken, Babysocken zu häkeln oder zu stricken. 14. Das Kinderzimmer zu planen. 15. Den ersten Herzschlag zu hören. 16. Den ersten Fußtritt zu spüren. 17. Babykleidung zu kaufen. 18. Auf den Moment, in dem du deinen Arm um meinen Bauch legst, und zu wissen, dass unsere Liebe neues Leben erschaffen hat. 19. Ganze Abende damit zu verbringen, uns Namen für das Baby auszudenken. 20. Sich vorzustellen, wie es aussehen wird. 21. Davon zu träumen, was es einmal werden wird. 22. Zu wissen, dass ein kleiner Mensch in meinem großen Bauch heranwächst. 23. Das erste Ultraschallbild in der Hand zu halten. 24. Nie mehr Langeweile zu haben. 25. Dich anzurufen und zu sagen: Es geht los. 26. Auf die Freude und Erleichterung, wenn die Schmerzen vorbei sind. 27. Das erste Mal in die Augen des Neugeborenen zu blicken. 28. Wenn du an meinem Bett stehst mit einem Blumenstrauß in der Hand und dich für dieses Geschenk bedankst. 29. Auf den Moment, wenn das Baby neben mir aufwacht und mir bewusst wird: Ich bin Mutter. 30. Die erste Nachricht zu schreiben: Mein Name ist X. Ich habe am X um X das Licht der Welt erblickt. Ich wiege X kg und bin X cm groß. Wir sind überglücklich.

Ich spanne ein großes Stück Papier über den Boden und ziehe Linien. Kreise. Wölbungen. Wellen. Einen großen Körper. Einen Bauch, riesengroß. Er wächst aus dem Körper, ragt wie ein Berg daraus hervor, fremdartig und mächtig. Der Kopf entgleitet mir. Spitze Verstrebungen ragen daraus empor. Als ich fertig bin, lege ich mich neben das Bild. Es ist größer als ich. Der Blick in die Ferne gerichtet und finster. Meine Hände sind schwarz.

Du kannst doch nicht abtreiben, sagt Marlene, wie kannst du nur an so etwas denken.

Ich sage nur, dass es eine Möglichkeit ist.

Es ist nie der richtige Zeitpunkt. Denk doch mal an die Zukunft. Es ist auch sein Kind, darüber entscheidest nicht du allein. Georg wird nicht ewig auf dich warten. Rede endlich mit ihm und bring’s wieder in Ordnung.

Der Drucker funktioniert nicht. Die Kunden sind unzufrieden mit meinen Entwürfen. Der Computer stürzt ab, und alles, was ich gemacht habe, ist weg. Ich kann nichts essen, habe Kopfschmerzen und Krämpfe im Unterleib. Im Radio Lieder, die mich an dich erinnern. Ich schnauze meine Kolleginnen an, streite mit meinem Chef. Alles geht schief. Sandra sagt, dass ich nach Hause fahren, einen klaren Kopf bekommen soll. Also nehme ich meine Sachen und gehe. Jetzt fällt alles in sich zusammen. Mein Leben liegt in Trümmern. Und ich wandle dazwischen umher wie eine Schiffbrüchige.

Es dämmert, als ich aus dem Bus steige. Um mich herum ist alles dumpf. Die Autos und Stimmen kaum hörbar. Die Schmerzen sind weg. Stattdessen ist mir schlecht und schwindlig. Ich gehe benommen die Straße entlang. Ich schaue in die Wohnungen, aus denen das Flimmern der Fernseher dringt. Dort sitzen sie. Auf ihren Sofas. An ihren Esstischen. Ineinander verkeilt. Manchmal sind nur Schatten am Fenster zu sehen. Vor einem Haus bleibe ich stehen. Ein großes Sofa steht mitten im Wohnzimmer. Darauf eine Mutter, ein Vater und drei kleine Kinder, die kreuz und quer liegen, halb auf der Mutter, halb auf dem Vater. Ihr Blick auf den Fernseher gerichtet. Das Zimmer ist voll mit Spielsachen, Kissen und Bettdecken. Ihre Münder bewegen sich, aber ich höre nicht, worüber sie sprechen. Wie ein Stillleben des Alltags. Die Mutter lacht, und der Vater legt seinen Arm um ihre Schulter. Ob du das sein könntest. Ob ich das bin.

Mir wird schwarz vor Augen, in meinem Magen wieder diese Übelkeit. Ich halte mich an einer Hauswand fest und schließe die Augen. Ich atme ein. Ich atme aus. Eine Träne läuft über meine Wangen. Als ich die Augen wieder öffne, durchdringt mich der verärgerte Blick des Vaters. Eine Empörung darin und ein wenig Abscheu, die hinter den Jalousien verschwinden. Ich gehe weiter. Die Luft ist kühl. Sie kriecht tief in meine Lungen und stemmt sich dagegen. Die Luft gehört nur mir allein. Du bist nicht hier, du atmest nicht mit. Ein Gefühl von Leichtigkeit und Schwere.

