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Man sagt, das Wasser ist älter als die Sonne selbst. Die Erde war ein riesiger Ozean aus flüssigem Gestein. Die Oberfläche kühlte ab, eine dünne Kruste bildete sich. Asteroiden rissen die Kruste ein und Gase entwichen. Dann kühlte die Erde aus, und der Wasserdampf kondensierte. Bis es zu regnen begann. Millionen von Jahren. Aus kleinen Pfützen bildeten sich Seen und daraus riesige Meere.
Ich klopfe gegen meinen Bauch. Nichts. Schon seit Tagen kaum eine Bewegung. Als wäre es verschwunden, als hätte das Fruchtwasser es verschluckt oder aufgelöst. Jetzt ist es so eng, dass es seine Arme über dem Bauch verschränken muss, die Beine angewinkelt, wie in einer Zwangsjacke. Wir halten inne. Wir warten. Die letzten Wochen liegen vor uns, dann ist es endlich vorbei.
Im Kreißsaal hören wir die Schreie der anderen Mütter durch die Wände.
Es ist nicht immer so laut, sagt die Hebamme, mal kommt es zu Stoßzeiten, und es gebären mehrere Mütter gleichzeitig, mal ist man allein auf der ganzen Station, man kann es nicht vorhersagen. Wir stehen eng beisammen, lachen, aus Angst oder Verlegenheit. Die Väter werden unruhig. Du nimmst meine Hand und drückst sie fest zusammen. Beim Gebären gibt es große kulturelle Unterschiede: Japanerinnen schreien nicht. Türkinnen laut und schrill. Je lauter, desto mehr Gold gibt es später. In Marokko unterdrücken die Frauen ihren Schmerz und beißen sich auf die Haare. In Ägypten stopfen sie sich ein Tuch in den Mund. In Taiwan soll das Dorf nicht gestört werden. In Indien misst man die Sünden der Frauen an ihren Schmerzen. Damit sich der Muttermund öffnet, werden die Türen im Haus und die Haare der Frau geöffnet. In Mexiko wird alles verschlossen und jeder kleine Spalt mit Tüchern gestopft, aus Angst, böse Geister könnten sich in Mutter und Kind einschleichen.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Eine Geburtswanne. Ein Entbindungsbett. Ein Hocker. Ein Geburtsrad. Seile, Sitzbälle, eine Sprossenwand. Wie ein Turnsaal für Kinder. Alles ist bunt. Selbst die Wände sind lila gestrichen. Ein riesiges Bild mit einer Seerose hängt über dem Bett. Die Frau soll sich bewegen, irgendwo dranhängen, draufsetzen, wie ein Tier, das sich seine Brutstätte einrichtet. Ich stelle mir vor, wie ich hier liege. Auf dem Bett. Oder im Rad. Wie ich mich an den Seilen festkralle, die Seerose anstarre. Wie ich schreie, laut und schrill. Wie ich mir auf die Haare beiße. Wie du mir ein Tuch in den Mund stopfst. Wie ich deine Hand packe und meine Nägel in deine Haut bohre. Wie es mich fast zerreißt, wenn das Köpfchen schon rausschaut. Wie ich mich auf dem Geburtsstuhl winde. Wie ich um Schmerzmittel bettle. Wie mir die Hebamme das schreiende Kind auf die Brust legt. Wie es mir fast das Trommelfell zerreißt. Wie du mich anlächelst, während du die Nabelschnur durchschneidest.
Die Hebamme erklärt die einzelnen Geräte. Sie lächelt, immerzu. Beim Geburtsrad. Bei der Sprossenwand. Bei der Geburtswanne. Sie macht beruhigende Bewegungen mit ihren Händen, als lägen wir schon in den Wehen, und verwendet Ausdrücke wie Köpfchen und kleiner Mensch. Alle stehen eng beisammen, hören zu, stellen Fragen.
Vollkommen ungefährlich, sagt die Hebamme, im Gegenteil. Für das Kind ist die Wassergeburt ein sanfter Übergang. Es gleitet vom Fruchtwasser ins Badewasser und kann seine Drehung, die es im Geburtskanal begonnen hat, zu Ende führen. Ein Reflex hindert es daran, einzuatmen. Erst, wenn es aus dem Wasser gehoben wird, nimmt es seinen ersten Atemzug.
Der Krankenhausgeruch wird immer stärker. Jetzt fehlt nur noch der Hocker, dann sind wir durch. Abwechselnd setzen wir uns drauf, damit wir jetzt schon wissen, wie es sich anfühlt. Unsere Männer hinter uns. Du stellst dich hinter mich und legst deine Hände auf meine Schultern. Ich lehne mich an dich. Ein gellender Schrei ist aus dem Nebenzimmer zu hören. Ein Kind wurde geboren.
Ich sehe dabei zu, wie das Wasser in die Wanne fließt. Es dampft und schäumt, steigt höher und höher. Das Rauschen dringt durch die ganze Wohnung. Ich steige in die Wanne, das Wasser ist heiß. Meine Füße färben sich rot. Die Hitze steigt mir in den Kopf. Ich gleite hinein und tauche meinen Kopf unter Wasser. Ich höre den dumpfen Aufschlag der Brause. Stühle, die gerückt werden, Stimmen aus der Wohnung deiner Eltern. Jetzt bewegt es sich wieder. Wie ein kleiner Fisch, der frei im Meer schwimmt. Wenn ich meine Augen schließe und die Hand auf den Bauch lege, kann ich es vor mir sehen. Es hat eine kleine runde Nase und viele schwarze Haare. Wenn es mich ansieht, kneift es seine Augen zusammen. Die Oberlippe sieht aus wie ein Gebirge und kräuselt sich, wenn es schläft. Die Zehen so klein, dass ich sie mit den Fingern zerdrücken könnte. Wenn es lacht, sieht es aus wie ich.
Man sagt, das Meer ist unergründlich und fremder als der Mond. An den tiefsten Stellen ist es eiskalt und dunkel. Raum und Zeit sind außer Kraft gesetzt. Die Körper der Tiere sind klein, transparent oder schwarz. Sie haben riesige Augen, um die schwachen Reste des Lichts einzufangen, oder gar keine.
Du legst deine Hände auf meinen Bauch. Er ragt wie ein riesiger Berg über mir auf und ein kleiner Ozean darin.
Willst du nicht langsam raus, sagst du, wir warten schon auf dich.
Du legst dich neben mich, dein Ohr an meinem Bauch.
Wie es wohl aussieht?
Das wirst du bald sehen, sage ich.
Alle, die mir begegnen, fragen mich, ob ich Angst vor der Geburt habe. Die Freunde, die Nachbarn, sogar Fremde. Sie sagen: In den meisten Fällen läuft alles gut, mach dir keine Sorgen. Nur die Schmerzen sind wirklich schlimm. Nur die Wehen dauern wirklich lang. Eine hatte eine Geburt, die dreißig Stunden dauerte. Das Kind kam gerade noch vor dem Notkaiserschnitt. Oder: Eine andere hatte eine Sturzgeburt, das Kind kam im Treppenhaus zur Welt, der Mann konnte gerade noch den Kopf halten.
Oder: Die Bekannte einer Nachbarin brachte ihr Kind im Rettungswagen zur Welt. Oder: Bei einer steckte das Kind stundenlang fest und musste mit der Saugglocke geholt werden. Die Hebamme stemmte sich gegen den Bauch, die Ärztin zog es am Kopf heraus, während die andere Hebamme einen Dammschnitt machte. Der Kopf des Kindes war so deformiert, dass der Vater dachte, mit dem Kind stimmt etwas nicht. Niemand sagte ihm, was passiert war. Oder: Bei wieder einer anderen bekam das Kind zu wenig Luft, die Ärzte hielten es kopfüber, aber es schrie nicht. Jetzt ist es halbseitig gelähmt. Oder: Bei irgendeiner Cousine wurde ein Herzfehler beim Kind festgestellt. Gleich nach der Geburt musste es operiert werden und wochenlang im Krankenhaus bleiben. Oder: Ein anderes Kind starb im letzten Monat. Die Wehen wurden eingeleitet, und die Mutter musste ihr Kind tot gebären. Oder: Die Nabelschnur hatte sich um den Kopf gelegt. Das Kind wäre beinahe erstickt. Oder: Die Schmerzen waren so schlimm, dass die Mutter bewusstlos wurde. Oder: Die Blutung war so stark, dass die Mutter beinahe verblutet wäre. Oder. Oder. Oder.