Zu Hause ist es still und leer. Die Wohnung dunkel. Das Radio ausgeschaltet. Die Herdplatten kalt. Ich wandere von einem Raum zum anderen. Überall begegnen mir unsere Schatten. Wie du in der Küche tanzt. Wie wir lachend mit unseren Freunden am Tisch sitzen. Wie du immer mit mir sprichst, wenn du die Zähne putzt, und ich kein Wort verstehe. Wie wir nackt durch die Wohnung tanzen und ins Bett fallen. Wie du mir die Bettdecke wegziehst, damit ich aufstehe. Wie du mich wach küsst. Wie du jede Nacht neben mir einschläfst. Wie du immer bei mir bist.

Das Ticken der Uhr hallt durch meine Wohnung. Es ist die Zeit, die vergangen ist, seit ich dir nichts davon gesagt habe. Die Sekunden, die uns immer weiter voneinander entfernen. Seit du weg bist – oder bin ich es, die weg ist, ich weiß es nicht mehr –, liebe ich dich wieder. Dein Lächeln, wenn du mich ansiehst. Deine Umarmung, die alles wiedergutmacht. Vielleicht ist es nur die Vorstellung von dir, die ich vermisse. Die Vorstellung von uns, wie wir sein wollten. Aber jeden Tag ertappe ich mich, wie ich zu dir gehen will. Wie ich dich anrufen will. Wie ich nur kurz deine Stimme hören will. Wie ich dich neben mir wissen will. Ich kann nicht schlafen, wälze mich hin und her. Ich gehe auf den Balkon und schaue auf den verlassenen Platz, die leeren Straßen. Die dunklen Fenster der Häuser. Es ist so still hier. Alle schlafen. Und du schläfst auch. Nur ich liege wach und wandere auf und ab. Wir sind zum ersten Mal getrennt und noch immer kein Wort von dir. Du weißt noch nicht einmal, dass du Vater werden könntest, wenn ich es zulasse. Ich könnte zu dir gehen, an deine Tür klopfen, ich könnte es vielleicht noch einmal ändern. Ich könnte mich stellen, mich darauf einlassen. Stattdessen gebe ich abwechselnd mir die Schuld und dann wieder dir. Warum kann ich das nicht: glücklich sein.

Ich ziehe mich an und gehe aus dem Haus. Meine Schritte hallen durch den Innenhof. Ich gehe ans Ende der Straße, bis ich vor einem Lokal stehe. Dort war ich früher oft mit Marlene. Von außen ist nichts zu erkennen, nur ein Leuchtschild, das schief hängt. Ich öffne die Tür. Der Geruch von kaltem Rauch kommt mir entgegen. Ich setze mich auf einen Barhocker, bestelle ein großes Bier. Ich zünde mir eine Zigarette an. Der Rauch schmeckt anders als sonst, brennt in meinen Lungen. Der Barkeeper stellt mir das Glas hin und geht wieder. Eine Dartscheibe steht verlassen. Die Tische sind leer. Nur ein Mann sitzt in einer Ecke am Spielautomaten. Ich nippe an meinem Bier. Die Boxen knistern. Jimi Hendrix. Rolling Stones. AC/DC.

Ich lehne mich nach vorn, damit ich den Bildschirm sehe: eine Reihe Kirschen und Glocken. Und Münzen. Zahlen und Buchstaben. Aber sie ergeben keine Reihe. Der Mann wirft eine weitere Münze hinein. Pling. Ich stehe auf und stelle mich neben ihn. Ich frage mich, was diese Kirschen und Wassermelonen bedeuten. Ob sie glücklich machen?

Er hat mich nicht bemerkt, sitzt zusammengesunken da und wirft eine Münze nach der anderen ein.

Wie viel hast du heute schon verspielt, frage ich.

Lass ihn, sagt der Barkeeper.

Ich bleibe trotzdem neben ihm stehen und schaue zu, wie immer andere Buchstaben und Nummern auf dem Bildschirm erscheinen. Und dazwischen Glocken. Kirschen. Melonen.

Willst du noch ein Bier, fragt der Barkeeper.

Nein, sage ich und zeige auf mein Glas.

Das Licht wird weniger und die Musik lauter. Die Dunkelheit verdeckt die Brandflecken auf den Sitzbänken und die lieblose Einrichtung. Der Rauchgeruch ist verschwunden.

Was willst du?, fragt der Mann.

Ich schaue dir zu.

Muss das sein?

Ich krame eine Münze aus der Tasche.

Lass mich mal.

Er geht an die Theke und bestellt sich ein Bier, während ich Glocken und Kirschen tanzen lasse. Beim dritten Versuch macht das Gerät ein seltsames Geräusch, beginnt zu singen und spuckt eine Münze nach der anderen aus.

Ich nehme die Münzen, setze mich neben ihn an die Theke und lege sie neben sein Bier. Er sieht mich an und lächelt. Er muss einmal ein schöner Mann gewesen sein.