Ich besuche meine Kolleginnen im Büro.
Andi, wie schön, dass du uns besuchen kommst.
Sie umarmen mich und gehen dann wieder ihrer Wege.
Ich stehe bei Rita im Büro. Mein Schreibtisch ist leer. Auf dem Besprechungstisch liegen die Entwürfe für meine Kunden. Kalte Farben, ein hässlicher Schriftzug, der nicht zu den Bildern passt. Einfallslos.
Habt ihr das Design geändert, frage ich.
Die haben sich eine Veränderung gewünscht.
Das Telefon läutet. Dann die Türklingel. Immer läuft jemand um mich herum. Ich stehe im Weg.
Tut mir leid, Andi, du hast dir einen schlechten Tag ausgesucht.
Ich streiche das Kinderzimmer neu. Die gelbe Farbe gefällt mir nicht mehr. Ich streiche es blau, das tiefste Blau, das ich finden konnte: ozeanblau. Die Decke lasse ich weiß. Wie ein Aquarium sieht es aus. Ich male kleine Tiere an die Wand. Tagelang arbeite ich daran. Zeichne sie mit Bleistift vor und male sie in den schillerndsten Farben aus. Regenbogenfische und Seesterne, einen großen Oktopus und Fische in allen Formen und Farben. Seeanemonen, die durch das Zimmer wabern, und dazwischen orange-weiße Clownfische. Korallen, die wie Labyrinthe aussehen. Ich denke mir Tiere aus. Male Fische mit Tentakeln und Kugelfische mit Schmetterlingsflügeln. Von der Decke dringen Umrisse von Lichtstrahlen ins Wasser. Ich betrachte die Wände, streiche mit meiner Hand über die Flächen, als könnte ich die Tiere berühren. Hier hört man das Hämmern fast nicht, als würde das Meerwasser den Schall dämpfen. Ich lege mich in das Kinderbett, schalte die Lampe ein und sehe dabei zu, wie die Sterne durch das Zimmer kreisen.
Man sagt, das Meer hat eine Stimme. Wenn es still ist, hört man es singen.
Wir entscheiden uns für einen Namen. Er klingt in meinen Ohren. Wieder und wieder. Ich wiederhole den Namen, sage ihn vor mich her. Flüstere ihn. Sage ihn laut und bestimmt. Singe ihn. Schreie ihn. Immer wieder, bis er vollkommen ausgehöhlt ist und leer. Die Buchstaben schnarren auf meiner Zunge und zerfallen in ihre Einzelteile. Wie ein Skelett aus zu vielen Hoffnungen.
Als ich schon schlafe, legst du dich zu mir ins Bett. Du streichst meinen Körper entlang, verschwindest unter meinem Nachthemd. Deine Zunge arbeitet sich von meinem Bauch vor zu meinen Brustwarzen und umkreist sie. Langsam beginnst du, daran zu saugen, umfasst meinen Hintern, greifst bestimmt zwischen meine Beine. Nicht, sage ich, ich kann nicht.
Warum denn?
Nicht heute, lass gut sein.
Ich drehe mich zur Seite und höre deinen Atem. Du schnaufst, wälzt dich hin und her, aber du sagst nichts mehr. Als ich am Morgen aufwache, bist du schon in der Arbeit.
In unserer Wohnung hängen jetzt überall Bilder von uns. Sie zeigen uns als glückliches Paar. Wie wir uns anlächeln. Wie wir uns küssen. Wie wir am Strand liegen, die Sonne verschwindet hinter uns im Meer. Wie wir uns verändert haben. Sechzehn, achtzehn, siebenundzwanzig, dreißig, fünfunddreißig. Wir tanzen in einer Disco. Sitzen auf einem Moped. Stehen neben dem Gipfelkreuz. Tragen Faschingskostüme. Liegen in der Hängematte. Trinken Cocktails am Strand. Stehen vor dem Kolosseum, am Markusplatz, vor der Kathedrale in Florenz. Wir tauchen unter Wasser. Springen von einem Felsen ins Meer. Unsere Frisuren haben sich verändert. Unsere Kleidung. Du trägst jetzt keine T-Shirts von Punkbands mehr. Ich trage keine schwarze Kleidung und färbe meine Haare nicht mehr. Du hast eine Herrenfrisur, trägst Bart und Herrenhemden. Ernster sind wir geworden. Und in unseren Gesichtern sind die Jahre zu erkennen. Kleine Falten, wenn wir lachen, und Einkerbungen auf der Stirn. Mit den Jahren werden sie tiefer, bis sie nicht mehr verschwinden.
Die Wellen an der Wand bewegen sich. Langsam und gleichmäßig. Ich höre ein leises Rauschen. Es ist weit entfernt. Mit jedem Tag wird das Rauschen lauter, werden die Wellen mehr. Sie steigen auf und fallen ab.
Das Hämmern und Bohren beginnt frühmorgens. Es dröhnt in meinem Kopf, wenn ich aufwache. Die Schläge immer im selben Rhythmus, mit Pausen dazwischen. Gegenstände werden dann auf den Boden geworfen. Ein Hammer. Eine Zange. Eine Bohrmaschine. Manchmal hört es sich an, als würden sie das ganze Dach abtragen. Ich stehe auf. Setze mich mit einer Tasse Kaffee in die Küche. Es ist kaum auszuhalten. Der Schmerz zieht sich wie ein Messerstich von der Stirnhöhle über den Kopf hinunter zum Nacken, zum Rücken und endet im Becken. Dort ist der Schmerz dann am schlimmsten. In der Wohnung ist es kalt. Der Geruch von Plastik und frisch lackierten Möbeln ist immer noch da. Dazu kommt jetzt der Staub, der durch jede noch so kleine Ritze in die Wohnung dringt und sich über den Boden legt. Ich kann nicht malen, bin zu müde, um rauszugehen. Also lege ich mich wieder ins Bett und ziehe die Decke über den Kopf. Ein stechender Schmerz durchdringt meinen Unterleib, als ob etwas nicht in Ordnung wäre. Ob es noch lebt? Das sind nur die Senkwehen, sage ich mir. Jetzt bewegt es seinen Kopf Richtung Becken, jetzt bereitet es sich auf die Geburt vor.
Du bringst einen großen weißen Bär mit nach Hause. Er reicht mir bis zur Hüfte.
Ich musste ihn kaufen, sagst du, greif mal, wie flauschig er ist.
Ich stelle ihn in das Kinderzimmer. Immer wenn ich vorbeigehe, starrt er mich an.
Man sagt, am Meeresgrund verbergen sich riesige Gebirgslandschaften. Gewaltige Flusstäler, Schluchten und Höhlen. Als gäbe es dort noch eine andere Welt, von der wir nichts wissen.
Wenn du nach der Arbeit nach Hause kommst, gehst du zuerst nach oben zur Baustelle. Redest mit den Arbeitern oder machst was im Garten. Reißt das Unkraut aus, schneidest die Thujen zurecht. Manchmal gehst du mit Freunden ins Gasthaus oder zum Sport. Du nimmst jetzt Karatestunden, weil du einen Ausgleich brauchst. Der ganze Stress in der Arbeit, die Baustelle, das Kind.
Es ist gerade etwas viel, sagst du.
Das wird auch wieder vorbeigehen, sage ich.
Ich muss die Zeit nutzen, wenn das Kind einmal da ist, hab ich keine Zeit mehr dafür. Du kannst ja mitkommen, sagst du, wenn du dich mit Freunden triffst.
Geh ruhig ohne mich, ich kann mich kaum bewegen, kann nicht lange sitzen und nichts trinken. Ich bin keine gute Gesellschaft.
Und du bist sicher nicht böse?
Geh schon.
Na gut, sagst du und küsst meine Stirn, wir sehen uns später.