Irgendwann sagt er: Lass uns tanzen. Er nimmt meine Hand, ich lasse mich mitnehmen. Über uns dreht sich eine Discokugel und wirft kleine Sterne an die Wand. Er legt seinen Arm um meine Hüften, während Johnny Cash I hurt myself today singt. Er riecht anders als du, nach Rauch und nach Alkohol, aber darunter ist sein Geruch, den ich mag. Ich schaue zur Theke, der Barkeeper ist verschwunden, ich schließe die Augen und spüre seinen Kopf, der sich gegen meine Schulter lehnt. Es interessiert mich nicht, wer dieser Mann ist. Es interessiert mich auch nicht, was der Barkeeper über mich denkt, was ich selbst über mich denke. Es ist schön, einen Atem zu spüren, von jemandem, der nicht weiß, wer ich bin.

Ob du schon schläfst?

Während wir tanzen, singen die Beatles, dass es eine Antwort geben wird, und Canned Heat, dass ich nicht mehr weinen soll. Tocotronic, dass die pure Vernunft niemals siegen darf. Und Johnny Osbourne fragt, ready or not.

Es ist mir nicht aufgefallen, wir tanzen immer schneller und haben beide zu singen begonnen. Wir sind uns so nahe wie du und ich uns schon lange nicht mehr.

Als wir das Lokal verlassen, ist es schon spät. Es waren noch andere da, als wir gegangen sind. Wir hatten sie nicht bemerkt. Wir haben kaum miteinander gesprochen, nur gespielt, getanzt und gesungen. Noch immer wissen wir nichts voneinander, als wären wir beide auf der Flucht. Er hält meine Hand, als wir vor dem Lokal stehen. Sie ist warm und umschließt meine Finger.

Kommst du mit?, fragt er, ich wohne in der Nähe. Du kannst bei mir schlafen, wenn du willst.

Also gehen wir Hand in Hand, bis wir vor seinem Haus stehen. Wir sind wie zwei, für die es ganz normal ist, gemeinsam nach Hause zu gehen. Er sperrt die Tür auf. Wir gehen die Treppen nach oben.

Er zeigt mir das Bad und das Sofa. Erst als er die Tür schließt, bleibt er stehen und schaut mich an. Er kommt mir nicht zu nahe, versucht nicht, mich zu küssen. Er umarmt mich auch nicht. Wir stehen uns nur gegenüber, schauen uns in die Augen und schweigen etwas zu lange. Er schaltet das Licht aus. Gute Nacht, und schließt die Tür hinter sich. Ich lege mich auf das Sofa. Ich erkenne nur Umrisse und stelle mir vor, wie das wäre, ein Leben mit ihm. Wie wir in der Küche sitzen. Wie er mich in den Arm nimmt. Wie wir uns küssen. Wie wir einschlafen miteinander.

Mitten in der Nacht wache ich auf. Im Traum bin ich dir auf der Straße begegnet. Du bist an mir vorbeigelaufen, hast mich einfach übersehen. Ich habe nach dir gerufen, aber du hast mich nicht gehört. Erst als ich wieder und lauter nach dir gerufen habe, hast du dich zu mir gedreht, mich kurz angesehen und flüchtig gegrüßt. Dann hast du dich wieder umgedreht und bist weitergegangen. Ein dumpfer Schmerz durchdringt meinen Körper, als würde ein Teil von mir fehlen. Die Dunkelheit verschluckt alles um mich herum. Irgendein Geräusch war zu hören. Ich halte meinen Atem an. Bin mir nicht sicher, ob er im Raum ist, ob er vor mir steht, mir beim Schlafen zusieht. Ich schließe meine Augen. Das Gefühl, es könnte jemand hier sein, der meinen Schlaf beobachtet, macht mir Angst, und gleichzeitig ist es schön zu wissen, dass jemand meine Nähe sucht.

Es ist noch früh, als ich aufwache. Zuerst weiß ich nicht, wo ich bin. Dann betrachte ich das Zimmer. Ein fremder Pullover über der Stuhllehne. Fremde Bilder an der Wand. Ein fremder Geruch in der Bettdecke. Die Erinnerung an eine seltsame Nacht kommt zurück. Ich höre die Wohnung entlang, aber ich höre kein Geräusch. Keinen Atem. Wahrscheinlich schläft er noch. Ich nehme meine Schuhe und gehe leise zur Tür. Ziehe die Schuhe im Treppenhaus an und gehe die Stufen hinunter.

Ich stehe wieder vor deiner Tür. Ich läute und warte. Dieses Mal machst du auf. Wir sehen uns in die Augen und stehen schweigend voreinander. Was ist nur passiert zwischen uns? Da ist so viel, was ich dir sagen möchte, aber die Wörter sind verschwunden, der Sturm hat sich gelegt, alle Vorwürfe haben sich wieder zurückgezogen. Ich versinke in deiner Umarmung, dein Herz schlägt gegen meine Brust, deine Wärme kriecht in meinen Körper und dein Geruch in meine Nase. Ein Gefühl breitet sich aus, es ist plötzlich ganz stark, dieses Gefühl von einem Zuhause. Es ist wie nach einem Gewitter. Der Asphalt, der nach Regen riecht und alle Spuren langsam verschluckt.