Ich lege mich vor den Fernseher, sehe mir die Nachrichten oder einen Film an. Ich wache erst dann wieder auf, wenn du nach Hause kommst.
Deine Mutter bringt Babysachen vorbei. Alte Sachen von Daniel und dir. Von ihrer Nichte, ihrer Cousine und anderen Bekannten. Sie hat alles wochenlang gesammelt und bringt es feierlich in die Wohnung. Sie geht in das Kinderzimmer und räumt die Schubladen voll. Eine Wolldecke. Eine Rassel. Strampelanzüge. Strumpfhosen und Schuhe. Jacken und Wintermützen. Sommerhosen. Pullover und T-Shirts. Die Schubladen sind so voll, dass man sie kaum öffnen kann. Im Kinderbett liegen jetzt neben dem Eisbär noch andere Tiere. Ein Drache. Ein Tiger. Ein Hai.
Ich bewege mich in winzigen Kreisen. Vom Schlafzimmer in die Küche ins Wohnzimmer auf den Balkon ins Badezimmer in die Küche ins Treppenhaus zum Auto zum Supermarkt und wieder zurück. Jedes Mal, wenn ich die Serpentinen entlangfahre, habe ich das Gefühl, die Felsen hängen tiefer und schwerer als letztes Mal, als würden sie sich jeden Moment lösen und auf die Straße stürzen.
Sobald du ein Kind hast, schnappt die Falle zu, und du sitzt fest. Das sagte Marlene immer, davon war sie überzeugt. Jetzt sagt sie, loslassen muss man, Wege verbauen muss man, man kann nur einen Weg gehen. Entscheidungen treffen muss man. Realistin werden muss man. Wünsche und Träume ziehen lassen muss man. Das ist Älterwerden. Es gefällt mir selbst nicht. Aber so ist es.
Ich versuche, mich an das Wort Mutter zu gewöhnen. Es klingt fremd, wenn ich es ausspreche. Ich sehe hysterische Mütter vor mir. Mütter, die schreien, und Mütter, die schlagen. Lächelnde Mütter aus Werbungen, die ihren Kindern die Flecken aus den Kleidern waschen. Mütter, die am Bügelbrett stehen und die Hemden ihrer Männer bügeln, die das dampfende Essen auf den Tisch stellen, während die ganze Familie am Tisch sitzt. An Mütter, die keine Namen mehr haben, weil selbst ihre Männer sie nennen wie ihre Kinder. Ich denke an Großmütter in geblümten Schürzen, die Apfelstrudel backen und Gulasch kochen. An diesen Geruch, den all diese Frauen in die Häuser bringen. An Mütter, die einfach verschwinden und alles hinter sich lassen. Aber mich sehe ich nicht in diesem Wort. Wenn ich es oft hintereinander ausspreche, klingt es wie ein Motor, der nicht anspringt.
Man sagt, das Meer hat ein Gedächtnis. Alles hinterlässt seine Spuren am Meeresgrund.
Am Telefon plötzlich die Stimme meines Vaters. Ich habe seine Nummer nicht erkannt und abgehoben. Dass ich schwanger bin, hat sich schon lange herumgesprochen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich meldet. Die Vergangenheit ruhen lassen, sagt er, wir sind doch eine Familie.
Mein Vater steht neben dem Auto und wartet auf mich. Mein Hals schnürt sich zu, als ich ihn sehe, in meiner Brust ein Druck. Ich kann ihm fast nicht in die Augen sehen. Er ist alt geworden und mager. Die Falten tiefer, die Haare grau und spärlich. Er ist anders gekleidet. Nachlässiger. Seine Haltung hat sich verändert. Irgendwie gebückter. In seinen Augen sammelt sich Wasser, aber er kann sich zurückhalten und umarmt mich, als wären wir all die Jahre über Vater und Tochter gewesen. Ich löse mich sofort wieder, sein Körper ist mir unangenehm. Er hält mich an der Hand, wie man ein Kind an der Hand hält. Schau dich an, sagt er, du bist eine erwachsene Frau.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich könnte sagen: Gut schaust du aus, oder: Wie geht es dir. Oder: Was machst du jetzt. Ein schönes Auto hast du. Stattdessen stehen wir uns schweigend gegenüber. Vor mir ein fremder Mann. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.
Am Morgen stehe ich mit dir auf, sobald dein Wecker läutet. Ich fülle Kaffeepulver in die Maschine und stelle sie auf den Herd. Du schneidest Brot, stellst Marmelade und Butter auf den Tisch. Ich schalte das Radio ein. Du holst die Zeitung aus dem Briefkasten. Wir rühren in unserem Kaffee. Wir schmieren unsere Brote. Wir sagen: Gibst du mir mal die Butter. Oder: Wann kommst du heute nach Hause. Im Radio singt eine helle Stimme von irgendwelchen Sonnenaufgängen. Dann ziehst du dich an, fährst ins Büro. Ich fahre einkaufen, räume die Wohnung auf, gieße die Blumen im Garten. Zu Mittag rufst du mich an. Wie geht es dir? Was machst du? Du sitzt mit deinen Kollegen beim Mittagessen. Im Hintergrund höre ich Stimmen und Gelächter. Dann dauert es noch viele Stunden, bis du nach Hause kommst.
Mein Vater ruft jetzt wieder an. Vielleicht will er etwas nachholen. Irgendetwas gutmachen. Bei seinem Enkelkind alles anders machen. Ich betrachte das Telefon, sein Name, der aufleuchtet. Ich antworte nicht. Ich lösche seine Nummer. Ruf mich zurück, schreibt er.
Am Abend sitzen wir dann wieder in der Küche. Wir kochen, essen, räumen den Tisch ab. Zwischen uns wandern immer dieselben Sätze hin und her. Du erzählst von deinem Tag im Büro. Ich sage: Nimm es dir nicht so zu Herzen. Ich überlege, worüber wir sonst sprechen könnten. Mir fällt nur unser Kind ein. Unser Haus. Vielleicht noch das Auto oder die Versicherung, Telefonrechnungen, Einkaufslisten. Die letzten Monate haben wir uns von einer Angelegenheit zur nächsten geangelt. Also höre ich dir zu, und dann sage ich etwas über das Kind. Dass sich etwas verändert hat, die Art der Bewegungen. Dass ich irgendetwas für die Wohnung gekauft habe. Neue Blumen zum Beispiel. Und dann legen wir uns vor den Fernseher. Der Fernseher ist größer als früher, das Sofa bequemer, das Wohnzimmer geräumiger, die Stimme des Nachrichtensprechers dringt aus einer Surround-Anlage zu uns und umgibt uns von allen Seiten. Nur wir sind die Gleichen geblieben. Kein Möbelstück, kein Haus, kein Kind wird das ändern. Wir liegen schweigend nebeneinander. Ich sehe dem Nachrichtensprecher dabei zu, wie sich seine Lippen bewegen. Wie er von einem Wandel spricht und von einem Rechtsruck Europas. Von vereitelten Anschlägen und Neuwahlen. Von der Entdeckung neuer Meerestiere, einem Fisch ohne Gesicht. Und beim Wetterbericht schlafe ich ein.
Im Traum sehe ich unser Kind. Ich halte es im Arm. Es wächst so schnell, dass ich es nicht mehr tragen kann. Es fällt mir aus dem Arm. Es steht vor mir. Es reicht mir schon bis zur Hüfte. Es wird immer größer. Ich kann beim Wachsen zusehen. Bald ist es größer als ich und wächst immer weiter empor. Wie ein Baum. Es streckt seine Arme wie Äste über mich. An den Fingern wachsen kleine grüne Blätter.
Die Tage werden weniger. Es ist wie ein Countdown. Zwölf Tage, elf Tage, zehn Tage. Je näher der Tag rückt, desto häufiger rufen sie mich an. Marlene und Sandra, Anna und Alex. Deine Mutter kommt mehrmals am Tag zu mir, um zu sehen, was ich mache, wie es mir geht. Mittags rufst du mich an, Punkt halb eins läutet mein Telefon. Rund um die Uhr werde ich betreut und versorgt, als würde bald weiß Gott was passieren. Hab keine Angst, sagt deine Mutter, hör nicht auf diese Geschichten.
Zehn Tage. Ich spüre einen starken Druck in meinem Bauch. Ich rufe dich an. Keine zehn Minuten später bist du zu Hause und fährst mich ins Krankenhaus. Du bist nervös während der Fahrt. Deine Hände zittern. Sie kommen zu früh, sagt die Hebamme, fahren Sie wieder nach Hause. Also fahren wir wieder zurück. In der Nacht machen wir beide kein Auge zu.
Neun Tage. Deine Mutter klopft an die Tür. Willst du zum Essen kommen? Sie hat mein Lieblingsessen gekocht und einen Kuchen gebacken. Das ganze Haus duftet nach Kuchenteig. Während des Essens rufst du mich an. Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Was machst du? Du bist erleichtert, dass deine Mutter sich um mich kümmert. Am Nachmittag schlafe ich mit der Stimme der bezaubernden Jeannie vor dem Fernseher ein.
Du kommst mit einer riesigen Schokoladentorte nach Hause.
Acht Tage. Die ersten Blüten treiben aus den Knospen des Kirschbaums. Es wird Frühling. Ein leichter Wind weht durch die Äste. Das Summen der Bienen. Der Geruch der Kirschblüten. Ich sitze mit deiner Mutter im Garten. Wir spielen Karten. Den ganzen Nachmittag lang.
Sieben Tage. Ich stelle mir vor, wie wir im Kinderzimmer sitzen. Ich zeige mit meinem Finger auf die Wand. Ich sage, das ist ein Oktopus. Und das ist ein Seestern. Das ist ein Kugelfisch, und das ist das Meer, woraus alles entstanden ist. Auch du bist in meinem Bauch geschwommen wie ein kleiner Fisch.
Sechs Tage. Am Telefon die Stimme von Marlene. Ihre Stimme heiser. Sie lacht und weint gleichzeitig. Eine Mischung aus Verzweiflung und Freude. Sie ist auch schwanger. Jetzt ist es vorbei mit den Fernreisen, sagt sie, jetzt können wir gemeinsam nach Jesolo fahren und Sandburgen am Strand bauen.
Fünf Tage. Im Traum liege ich leblos im Wasser, wie eine Qualle, die sich an der Oberfläche treiben lässt. Die Wellen wiegen mich hin und her. Über mir fliegen die Möwen in Scharen Richtung Süden.
Vier Tage. Eine Nachricht leuchtet auf meinem Telefon auf. Es ist schon wieder die Nummer meines Vaters. Ist es schon da?
Drei Tage. Ich stehe vor dem Spiegel, aber ich kann nichts erkennen. Nur Schatten. Umrisse. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Dann ist es wieder da: mein Gesicht, klar und scharf.
Zwei Tage. Ich lege mich auf die Terrasse. Der Boden ist kalt, aber die Sonne wärmt mein Gesicht. Ich stelle mir vor, wie mein Vater das Kind in den Arm nimmt. Sie passen gut zusammen. Am Himmel ziehen die Wolken vorüber. Brüchige Eisschollen, die immer weiter auseinanderklaffen, als befände sich das Meer über mir.
Ein Tag. Ich spüre nichts. Nicht mal mich selbst, als könnte es noch ewig so weitergehen mit uns. Dieser kleine Fisch in mir, der dick und fett in meiner Höhle hängt, und ich ein Fischkutter, der ziellos durch die Gegend fährt.
Man sagt, das Meer lässt sich nicht zähmen, es bäumt sich auf und flacht wieder ab. Und eines Tages holt es sich alles zurück.
Ich höre auf zu zählen.
Am Sonntag sitzen wir dann bei deiner Mutter in der Küche. Es riecht nach Apfelstrudel und Preiselbeermarmelade. Du hilfst ihr beim Kochen. Schneidest Kartoffeln. Lässt die Schnitzel ins zischende Öl gleiten. Aus dem Radio Schlagermusik. Das Klirren der Gläser. Das Klappern der Teller. Die ganze Familie ist beisammen. Wir haben noch immer gut Platz. Auf der Sitzbank ist ein Platz frei und ein Stuhl steht unbenutzt in der Ecke. Dort werden irgendwann unsere Kinder sitzen. Um mich herum bewegen sich Hände, die zu den Tellern und Schüsseln greifen. Dein Vater schenkt Wein in die Gläser und redet wie ein Wasserfall. Man merkt ihm an, wie sehr er sich freut, dass wir alle hier sind. Mit Daniel plant er das neue Haus. Sie haben sich ein Grundstück gekauft und fangen schon bald an zu bauen. Das Kinderzimmer soll unbedingt ich gestalten. Anna ist jetzt auch endlich schwanger. Ich empfehle ihr meine Hebamme und das Krankenhaus, in dem ich entbinde, erkläre ihr, was bei welcher Untersuchung gemacht wird. Sie zeigen die Ultraschallbilder. Den Grundriss des Hauses. Wir freuen uns füreinander. Wir lachen viel. Das ganze Haus ist voller Stimmen.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Das Bett neben mir ist leer. Ich erschrecke, als ich aufstehen will. Der ganze Boden ist voller Wasser. Ich schalte das Licht an. Es tropft von den Wänden, fließt langsam durch die Ritzen der Türen. In der Küche und im Bad dasselbe. Von allen Seiten tropft und rauscht es. Georg, rufe ich. Ich wate schon bis zu den Knien im Wasser. Der Strom fällt aus. Ich laufe zum Balkon, doch die Tür geht nicht auf. Die Wände schaukeln. Tiefe Risse ziehen sich hinauf bis zur Decke. Die Möbel bewegen sich. Die Bücher, die Fotos, meine Bilder fallen ins Wasser. Das Papier wellt sich. Die Farben laufen aus. Unsere Gesichter verzerren sich und lösen sich allmählich auf. Ich verliere den Halt, spüre den Boden nicht mehr. Die Kinderwiege treibt an mir vorbei. Die Decke stürzt ein. Erika? Ich verschlucke mich, das Wasser ist salzig und brennt in meinem Hals. Alles, was wir monatelang aufgebaut haben, stürzt in sich zusammen. Der schöne Holztisch. Der Fernseher. Die Barhocker. Das Sofa. Wo sind alle hin? Ich kämpfe gegen den Sog und schwimme nach oben. Das Wasser schlägt mir ins Gesicht. Und plötzlich steht Georg da. Er ruft mir etwas zu. Hilfe, rufe ich, doch aus meinem Mund kommt nur ein Gurgeln aus Salzwasser. Ich halte mich an der Küchenzeile fest, die Strömung wird stärker. Die Wellen bäumen sich auf, das Wasser schäumt, immer höher werden sie und zwingen mich nach unten. Bis ich aufgebe, loslasse. Bis ich mich fallen lasse und sinke. Tiefer und tiefer. Es ist auf einmal ganz still. Das Rauschen ist verschwunden. Nur das dumpfe Aufschlagen der Möbel, die in den Abgrund sinken, ist zu hören. Alles liegt in Trümmern vor mir. Wie ein Geisterhaus, zerstört und verlassen. Über mir wippen die Tischbeine und Stühle hin und her. Ab und an fällt ein Buch an mir vorbei oder ein Teller, ein Wecker, eine Fernbedienung. Ich sinke immer tiefer, bewege mich durch die leere Wohnung seiner Eltern. Das Bett steht verlassen. Die Decken treiben irgendwo in der Küche. Und dann höre ich wieder dieses Lied: I, I wish I could swim. Like the dolphins. Like dolphins can swim. Ein Schwarm kleiner Fische taucht vor mir auf. Es müssen Hunderte sein. Ihre Schwanzflossen leuchten golden im spärlichen Licht des Mondes. Ein Seil fällt neben mir in die Tiefe. Georg muss sterben vor Angst. Ich rufe nach ihm. Aus meinem Mund schlängeln sich kleine stumme Luftblasen an die Oberfläche. Die Fische haben einen Kreis um mich gebildet. Auf ihren Körpern sind ganz kleine Linien zu erkennen, die sich bei jeder Bewegung zu neuen Mustern formen. Sie kommen näher und sehen mich an, als würden sie nur noch auf mich warten.
Es sieht genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe.