Helen saß auf der hölzernen Veranda eines verlassenen Hauses, mitten im Permafrostgebiet, neben sich eine Thermoskanne voll Kaffee. Die Wiese um sie herum war weißlich und tropfend, die Gräser schwankten, wahrscheinlich war das Gebiet einst Weidefläche gewesen, jetzt aber wirkte es außerirdisch und uneben – es bestand aus unzähligen Hügeln, die aus ringförmigen, fratzenhaften Vertiefungen herausragten. Der auftauende Boden sank allmählich ab und verformte die Fläche. Das Licht war hell und säuerlich, alles schwebte im wüstengelben Universum. In der Ferne konnte sie den Saum eines Kiefernwaldes ausmachen. Helen war bekleidet mit einem weißen Unterhemd, einer beigen Stoffhose und weißen Turnschuhen. Obwohl es früh war, erspürte sie bereits die Schwüle: die zunehmende Aufladung, Trockengewitter, Brände womöglich. Es war nicht ihre erste Reise in den Permafrost und sie hatte sich an das kontraintuitive und der eigenen Erwartung gegenüber verzerrte Ambiente gewöhnt.
Telekinese bedeutete bei Helen, dass sie in geringem Umfang weltverändernd agieren konnte. Der auftauende Boden ließ sie traurig und ruhelos werden; das Gefühl des Versinkens befiel sie immerzu. Deshalb begleitete sie befreundete Archäologïnnen, Geologïnnen und Physikerïnnen auf wissenschaftliche Expeditionen in den Permafrost, wo sie malte und Bewegungen umkehrte. Sie trank Kaffee im wuchernden Vormittag. Es windete kaum. Der Kaffee war schaler, im Forschungslager aufgebrühter Kaffee, davon war nicht viel zu erwarten. Während sie trank, fragte sich Helen, ob sie mit vierunddreißig Jahren endlich chic oder apart geworden war. Hatte sie ihr prekäres Aufwachsen abgeschüttelt in diesem unsinnigen Erstaunen, das jedes Mal wieder durch den Geschmack des schalen Kaffees ausgelöst wurde? Sie verschraubte die Thermoskanne und stellte sie auf den schiefen Dielen ab, neben ihrem Block, neben ihrem Rucksack. Die Sonne hatte den Himmel unterwandert. Nur schwer war für Helen auszumachen, woher das Licht letztlich kam. Die vielen fast nachtlosen Tage hatten sich offenbar in ihren Sehmuskeln abgelagert, die zu zucken schienen, oder zu vibrieren; innerlich vibrierten ihre Augenhöhlen, ihre dröhnenden inneren Augenhöhlen, andauernd tropfte sie sich Augentropfen in ihre Augen, Plasmatropfen, Placebotropfen, Schmelzwasser, um ihre schwindenden Augenhöhlen zu befestigen, um sie nachwachsen zu lassen, ihre Augenhöhlen, die sich immer tiefer in ihren Kopf zurückziehen wollten, die ausfransten. Sehr apart, dachte sie. Sie streckte ihren linken Arm aus. Sie richtete ihre Handfläche auf den Boden. Ein paar Pollen schwebten plötzlich glitzernd aufwärts, angezogen, aufgescheucht. Helen ließ das flüssig gewordene Wasser, das unter ihr in der Erde waberte, erneut gefrieren. Das war im engeren Sinne nicht herausfordernd für sie, kostete aber Energie. Mit der Zeit begann ihr Kopf innerlich zu schrillen. Helen erhob sich und lief über die weiche Wiese, die linke Handfläche weiterhin nach unten gerichtet, aussendend. Das Schrillen zerfurchte ihr Hirn, nahm Synapsenknoten auseinander, spaltete sie auf; nur noch gehalten von ihrer zarten, lichtgebräunten Haut ließ Helen das Wasser weiter gefrieren, immer feiner zerspalten in sich selbst. Als sie das Schrillen nicht mehr aushalten konnte, verkrampfte sie die Finger zu einer Faust, wodurch ihr Energiefeld wieder deckungsgleich mit ihr selbst wurde, und setzte sich auf die Veranda, erschöpft schnaufend.
Sie holte eine kleine durchsichtige Plastikpackung aus ihrem Rucksack; darin befanden sich zwei psychedelisch aussehende, schaumige Ohropaxstöpsel. Es knisterte plastikmäßig, obwohl sonst nur Zikaden zu hören waren. Oder Wind war zu hören, wenn Wind wirklich hörbar ist. Die Ohropaxstöpsel hatte sie einmal bei einer Performance geschenkt bekommen. Sie wusste, dass sie damit nichts gegen das Schrillen in ihrem Kopf würde ausrichten können, weshalb sie auf den Stöpseln zweckentfremdet und entrückt rumdrückte. Dabei fragte sie sich, ob sich die Stöpsel an ihre Berührungen erinnern würden. Wie Erinnerungsschaum beispielsweise.
Helen malte mit Tusche, und ihre Bilder evozierten bei Betrachterïnnen oft das Gefühl, als würden sie einsinken, eben so, wie man in Erinnerungsschaum einsinkt; Erinnerungsschaum, der vertraut rumort, während man sinkt, der suggeriert, man wäre schon einmal eingesunken. Als würde man auf einem Planeten aus Erinnerungsschaum leben, weil Erinnerungsschaum alles ist, was man noch fühlen kann. Erinnerungsschaum, in dem man bereits vorhanden ist wie Kornkreise.
Helen träumte wiederkehrende Träume, vor allem im Permafrost. Barfuß wandelte sie in leeren Schwimmbecken umher; tiefe Schwimmbecken, deren Umgebungen von da, wo sie sich befand, nicht begreifbar waren. In den Schwimmbecken war es schummrig, ohne dass Lichtquellen auszumachen gewesen wären. Aber um die Schwimmbecken herum war es finster. Die Schwimmbecken waren gefliest, poolblau gefliest, und an einigen Stellen waren Pfützen zurückgeblieben. Meistens hatte Helen den Eindruck, dass das Wasser gerade erst abgelaufen sei. Die Pfützen leuchteten, ohne dass sie spiegelten. Für Helen gab es keine Möglichkeit, den Schwimmbecken ihrer Träume zu entkommen. Das heißt, es gab weder Leitern noch Trittstufen. Sie tappte langsam, fast grübelnd, barfuß durch die Pfützen. Womöglich roch sie Chlor, das war nicht eindeutig. Meistens waren es rechteckige, strikte, langgezogene Schwimmbecken. Nur selten fand sie sich in ausufernden, geschwungenen Poollandschaften wieder. An sich waren Helens wiederkehrende Träume nicht beunruhigend. Sie wusste, dass sie immer wieder in diese leeren, tiefen, schimmernden Schwimmbecken zurückkehren musste. Das nahm sie hin. Okay.
Jetzt schmiss sie ihr Zeug in den Rucksack und ging um das schiefe Haus, mit ihren skeptischen Bewegungen. Die Siedlung war um einige Kilometer versetzt worden; die neuen Häuser waren auf zehn Meter langen Stelzen errichtet, um dem auftauenden Boden standhalten zu können. Helen betrachtete das zurückgelassene Dorf: Die Gebäude standen krumm oder waren eingestürzt, in sich zusammengesackt. Ein paar verrostete Autos waren fast vollständig versunken; Schaukelgestelle, Plastikpalmen, Rankgitter, Müll. Helen kletterte auf ihr blaues Elektroquad und fuhr zurück zum Forschungslager.
Naturgemäß war es bedrohlich, dass der Permafrost taute. Aber für die Archäologïnnen war dieses verzweifelte, unzumutbare Setting auch eine Fundgrube für frühergeschichtliche Hinterlassenschaften. Fossilien, Knochen, Werkzeuge, Bakterien, Samen, Gase etc.: Alles Mögliche war im Boden verschlossen gewesen und konnte jetzt nach und nach entdeckt werden. Das Forschungslager bestand aus mehreren blauen Containern. Einige wurden als Wohnkabinen genutzt, die meisten beherbergten allerdings Labore, Kommandozentralen, Büros. Helen parkte ihr Quad und lief unschlüssig zwischen den Containern umher. Sie erhielt eine Nachricht von Lenell, der ihr schrieb, dass er gerade am Hafen von Egio sitze und mittagesse. Sie vermisste ihn. Immer, wenn sie Expeditionen in den Permafrost begleitete, fand sie es beklemmend, Lenell zurückzulassen beziehungsweise von ihm fortzugehen. Sie schickte ihm ein Foto der hellen Steppe, die sich um das Forschungslager ausbreitete. Sie schrieb ihm, dass sie ihn vermisse. Wenn sie gerade einen Mangel empfand, dann war dieser Mangel Lenell. Beziehungsweise: Der Mangel war die Abwesenheit von Lenell. Anschließend betrat sie den Container, den sie sich mit Torben und Manja teilte, und schüttete den übrig gebliebenen Kaffee ins Waschbecken. Helen säuberte die Thermoskanne und stellte sie kopfüber aufs Emaille. Eigentlich war es ihr Plan gewesen, in die nächstgrößere Stadt zu fahren, um ins Kino zu gehen, aber jetzt fand sie die Vorstellung fast furchterregend oder zumindest übermotiviert. Sie trottete zum Wasserspender im Gemeinschaftscontainer; sie mochte es, dass er eine Eiswürfelfunktion hatte. Helen ließ Eiswürfel in ihr Glas fallen. Dann betätigte sie den Hebel und füllte Wasser nach. Bislang war sie niemandem begegnet. Fast die ganze Crew war frühmorgens aufgebrochen, um einen See aus Schmelzwasser zu untersuchen; Proben zu nehmen, Kiesbetten zu scannen, 3-D-Aufnahmen zu machen. Helen setzte sich in einen Liegestuhl und trank ihr Wasser in kurzen, beunruhigten Schlucken. Sie döste eine Weile. Umrisse eines Schwimmbeckens materialisierten sich zunehmend. Dann wachte Helen auf, weil ein Reiherschwarm über das Forschungslager flog, krähend, schattenwerfend. Sie blinzelte in den hellen Himmel, griff aber gleich in ihre Hosentasche, um die Augentropfen hervorzuziehen. Sie zog sich die Unterlider abwechselnd runter und träufelte sich jeweils ein paar Tropfen in die Augen. Kurz achtete sie darauf, wie sich die Flüssigkeit auf ihrer Bindehaut ausbreitete oder wie die Flüssigkeit in ihre Bindehaut eindrang. Dabei verspürte sie Erleichterung. Gleichzeitig hätte sie direkt losweinen können. Allermeistens wohnte ihr eine paradoxe Anspannung inne. Ihre Rückenmuskulatur war chronisch verkrampft. Sie hatte schon Bewegungstherapien gemacht, Kampfsport, Hanföl ins Müsli gemischt, Wärmepflaster geklebt etc. Sie fürchtete sich davor, zu verpanzern. Sie versuchte, sich diesem Impuls zu widersetzen, aber es funktionierte nicht. Vornübergebeugt drückte sie sich einen Pickel am Knöchel aus. Kurz schaute sie auf, ob sie beobachtet wurde. Sie schmierte den Eiter ins Gras, beides hatte dieselbe Farbe. Schließlich döste sie wieder weg. Schwimmbecken.
Später holte sie sich Manjas Metalldetektor und spazierte schneckenhausförmig ums Forschungslabor. Das seltene Piepen beruhigte sie. Es passierte kaum, dass sie fündig wurde; und wenn, dann spürte sie verrostete Münzen oder Nägel auf.
Helen ging zum Snackautomaten, wählte eine Fertigsuppe (Tomate), hielt ihre EC-Karte gegen den Sensor und schaute zu, wie die Tüte hinter dem Plexiglas von der silbernen Spirale zur Kante gedrückt wurde, schließlich kippte und fiel. Nachdem Helen sich die Tüte gegriffen hatte, trottete sie zurück zu ihrem Container und kochte Wasser. Sie füllte das Suppenpulver in eine weiße Schale und übergoss es. Helen wartete. Nach drei Minuten rührte sie um und sah zu, wie sich das verklumpte, rostrote Pulver strudelnd auflöste. Es roch geradezu giftig, geschmacksverstärkerisch, verräterisch, warm, köstlich. Quasi mit allem, was sie tat, kollaborierte sie mit dem Gegebenen. Warum widmete sie ihr Leben nicht unumwunden, ausschließlich der Wiedergefrierung des Permafrostes, beziehungsweise warum arbeitete sie nicht permanent mit ihren telekinetischen Kräften bis zur Erschöpfung gegen das Gegebene an? Warum malte sie? Niemand brauchte Bilder. Warum hatte sie ein Privatleben? Niemand brauchte Privatleben. Das kam ihr vor wie Praktiken, die ins Elend führen würden. Niemand brauchte mehr zu leben wie ein Vorschub, vorgeschobenes Existieren, wo stattdessen ein anderes, zielgerichtetes Existieren notwendig gewesen wäre. Aber alle lebten vorgeschoben, weil sich niemand durchringen konnte, den Notwendigkeiten nachzukommen: Alle löffelten lösliche Tütensuppen, alle inhalierten Schadstoffe, alle verseuchten sich durch Nichtanteilnahme, alle übten sich in andauernder Ignoranz. Helen aß weiter und ihre Energie bildete sich neu, bildete sich nach, ihr Körper reorganisierte sich selbst. Es brizzelte im Hirn, von innen nach außen, allmählich bis zur Übersättigung. Mit tomatigem Wärmegefühl im Magen setzte sich Helen vor den Container und malte.
Am Abend wurde es etwas mulmig für Helen. Sie saß mit Torben, Manja und anderen Wissenschaftlerïnnen in der Kantine. Ungewöhnlicherweise hatte sie Daiquiri mit zerhacktem Eis getrunken, weswegen sie flirrig war, erhitzt an den Wangen, und relativ redselig, für ihre Verhältnisse sogar laut. Sie debattierte mit Torben gerade über Erinnerungen an ihre Studienzeit, es ging um eine Fertiggewürzmischung, die im Freundeskreis viel genutzt worden war, da sagte ein Geophysiker, der Mateo hieß, er habe heute mit der Drohne topografische Wärmeprofile erstellt, wobei herausgekommen sei, dass es ein paar Regionen im näheren Umfeld gebe, in denen der Permafrost kreisförmig nachgefroren sei, absolut unerklärlich. Helen unterbrach ihren parallel geführten Redebeitrag in Torbens Richtung und schluckte. Ihre Wangen wurden noch wärmer, eigentlich nicht noch wärmer, sondern sirrend. Ihre Wangen verdampften von ihrem Kopf weg. Halbautomatisch umfasste sie ihr Glas, und das zurückgebliebene zerhackte Eis schmolz innerhalb von Sekunden. Helen merkte, dass Torben sie fragend anschaute. Sie merkte, dass das Eis geschmolzen war, und behielt ihre Hand um das Glas, des Sichtschutzes halber. Sie atmete tief in ihre Lungen. Dann noch mal. Das Glas durfte nicht vorbehaltlos zerspringen. Helen konzentrierte sich darauf, runterzukühlen. Es klappte. Es ging immer noch darum, wer damals mit der Fertiggewürzmischung begonnen hatte. Helen sagte, dass es vielleicht sogar Zehro gewesen sei, ihre Jugendliebe, der im Supermarkt kurzerhand dafür plädiert habe, die Fertiggewürzmischung zu kaufen, weil die quasi jedes Essen verbessere. Womöglich habe sie sich damals einfach nicht gewehrt, meinte Helen, womöglich habe sich die Nutzung später verselbstständigt. Torben meinte erzürnt, dass Helen die Fertiggewürzmischung aufs Ärgste propagiert habe und dass es feige sei, die Schuld auf Zehro zu schieben, nur weil der sich jetzt nicht dazu positionieren könne. Manja lachte. Torben schlug vor, Zehro sofort anzurufen, aber Helen untersagte es ihm. Dann wurde verhandelt, wer die Fertiggewürzmischung wann zum letzten Mal verwendet habe, und dabei stellte sich glücklicherweise heraus, dass Mateo von der Fertiggewürzmischung besessen war. So ließ er ab, von den erneut gefrorenen Regionen zu reden, und erzählte, welche Gerichte er mit der Fertiggewürzmischung am liebsten verfeinern würde. Quasi alles, wie sich herausstellte, außer Pfannkuchen und Tiramisu.
Leicht dröhnend wachte Helen in ihrem Gehirn auf. Sie wand sich im schmalen Bett, wodurch das Dröhnen zunahm. Die Lasur der hellen Holzleisten schimmerte. Ihre Kabine war winzig. Helen hielt ihre Hand gegen den Touchknopf, und die Lichtpanels an der Decke begannen zu leuchten. Wie viel Uhr war es nicht?, fragte sich Helen. Schwer zu sagen, dachte sie, letztlich konnte es fast jede Uhrzeit nicht sein. Der Container hatte nur Fenster im Wohnsegment. Ihr Smartphone war ausgeschaltet. Helen tippte, dass es nicht 23:09 Uhr war; sie tippte, dass es nicht 4:42 Uhr war. Nach Snoozen, Streckübungen, Zähneputzen etc. stellte sich heraus, dass es 6:04 Uhr war. Helen wollte keinen Kaffee in der Kantine holen. Sie suchte Kram zusammen (Malutensilien, Handtuch, Bücher, Geld) und befüllte die Gepäckbox ihres Quads. Dann fuhr sie los. Über den Kiefern lag weißes Fernschimmern; Morgenglühen, das die Helligkeit beließ, aber die Tiefenwahrnehmung tilgte. Die Steppengräser waren bleich, sie sahen gleichzeitig entrückt und wuchernd aus, alles war ohne Schatten, alles schwankte. Helen hatte seit einigen Tagen die Vermutung, dass sie die Sonne nicht mehr sehen oder verorten konnte. Tageslicht, dachte sie verwundert, was soll das schon sein. In der nächsten Stadt hielt sie vor einem Café und setzte sich an einen kleinen runden Metalltisch direkt an der Straße. Sie bestellte sich zwei Espresso Macchiatos und zwei Croissants. Weil sie müde war und weil sie dann an Lenell denken konnte – Lenell, der über den zu erwartenden Eruptionen depressiv geworden war, den sie liebte, der lustig und verzweifelt versuchte, sich selbst der Depression zu entziehen; die zu erwartenden Eruptionen, Erdbeben, Zerstörung, das waren Möglichkeiten, aber auch schwachsinnige Erklärungsversuche, um die Selbstmedikation mit suchterzeugenden Downern zu beschönigen, die Lenell in, wie er vorgab, unregelmäßigen Abständen vollzog, vielleicht gerade wieder, um seine Bauchschmerzen nicht merken zu müssen, um meditieren zu können, um sich selbst zu beruhigen. Und dieses Wort, also Depression, beschönigte wiederum ein letztlich historisch gewachsenes Mischmasch aus Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit, Flucht, Jugendamt, Polizei, Trauer, Beschuldigung, Panik, Panikattacken, Therapie, Versöhnungswillen, erneuter Ablehnung, erneuter Abwendung, Abkopplungssehnsucht, Vereinigungssehnsucht, Hormonumstellung im Körper, mehr Therapie, Antidepressiva, Klinikaufenthalt, Wellen der Müdigkeit, Wellen der Euphorie etc. Das alles war quasi jenseits des gemeinsamen Lebens bei Lenell passiert, bei ihm unteilbar für sich allein. Und egal, welche Freuden geschahen, welche Fügungen im Umgebungsbiotop, darin, inmitten der Wahrnehmung, tanzte dieser blinde Fleck herum, dessen Existenz gleichzeitig bewiesen und permanent angezweifelt werden konnte, der eingekreist und vermutet werden konnte, aber nicht ausgemacht; dieser blinde Fleck war tatsächlich ein Unheil. Helen dachte, dass es ihr mit der Sonne genauso ging, außer natürlich, dass die Sonne kein Unheil war, sondern ein verglühendes, brennendes, explodierendes Gasreservoir, das sich aus unerklärlichen Gründen ihrer Wahrnehmung entzog, eine Ausfallerscheinung, ein partielles Vergessen, der Verlust eines Kerns. Und bei Lenell war das, wahrscheinlich schleichender, ähnlich gewesen, dass er keinen Zugriff mehr auf einen Kern hatte, oder dass von dem Kern aus eine Auflösung passierte, ein Ausfransen ins Fleisch, ein Verschmelzen der depressiven Störung mit allen Denkbereichen, mit allen Bewegungsbereichen, mit allen Sinnesbereichen. Und obwohl Lenell im oberflächlichen Betrachten attraktiv aussah, mit dunklen, neugierigen Augen und gestrecktem Brustbein, obwohl er Besonnenheit und Unaufgeregtheit ausstrahlte, musste er im tiefsten Innern aushalten, wie er zerfranste, oder wie er die Fähigkeit verlor, erwachsene Emotionalentscheidungen zu treffen, wie er es sich wünschte, aber nicht konnte, wie er es wieder verlernte. Aber er vergaß ohne Kompensation, wie er das Zerfransen erfuhr, wie er deutlich kapierte, dass er schleichend kaputtging. Wenn Helen diese Gedanken dermaßen drastisch dachte, empfand sie Verlorenheit, Ausweglosigkeit, Verunglimpflichung. Einerseits liebte sie an Lenell die Zartheit, die gewissermaßen eine krankhafte, zerfransende Zartheit war, andererseits musste sie aufpassen, sich nicht mitreißen zu lassen, und ihre eigenen Logiken für sich beanspruchen, zwischen Emphase und einer nichtkranken Zartheit zu wechseln, was bedeutete, teilweise zurückzubleiben hinter der Auflösung oder der Aufgelöstheit, darauf zu beharren, dass nicht ihr Körper zerfranste, sondern seiner. Das war schmerzhaft. Es war Passivität, es war reines Beistehen, jenseits des Zerfransens von Lenell; ohne Zugriff, rücksichtsvoll, aber hilflos, aufgeschmissen, verzagt, und immer wieder begleitet von mühseligem Wutunterdrücken. Und warum, fragte sich Helen immer aufs Neue, warum helfe ich ihm nicht mit Telekinese? Diese Frage war eher formell eine Frage, denn sie wollte Lenell trotzdem, so schwer es ihm auch fallen mochte, seine eigenen Emotionalentscheidungen treffen lassen. Der zerfransende Kern war für Lenell auch ein Identifikationsinstrument geworden. Zumindest war es das, was Helen dachte. Und sie kam sich fies vor dabei. Sie dachte, dass Lenell eine Andersartigkeit behalten oder nicht verwischen wollte, und auch Helen war eigentlich froh darum, weil sie nicht abschätzen konnte, was ausgelöst werden würde, wenn sie Lenell wirklich von seinen Depressionen befreite. Sie ahnte, dass es möglich sein könnte, aber sie wollte es nicht probieren. Sie wollte es von sich aus nicht probieren. Es kam ihr wie ein Übergriff vor. Die Liebesbeziehung würde daraufhin vorbei sein. Es wäre zu einschneidend. Aber für Lenell, wenn es sein Wunsch wäre, könnte sie es vielleicht akzeptieren.
Helen schüttete sich den zweiten Espresso rein. Sie verspeiste ein Croissant und steckte das andere in die Gepäckbox. Sie zahlte. Dann fuhr sie mit ziemlich viel Speed nach Osten. Bröckelnder Asphalt oder sogar Schotterstraßen. Diffuse Schilder. Aber ihr Navi war zuverlässig. Im Grunde musste sie sich auf die Helligkeit zubewegen, die am Horizont sengte. Vorbei an Sanddünen, an Kalksteinfelsen, durch ewige Kiefernwälder hindurch. In den Wäldern war es knisternd, Lichtwechsel überkamen sie andauernd, was ihr Geschwindigkeitsempfinden verstärkte.
Nach ungefähr fünf Stunden senkte sich der Weg in eine kilometerweite Ebene hinein, die zum Meer führte. Helen sah alles von weit oben: graue, weiß bewachsene Abhänge, Dünenlandschaften, Sträucher, Krautgewächse, ein paar Ortschaften. Sie beschleunigte, das Quad rollte über Wurzelstränge in Richtung des Ufers, bald gelangte sie auf eine neu gebaute, asphaltierte Straße, die von leuchtenden Laternen gesäumt war – leuchtend, aber ohne Wirkung auf ihr tagerfülltes Umfeld. Danach kamen Hotelkomplexe, Supermärkte, Einkaufscenter, Parkplätze etc. Helen vermied das Stadtzentrum und wich an einem Kreisverkehr auf eine Umgehungsstraße aus, folgte weiter den Anweisungen des Navis und parkte schließlich gegen 13 Uhr an einem abgelegenen Strand, in den Ausläufern eines Kiefernwalds; vorerst packte sie nichts aus, sondern entledigte sich Hose und Tanktop, worunter sie einen Badeanzug in Schlangenlederoptik trug. Sie lief barfuß zum Wasser. Man könnte sagen, dass sich weiße Wolkenschlieren über den Himmel zogen. Man könnte sagen, dass sich einige graue Wolkenballen schneller bewegten. Aber Helen blieb voller Vorhalte, was den Himmel anbelangte. Kurz blieb sie stehen, schaute sich um, empfand das knöchelhohe Wasser kaum kühlend, sah vor sich schwarze Fische davonstieben, einige Menschen beim Planschen, beim Sichsonnen, beim Beachtennisspielen. Sie rieb sich die Oberarme mit Meerwasser ab, ging ein paar Schritte, schüttelte sich kurz und sprang dann geradeaus, kopfvoran, in eine größere Wellenwand, tauchte unter, tauchte auf und begann zu schwimmen. Geradeaus. Solange Helens Kopf über Wasser war, fühlte sie sich intakt. Sie ließ alle anderen schwimmenden Menschen nach und nach zurück, sah irgendwann auch die Uferlinie nicht mehr, versuchte, konkrete Gedanken zu denken, um nicht über Quallen, Wale, Raubfische sinnieren zu müssen, weil dabei, wenn ihre Gedanken ins Spekulative wegrutschten, ihr Atem flacher würde, hektischer, und sie schließlich gezwungen wäre umzudrehen. Sie schwamm weiter. Beim Beobachten der Wasseroberfläche ahnte sie Linien, die es geben konnte, wenn sie malte; Linien, die ihrer Auflösungserscheinungen beraubt wurden. Sie war umgeben von Glimmer, von aufgerauter, bröckelnder Fläche, von sanft saugender Strömung. Sie vollführte die Schwimmbewegungen rigoros, um in die Bewegungen einzubrechen. Ihre angespannten Handflächen schoben Wasser durchs Wasser beiseite. Allmählich brannten ihre Muskeln ein bisschen, sie war umgeben von Furcht, beziehungsweise sie war kurz davor, sich zu fürchten, aber sie schwamm weiter, weil sie immer weiterschwamm, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Sie wollte sich ihrer Furcht aussetzen. Allerdings wurde das Wasser nach einer Weile ruhiger. Schließlich schrubbte sie mit den Knien über feinen Sand. Das kam unerwartet. Ihr wurde schwindlig. Sie drehte sich um, konnte das Ufer gerade so ausmachen, dahinter berstend die Berge. Dann richtete sie sich auf. Tatsächlich stand sie jetzt auf einer Sandbank. Wow, dachte Helen, was für eine Verarsche. Sie setzte sich im Schneidersitz hin; fast fühlte sie sich gekränkt, weil sie gedacht hatte, unter ihr würde der Meeresboden stetig abfallen, während ihr der Meeresboden so nah gekommen war, dass sich das Wasser wieder warm anfühlte. Unnötig, aber auch amüsant, befand Helen. Sie hätte gerne Augentropfen gehabt.
Sie wusste nicht, dass dies der Tag war, an dem sie zum ersten Mal von Spechtmensch hören würde.
Das würde so geschehen: Helen würde Manja und auch Mateo zu einer Party auf einem stillgelegten Flughafengelände begleiten, zur Geisterstunde, in fast vollständiger Finsternis. Die Hangars würden erleuchtet sein, die Landebahnen aufgerissen, eingesunken, uneben. Silhouettenhaft der Tower. Überall würden Lampions an Schnüren hängen. Die vertrockneten Gräser würden sich stachelig oder müde vom bebenden Boden abheben. Die Nebelmaschinen würden Nebel produzieren, aber keine Feuchtigkeit, überall würde der trockene Nebel wabern, überall würden die Maschinen stehen, ständig würde Helen das Geräusch des ausströmenden Nebels vernehmen. Sie würde die Bar suchen, einem Weg folgend, der aus Neonröhren gelegt wäre. Sie würde in einen Hangar treten, unter dem mit einem Pfeiler gestützten Flügel eines vergessenen Flugzeugs entlangschreiten, im Einvernehmen mit der Musik, am DJ-Pult vorbei, bis sie ein paar Kühlschränke erblicken würde, unbewacht oder ohne Zahlungsaufforderung, sie würde sich einen Plastikbecher herausnehmen, aus dem Daiquiri-Fach, zwei Becher mehr für Manja und Mateo, sie würde durch Basswellen, durch tanzende, schreiende Menschen hindurchgehen, wieder nach draußen, sie würde blicken, sie würde Blicke wahrnehmen, sie würde in Nebel verschwinden, auftauchen, die Handflächen kalt, sie würde die Drinks durch die Menge tragen und schließlich überreichen, an Manja und an Mateo, in dessen Dank eine schüchterne Aufforderung enthalten sein würde, eine flirtige Absicht, sie würde ihn anlächeln, die glitzernden Schneidezähne auf der Unterlippe. Später, auf der Tanzfläche, würde es zu einer allmählichen, schwitzenden Annäherung kommen zwischen Helen und Mateo, eine Annäherung, die sich vorsichtig vollziehen würde, und auch nur dann, wenn Manja wegschaute oder Getränke holte oder etc. Es würde eine versteckte Annäherung sein, was beitragen würde zur Vorfreude und zum Verlangen, das sich versteckt entwickelte. Implizit würde sich Helen auf ihre Abmachung mit Lenell beziehen, dass es prinzipiell denkbar oder durchführbar oder duldbar sei, mit anderen anzubändeln, obwohl Helen wusste, wie eifersüchtig Lenell war. Sie bedauerte es nicht, sie wusste es nur. Er war insgesamt zu labil, um nicht eifersüchtig zu werden. Aber trotzdem gab es die Abmachung und Helen nutzte das hin und wieder aus, ohne Lenell sofort davon zu erzählen. Lenell war sich dessen bewusst. In Phasen, in denen es ihm besser ging, redeten sie über alles; vergangene Affären, Eifersucht etc. Helen wollte Lenell nicht wehtun, aber solange er einverstanden war, fand sie es wichtig, ihre eigenen Sehnsüchte nicht zu vernachlässigen. Lenell teilte dieses Ansinnen, auch wenn er sich manchmal einredete, dass Helen ihn quasi augenblicklich verlassen könnte. Helen hatte ihm eine Heirat angeboten, um offiziösere Verpflichtungsgefühle heraufzubeschwören. Um Lenell ihrerseits die Unsicherheit zu nehmen, so weit es möglich war. Das hatte Lenell geholfen, auch wenn er belustigt angemerkt hatte, dass seine Eifersucht nicht da sei, um eine Heirat zu provozieren. Helen hatte ihm gesagt, dass sie ihn nicht verlassen wolle. Lenell hatte gesagt, dass er das wisse. Sie hatten sich entschieden, nicht zu heiraten. Jedenfalls würde Manja neue Bekanntschaften schließen und abgelenkt sein, sodass Helen und Mateo ungestört rumknutschen konnten, am Rande der Tanzfläche, Rohrzucker auf den Lippen, Limettensaft auf der Zunge, Alkoholdunst im Hirn. Helen würde tanzen und zurückkommen, um weiter zu knutschen. Mateo würde mehr Drinks holen und sie würden weiterknutschen. Es würde schnell heller werden. Der Tower würde silhouettenhaft bleiben, aber grau strahlen. Helen würde an die unsichtbare Sonne denken. Warum würde die aufgehende Sonne nicht in den Fenstern des Towers lauern? Zwischendrin würde Mateo, ein aufstrebender Geologe, der zum ersten Mal auf Forschungsreise im Permafrost war, fragen, wo Helen eigentlich lebte. Mateo hatte eine Vertretungsprofessur an der Universität in London. Er würde einen Schritt zurücktreten und Helen erwartungsvoll anschauen. Egio, würde Helen sagen, eine Hafenstadt am Mittelmeer, gerade noch Festland, direkt über einer Plattengrenze. Egio, ich kenne Egio, würde Mateo antworten, fast erschrocken, offenbar enttäuscht, vielleicht ob der Distanz zwischen ihren Heimatstädten, gewahr, dass ihr Anbändeln zu nichts führen würde, aber auch erstaunt. »Kennst du den Spechtmensch?«, würde Mateo fragen. Helen würde ihn fragend betrachten. Noch nie gehört, würde sie sagen. Und dann würde sie von Mateo erfahren, dass Spechtmensch gerüchteweise auf einer kleinen Insel unweit von Egio wohnte, eine halbe Stunde mit der Fähre.
Natürlich wusste Mateo nicht, dass Helen alle Inseln kannte, weil sie Lenell oft auf seinen Arbeitsausflügen begleitete. Trotzdem war Helen dem Spechtmensch nie begegnet, und was Mateo berichtete, klang nicht sonderlich glaubwürdig: An der Universität in London forschte die berühmte Biologin Prof. Cordula Aquarium vorwiegend zu Sachverhalten von ausgestorbenen Baumarten, deren Rückstände im Permafrost eingefroren waren und die jetzt allmählich wieder hervorkamen, wenn man genau aufpasste und Glück hatte. Mateo bewunderte Cordula Aquarium, und was er über Spechtmensch wusste, hatte ihm Cordula Aquarium höchstpersönlich anvertraut, bei einer Institutsfeier, wo sie beide sich zufällig eine Zigarette auf dem Flachdach geteilt hatten. Demnach hatte sich Spechtmensch vor ein paar Jahren an Cordula Aquarium gewendet, weil er sich mit ausgestorbenen Kiefernarten beschäftigte. Ihr Austausch war schnell persönlicher geworden, aufgrund einer eigenartigen emotionalen Übereinstimmung, so hatte sich zumindest Cordula Aquarium ausgedrückt. Spechtmensch hatte angeblich sogar ein paar Semester Botanik in London studiert, sei dann aber verschollen.
»Wie auch immer«, würde Mateo sagen. Dann würde er fortfahren: Cordula Aquarium hatte selbst schon mehrere Expeditionen in den Permafrost unternommen und sie war fündig geworden. Sie hatte verschiedene Samen aufgespürt. Auch Samen von Koräenkiefern, die bis vor 50000 Jahren auf der Erde gewachsen waren. Die Bäume waren offenbar bis zu zweihundert Meter groß geworden. Allerdings brauchten sie mindestens fünfzig Jahre, um erneut Samen zu produzieren. Cordula Aquarium hatte Spechtmensch angeblich drei Samen der Koräenkiefer anvertraut, sodass er sie auf der Insel, auf der er lebte, aussäen konnte. »Ey, warum heißt der eigentlich Spechtmensch?«, würde Helen wissen wollen. »Weil er ein Spechtmensch ist, glaube ich«, würde Mateo schulterzuckend sagen. »Mir ist komisch«, würde Helen murmeln und ins nächste Nebelfeld stürzen. Dort würde sie stehen bleiben, selbst überrascht, dass sie so verwirrt war. Sie würde sich auf ihren Atem konzentrieren, würde ihre telekinetischen Kräfte fast aus ihrem Körper schwappen lassen. Der Nebel würde zitrusartig schmecken, wenn Nebel wirklich schmeckbar ist. Aber warum eigentlich nicht? Helen würde spüren, wie der Nebel klamm in ihre Kleidung einzog. Sie würde den Nebel an ihren Oberschenkeln spüren, an ihrer verkrampften Wirbelsäule. Beinahe würde sie überhitzen. Dann würde sie sich ordentlich Augentropfen in die Augen schütten. Kurz würden ihre Pupillen bernsteinfarben aufscheinen. Sie würde sich schütteln, ihre Bewegungen würden wieder in den Beat einmünden. Anschließend würde sie Mateo bitten, mit ihr ins Forschungslager zu fahren. Die körperliche Anziehung wäre vorübergehend verschwunden. Mateo würde es kapieren. Schweigend würden sie nebeneinander auf ihren Quads durch Kiefernwälder rollen. Manchmal würden sie sich anlächeln, aus ihren Helmvisieren heraus. Die Nacht würde damit enden, dass sie in vollkommener Windstille auf zwei weißen Plastikstühlen hocken, an einem weißen Plastiktisch, zwischen den blauen Containern, und sie würden in heiterer, restbetrunkener Konzentriertheit Kaffee trinken und Mikado spielen. Weißes Fernschimmern schon wieder. Wahrscheinlich geht gerade die Nichtsonne auf, würde Helen denken.
Am selben Tag, noch bevor Helen zur Party aufbrach, war in Egio das Folgende passiert: Lenell stand an der Spüle und schälte Kartoffeln. Über ihm hingen drei leicht welke Luftballons an der Decke, in Blau, Rosa und Gelb; er hatte es sich angewöhnt, darauf zu achten, dass jederzeit mindestens ein Luftballon, den er an seinen Haaren elektrisch aufgeladen hatte, an der Zimmerdecke schwebte. Okay, er hatte sehr kurze Haare, aber es funktionierte trotzdem. Oder gerade deswegen. Das machte er, seit er sechs Jahre alt war. Damals waren seine Haare länger gewesen. Seine Mutter hatte die Luftballons manchmal mit eisernen Schaschlikspießen zerstört, wenn sie in ihren alkoholisierten, düsteren Kippanfällen wütete. Wenn sie abtauchte und erstickte, ohne zu ersticken. Lenell hörte Musik. Er schälte Kartoffeln, bemüht, nicht an seine Mutter zu denken. Andererseits wollte er an seine Mutter denken. Wie sollte es überhaupt möglich sein, nicht andauernd an seine Mutter zu denken? Die alten Gefühle des Feststeckens überkamen ihn quasi permanent. Obwohl er sie überwinden wollte, obwohl er übte, sie zu überwinden. Aber es gelang ihm nicht, oder immer nur zeitweise. Nicht nur, dass es ihm meistens nicht gelang, er verkrampfte regelrecht in der Erinnerung, beziehungsweise die Erinnerung krampfte in seinem augenblicklichen Zustand. Wie es ausgesehen hatte, wenn seine betrunkene Mutter mit dem Schaschlikspieß in der Hand herumgehüpft war, um die Luftballons zu zerstören. Ihre Brüste hatten traurig gewippt, das kam Lenell plötzlich in den Sinn. Er schaffte es nicht, Mitleid für seine Mutter aufzubringen, obwohl er wusste, dass Mitleid alles verändern würde. Lenells Haare waren auf einen halben Zentimeter geschoren, momentan waren sie außerdem rosa gefärbt. Er schälte noch immer Kartoffeln. Nicht allzu viele, weil er sich nur ein kleines Mittagessen kochen wollte, bevor er losziehen würde. Aber er schälte nicht besonders schnell. Er schnitt die geschälten Kartoffeln und schmiss sie nach und nach in einen Seiher. Danach füllte er ein bisschen Wasser in einen Topf, salzte es und hob den Seiher darüber. Er bedeckte den Seiher mit einem Deckel und stellte den Topf auf eine Herdplatte. Während das Wasser kochte, würfelte Lenell eine halbe Zucchini, die er später in Limettensaft und Butter anbraten würde. Das war nicht schlecht für Lenell, zumal wenn er allein war und sich nicht dadurch motivieren konnte, dass er Helen mitbekochen würde. Salzkartoffeln mit Zucchinis. Er lief in den Garten und holte seine schwarze Weste mit dem weiß reflektierenden Ordner-Schriftzug von der Wäscheleine. Wieder in der Küche griff er nach zwei gehäkelten Topflappen und rüttelte den Seiher durch, damit die Kartoffeln gleichmäßig gar werden würden. Er sprühte seinen nackten Oberkörper mit Deo ein. Er hatte einen leichten Bauchansatz, darüber wollte er nicht nachdenken. Es machte ihm ein seltsames Gefühl. Er zog ein weißes Shirt an und stach probeweise mit einem Messer in ein relativ großes Kartoffelstück. Okay, fertig, dachte Lenell und schob den Topf von der Herdplatte. Stattdessen verfrachtete er eine Pfanne darauf und ließ darin ein bisschen Butter schmelzen. Die Zucchinistücke zischten und vibrierten, als er sie hineinkippte. Nur ein paar Mal wenden und schließlich mit Limettensaft überschütten; salzen, pfeffern, fertig. Lenell manövrierte alles auf einen tönernen Teller. Er setzte sich in den Garten, auf einen Bastsessel unter der Zeder, neben den wilden Salbei. Er schaute aufs Meer, das zwischen Kiefern zu sehen war, und kaute auf den dampfenden Kartoffelstücken rum. Beinahe verbrannte er sich die Zunge. Helen wies ihn immer darauf hin, dass er abwarten sollte. Aber sie war im Permafrost, seine Zunge nicht. Es fiel ihm schwer, aufs Meer zu schauen, ohne automatisch die Plattengrenzen zu sehen. Vor dem Ufer führte die Plattengrenze entlang, aber bei Egio gab es eine geologische Besonderheit, nämlich, dass die Plattengrenze die Stadt zweiteilte. Der untere Teil mitsamt dem Hafen, der Promenade, den Geschäften etc. war auf der ozeanischen Platte, die sich unter die Stadt schob. Der obere Teil, auf dem sich auch das Haus von Lenell und Helen befand, lag relativ sicher auf der kontinentalen Platte. Berechnungen ergaben, dass bei einer Kollision der Platten, die ein stärkeres Erdbeben zur Folge haben würde, der untere Teil der Stadt ins Meer absinken würde. Diese Vorstellung machte Lenell seit jeher nervös und ließ ihn manchmal sogar hyperventilieren. Er war Seismologe, dessen Aufgabe darin bestand, ein Frühwarnsystem zu entwickeln. Zu diesem Zweck installierte er überall in Egio sowie auf den anliegenden Inseln seine Aufzeichnungsgeräte; er hatte schon über siebenhundert Seismografen aufgestellt, die allesamt Daten an sein Büro übermittelten; permanent kartografierte Lenell die Verwerfungszone. Mit ihm arbeiteten zwei Informatikerïnnen, außerdem kamen immer wieder Praktikantïnnen von der Universität in Egio. Hauptsächlich agierte Lenell allerdings allein, auf sich gestellt; unterstützt von Helen, aber informell und unmerkbar. Helen half ihm mit ihren übersinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten dabei, das Gebiet um Egio zu überwachen. Eigentlich schien sich niemand um die Gefahr zu kümmern, geschweige denn besorgt zu sein; weder die einheimischen Menschen noch die Touristïnnen. Das sorgte ihn für den Fall einer Evakuierung.
Wenn er mit seiner Psychologin, zu der er einmal in der Woche ging, über seine Arbeit sprach, sprach er ohne Überzeugung. Wenn er mit ihr über sein Leben, über seine Vergangenheit sprach, sprach er ohne Überzeugung. Dass er zu seiner Psychologin ging, änderte eigentlich nichts an seinem Empfinden. Es hatte fast keine Bedeutung.
Lenell bemühte sich, seine Ahnungen auszublenden, denn er war auf dem Weg zu seinem Zweitjob. Er half als Ordner bei den Heimspielen des Egio BC, dem Basketballclub der Stadt. Die Halle war auf einen Hügel gebaut, prestigeträchtig, aus Sichtbetonelementen wie ein Schuppenpanzer und umgeben von Palmen. Lenell liebte es, den Hügel hinaufzukommen, wenn die Halle in den rosa und grünen Vereinsfarben mit Stoffbannern behangen war; am erhabensten war es in der Dunkelheit, wenn Scheinwerfer in ebenjenen Farben die Panzermosaike einzeln erleuchteten. Bei den Einlasskontrollen wurde Lenell erkannt; er scannte seine Mitarbeiterkarte, schritt durch den Metalldetektor, schlug mit Toni und Gertrude ein, wechselte ein paar freundliche Worte im Vorbeigehen, passierte die Snackstationen, den Fan-Shop – und betrat schließlich einen langen Korridor, der direkt zum Spielfeld führte. Drinnen war die Atmosphäre immer gleich: Das Parkett war hellbeige, die Werbebanden unterwanderten das getragene, erwartungsvolle Ambiente. Insgesamt war das Licht weißlich. An allen Seiten waren Videoleinwände angebracht. Lenell musste jeweils zwei Stunden vor Tipoff in der Halle sein. Die Teams wärmten sich auf. Fans kamen langsam dazu. Es fühlte sich für Lenell immer feierlich an, dieser Aufwand, diese Sauberkeit, dieser Glanz, so unabhängig von ihm selbst, ohne dass er überhaupt vonnöten war, ohne dass er überhaupt an diesem Ort hätte sein müssen, die Spiele würden sowieso ausgetragen werden. Das beruhigte Lenell. Seine eigene Unwichtigkeit beruhigte ihn. Er wurde immer für dieselben Blocks eingeteilt, 207 und 208, Gegengerade, und dann musste er sich sehr bald komplett vom Court abwenden, konnte die Spielerinnen hinter sich nur noch hören, die Scores von der Videoleinwand ablesen, die Geräusche deuten. Gleichzeitig galt es, aufmerksam zu sein; sein Job war es, ununterbrochen das Publikum zu beobachten, Auffälligkeiten zu registrieren, Verstöße zu ahnden und im Notfall die Spielerinnen zu beschützen. Hauptsächlich starrte er mit extra energetischem Gesichtsausdruck in die Ränge, aber auch so, dass er möglichst unscheinbar war und niemandem das Spiel verdarb. Er wirkte so präsent, wie er es vermochte, mit seinen rosafarbenen Haaren und seiner minimal pummeligen Figur. Nach und nach begaben sich die Zuschauerïnnen auf ihre Plätze. Egio BC hatte es erstmals in der Vereinsgeschichte in die Playoffs geschafft, entsprechend war die Euphorie. Der Stadionsprecher kündigte an, dass die Teams vorgestellt werden würden. Die Lichter gingen aus, Lenell sah die Porträts der Spielerinnen nacheinander auf der Videoleinwand; der Stadionsprecher rief die jeweiligen Nummern und Vornamen aus, das Publikum antwortete enthusiastisch und chorisch mit den Nachnamen. Spotlights wurden durch die Halle geschickt. Da erblickte Lenell schemenhaft, wie sich eine Gestalt zwischen anderen Zuschauerïnnen hindurchschob, in Block 208, im Unterrang, etwa in Reihe 7. Lenell erschauderte. Von der Seite betrachtet hatte das Wesen, das sich da im Dunklen zu seinem Platz durchkämpfte, einen Schnabel? Einen gefiederten Kopf? In der hitzigen Atmosphäre andauernder Lichtwechsel war auch eine Fehleinschätzung möglich. Lenells Erschaudern rührte vielleicht daher, dass er zwar einen gefiederten Kopf und einen Schnabel gesehen hatte, andererseits aber zögerte, es anzuerkennen. Niemand sonst schien deshalb zu erschaudern, niemand sonst schien deshalb irritiert zu sein. Alle wendeten sich dem Court zu und während des Jubelns lehnten sie sich kurz zurück, um das Wesen vorbeizulassen. Lenell blieb wachsam, blickte immer wieder durch die Reihen, suchte nach Auffälligkeiten, wobei er wusste, die Auffälligkeiten waren meistens so ungewöhnlich, dass sie seine Aufmerksamkeit von selbst auf sich zogen. Nachdem die Vorstellung der Teams beendet war und die Halle wieder aufleuchtete, konnte sich Lenell endlich vergewissern, dass es sich bei dem Wesen, das zuletzt gekommen war, tatsächlich um einen Spechtmensch handelte. Spechtmensch trug das rosafarbene Auswärtstrikot von Egio BC, aber sein Kopf war grün gefiedert und er hatte einen Schnabel. Lenell gelang es nur schwer, von ihm wegzusehen. Er hörte die Pfiffe der Schiedsrichterïnnen, das Publikum erhob sich, und es würde stehen, bis Egio BC die ersten Punkte erzielte. Auch Spechtmensch stand, Lenell sah jetzt naturgemäß, wie sich die Köpfe im Publikum kollektiv wendeten, um das Spielgeschehen zu verfolgen. Trotzdem konnte Lenell nicht anders, als weiter Spechtmensch zu betrachten. Und bald bemerkte Spechtmensch, dass er betrachtet wurde. Seltsamerweise spürt man das häufig, selbst wenn man es nicht erwartet. Spechtmensch versuchte herauszufinden, von wo aus er angeschaut wurde, während er weiter verfolgte, wie die Spielerinnen des Egio BC eine frühe Führung erzwangen. In der ersten Auszeit schaffte es Spechtmensch schließlich, den Blick von Lenell zu fixieren, und ohne böse Gefühle betrachteten sich die beiden eine Weile. Keiner war davon belustigt, keiner war gestört, sie schauten sich einfach aufmerksam an – und weil das Spiel einseitig war und die Stimmung insgesamt unaufgeregt positiv, hörten Lenell und Spechtmensch kaum damit auf, sich anzusehen, bis zum Ende. So etwas war Lenell bislang noch nie passiert, aber er kam sich nicht unprofessionell vor. In seinen Blöcken war es ruhig geblieben. Die Spielerinnen bedankten sich bei den Fans. Spechtmensch klatschte und verließ dann gemächlich die Halle. Weder verabschiedete er sich bei Lenell mit einem Kopfnicken oder dergleichen, noch drehte er sich beim Verlassen der Tribüne um. Für einige Sekunden schloss Lenell die Augen – traurig, versöhnlich gestimmt, erstaunt. War was passiert?, fragte er sich. Kaum, fast nichts, aber doch schon. Er fühlte sich ungewohnt. Er ahnte, dass er nicht aufgrund der Spechthaftigkeit des Spechtmenschen erschaudert war.
Um sich so frisch in ihrem Begehren für Mateo nicht mit misstrauischen Fragen auseinandersetzen zu müssen, entschied sich Helen, Lenell gegenüber vorerst vom Spechtmensch zu schweigen. Die Erklärung der Umstände hätte weitere Erklärungen erfordert, die wiederum weitere Erklärungen erfordert hätten etc. Sie befand sich allein im Forschungslager. In ein paar Tagen würde sie zurück nach Egio reisen. Dass sie nur noch wenig Zeit hatte, um sich Mateo anzunähern oder sich Mateo nicht anzunähern, stresste sie, auch wenn es lächerlicher Stress war, kapriziöser Stress, zumal gerade womöglich unangemessen oder zumindest nicht zielführend, auch wenn man selten weiß, was wirklich zielführend ist. Aber es gab wichtigere Vorhaben.
Helen hatte sich vorgenommen, die Sonne zu suchen.
Sie machte sich auf, mit ihrem Quad in die Stadt zu fahren. Mittlerweile fühlte sie sich auf dem Quad so sicher, dass sie waghalsiger wurde, vor allem, wenn es keinen Gegenverkehr gab. Sie hatte mit Youtube-Videos gelernt zu driften. Sie raste dahin und schlidderte durch Sand um Kurven, wobei ihr Heck gerade so weit ausscherte, wie sie es wollte. Das war technisch fordernd, sodass ihre Konzentration komplett gebunden oder gebannt war. Schwitzende Kopfhaut im silbernen Helm. Nach der Ankunft spürte sie leichten Muskelkater in den Handflächen, weil sie den Lenker so fest umschlossen hatte. Sie hatte vor ihrem Lieblingscafé geparkt und setzte sich wie üblich an den Tisch direkt am Straßenrand, wie üblich bekam sie Croissant und Espresso Macchiato in zweifacher Ausführung. Sie wollte gar nicht wissen, wie der Himmel aussah, erst später würde es wichtig werden. Trotzdem musste sie ihren Kopf heben, um sich Tropfen in die Augen träufeln zu können. Ob es daran lag, dass sie die Sonne nicht wahrnehmen konnte? An der Gewohnheit, sich diese Tropfen zu genehmigen? An dieser fast obsoleten Angewohnheit, in die sie sich hineinmanövriert hatte? Aber die Genugtuung war milder und süchtigmachender als jede andere Genugtuung. Nichts konsolidierte sie so wie Augentropfen. Kurz dauerte das Wohlbefinden an, kurz wuchs es, wow, dann meinte sie, die Tränenflüssigkeit würde die Plasmatropfen verschlingen, so lange, bis die Genugtuung verhallte, abflaute, vorüber war. Trotzdem. Konsolidiert blickte sie die Straße hinab. Zwei Männer betrachteten eine Mülltonne und redeten miteinander; schließlich ließen sie die Mülltonne stehen und trotteten der Müllabfuhr hinterher. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Friseur; hinter der Fensterfront saß eine Frau und bediente ihr Smartphone, während grelle Farbe in ihre teilweise mit Alufolie umwickelten Strähnen einzog. Zwischen Parknischen standen Zierkirschen in Holzkübeln, der Asphalt lag voller Blüten, Mopeds fuhren vorbei. In Restaurants hingen blinkende Schriftzüge, lockten oder inserierten. Helen genoss es, hier zu sitzen. Sie sog die Stimmung ein, die Abgase ließen ihr Hirn zittern. Sie meinte, die Gemäuer zu riechen, die Betonkühle. Dann fotografierte sie Details mit ihrem Smartphone, um später, wenn sie malen würde, wiederkehren zu können, in Zustände, die sie nicht stutzig machten, gleichwohl sie fast alles stutzig machte. Nur wenn sie in dem Café hockte, wusste sie, dass sie im Nachhinein Nichtstutzigkeit empfinden würde, und dieses Wissen erzeugte gewissermaßen eine vornostalgische Melancholie, weil sie gerade nichts von dieser Nichtstutzigkeit spüren konnte. Sie kaute schnell auf dem Teig des Croissants, sodass es sich im Mund zusammenpresste und ihren Zähnen kurz einen beinahe bissfesten Widerstand bot. Das mochte sie, das Schuppenhafte des Croissants nicht anerkennen. Am besten direkt noch Kaffee zwischen den gespannten Lippen einsaugen, damit eine Pampe entstand, die Arbeit erforderte, Ungeduld im Mund. Lenell schrieb ihr, dass er Basketball spielen würde, auf dem Freiplatz hinter dem Hügel. Katzen lägen halb schlafend unter den Agaven. Da, plötzlich, reichte es Helen einigermaßen. Warum war sie nicht in ihrem Studio und malte? Warum arbeitete sie stattdessen daran, ein Croissant zu zerstören? Sehnsucht überkam sie. Sehnsucht nach Privatleben. Aber sie ließ die Sehnsucht keine Ausmaße annehmen, die unkontrollierbar waren, sie ließ die Sehnsucht nur schubweise zu, ungetröstet. Lenell war nie mitgekommen in den Permafrost, weil er die Verwerfung nicht allein lassen wollte, was entweder großmütig oder gestört war, oder zwanghaft, wie auch immer. Vielleicht war es Helen sogar genehm, dass sie im Permafrost für sich selbst waltete, unabgestimmt, atonal. Es war ihr genehm und nichtgenehm zugleich. Sie nutzte das WC im Café und ging anschließend zur Drogerie. Drinnen war es weniger feucht, die Gänge glänzten. Sie würde heimkehren, wenn sie die Sonne gefunden hatte, oder wenn sie mit Mateo geschlafen hatte, eins von beidem, oder eben kombiniert.
Sie lief zum Info-Schalter. Sie hatte online eine Sonnenfinsternisbrille bestellt, was aber ohne festen Wohnsitz nur zur Abholung möglich war. Deshalb war sie hier. Helen sagte, wer sie sei, warum sie erschienen war, und im Umkehrschluss erhielt sie einen Fünferpack Sonnenfinsternisbrillen, Familienset. Vor Freude jubilierte sie mit geballten Fäusten, was die ältere Frau hinter dem Tresen verwirrte: zu viel Ausbruch von Emotionen in so einer gesitteten Umgebung, wie überall anders auch. Nirgends sollte man unsittlich sein. Nicht mal in der Drogerie. Aber Sittlichkeit hieß nur Verlogenheit. Außerdem war die Unsittlichkeit oft die Befreiung jenseits der Obszönität. Helen bezahlte mit EC-Karte, es piepte viermal zur Bestätigung. Zufrieden begab sie sich auf den Rückweg zum Forschungslager. Höchstgeschwindigkeit ohne Schlingern, Swerven ohne Demut.
Es war immer noch hell, womöglich mittagshell, vielleicht schon darüber hinaus, als Helen ankam und das Quad abstellte. Kurz Augentropfen, kurz klopfte sie sich den Staub vom dunkelblauen Windstopper. Der Helm baumelte vom Visier weg in ihrer Armbeuge. Helen bemerkte sofort, dass die Wissenschaftlerïnnen zugegen waren. Ungewöhnlich. Die Türen zu den Laboren standen offen, und obwohl Helen niemanden sah, wirkte das Gelände triebhafter als gewöhnlich tagsüber. Sie schüttelte die Schultern, der Gaumen wollte andauernd Gähnen, sodass bald die Muskelstränge unter der Zunge nach jedem Gähnen verkrampften und jeweils kurz brauchten, um sich wieder zu entspannen. Also blieb eine Vorsicht über, die sich verzögert löste und von erneutem Gähnen überlagert wurde. Helen schritt los, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, wieder flogen Reiher über sie hinweg. Sie verstaute die Sonnenfinsternisbrillen in ihrem Zimmer und ging dann zu den Gemeinschaftscontainern, wo sie die anderen vermutete. Und sie lag richtig. Gerade vollzog sich ein Festmahl, mit dem gefeiert wurde, dass die Daten und Materialien, die bei dieser Forschungsreise gesammelt werden sollten, beisammen waren – was natürlich nicht hieß, dass die Projekte abgeschlossen waren oder die Arbeit beendet. Aber zumindest ein Teilvorhaben war geschafft. Und hierfür gab es das Ritual, massenweise Kartoffelpuffer zu verspeisen. Helen mochte Kartoffelpuffer. Sie begrüßte ihre Freundïnnen und schaute Mateo dabei länger an. Anschließend begab sie sich zur Essensausgabe. Klar, es roch komplett nach Friteusenfett, und mitten im Dampf ging es hauptsächlich darum, möglichst viel Apfelkompott auf den Teller zu schütten und danach so viel Zucker drüberzustreuen, dass er nicht aufweichte, sondern noch Minuten später zwischen den Zähnen zerkrachte. Alle waren gut darin, auch Helen war gut darin. Wie sie am Tisch saß, unweit von Mateo, blickte sie immer wieder auf und er blickte auf und sie schmunzelten. Verzücktes Erröten. Mittlerweile war es Helen egal, ob die von ihr produzierten gefrorenen Gebiete untersucht werden würden oder ob sie auffällig war. Natürlich war sie auffällig. Wer sonst konnte auf diese Weise den Permafrost gefrieren lassen? Aber weil es so singulär war: Wer sollte an Helen denken? Wer sollte sie verdächtigen, obwohl sie auffällig war? Dringlicher war die Frage, warum sie sich nach Privatleben sehnte, oder nach dem Malen, oder dem Konzipieren und Umsetzen von Ausstellungen. War das nicht Verschwendung? Dringlicher war die Frage, warum sie nicht ihre volle Kraft dafür verwenden wollte (sozusagen ihre Lebenskraft), den tauenden Permafrost erneut gefrieren zu lassen – einfach umziehen, beziehungsweise hierbleiben, nicht mehr weggehen, dem Winter helfen, systematischer vorgehen, das Abtauen aufhalten von Süden her, Breitengrad um Breitengrad; herausfinden, wie ihre telekinetischen Kräfte maximiert werden könnten, was ihr helfen würde bei der Erholung. Vielleicht wäre es richtig, dachte sie, wenn jeder Mensch in diesem Sinne für den Planeten arbeiten würde, für die Zukunft und für nichts sonst. Und sollte es so wirklich gelingen, ein anderes Gleichgewicht, eine andere Konsistenz zu erlangen, und würde es beispielsweise keine Kunst geben, die davon zeugte, wie schlimm wäre das eigentlich? Die nachfolgenden Menschen hätten ein Ambiente, auf das sie aufpassen müssten, sie hätten nicht nur Ruinen, na ja, das war zu einheitlich gedacht, meinte Helen, ein unbrauchbares Gegrübel. Grob war ihre Frage: Was würde es nachfolgende Menschen kümmern, wenn es eine Unterbrechung in der Kunstgeschichte gegeben hätte zugunsten einer Umwelt, die wieder intakt sein darf? Aber eben, die Zusammenhänge waren nicht grob, sondern fitzelig und schwankend, die Zusammenhänge im Groben zu veruntreuen passierte eh schon andauernd. Es stimmte ja, sie war weggedriftet. Das kam von den warmen Kartoffelpuffern in ihrem Magen, ihr Magen pulsierte, sie sank zurück, krümelte sich in die Lehne, blinzelte in die Leuchtflächen, die an der Decke des Gemeinschaftscontainers angebracht waren. Insgesamt beruhigend, sich Flächen gegenüberzusehen. Das passierte selten, glatte Flächen. Um Helen die Gespräche und das Fett, die Luft fettig, die Kleidung fettig, die Haare fettig, die Wimpern fettig, entweder war das abstoßend oder man verband sich damit, suhlte sich im unsichtbaren Fett, in den Fettpartikeln. Helen ließ es zu. Sie spürte keine Unruhe, nichts dergleichen, nicht mal ein Bedürfnis nach Augentropfen. Kartoffelpuffergelage waren immer endorphinstiftend. Helen genoss es. Man denkt, man braucht keine Kartoffelpuffer, dachte Helen, aber sobald Kartoffelpuffer ungewollt bereitgestellt werden, weiß man, dass man sie immer schon gebraucht hat, dass man sich nur zugeredet hat, im Sinne einer Selbstbelügung. Man lebt ohne Kartoffelpuffer und ahnt, dass das Schmarrn ist. Man ändert es und fühlt sich besser. Immerhin. Immerhin eine kleine, ungrobe Erkenntnis.
Was Helens Problem damit war, dass sie bei ihren telekinetischen Guerillaaktionen entdeckt werden konnte? Sie war sich nicht sicher. Sie schämte sich nicht für ihre Taten. Aber sie fürchtete sich davor, dass das Bekanntwerden ihrer telekinetischen Fähigkeiten zu Erwartungen führen würde. Auch deshalb fühlte sie sich wohl mit Lenell. Er ließ sie walten, wie sie wollte. Er forderte nichts von Helen, zumindest nichts, was hinausging über emotionale Verfügbarkeit innerhalb ihrer Beziehung. Manchmal fragte sich Helen, ob sie ihre Malerei nur vorschob, nur vorgab, um sich nicht den eigentlichen planetaren Problematiken zuwenden zu müssen. Aber diese Gegenüberstellung war zu dramatisiert. Sie gab nichts vor, wenn sie malte. Sie tarierte sich selbst aus, wenn sie malte, über den fernmöglichsten Weltablagerungen, während ihre telekinetischen Kräfte immer jeweils in den unmittelbarsten Weltablagerungen wirkten. Und sich im Fernmöglichsten zu bewegen, war aufregend und ungewohnt; vor allem bestätigte die Bewegung das Fernmöglichste überhaupt erst. Nur weil Helen das Fernmöglichste aufsuchte, konnte es existieren. Dagegen das Einsetzen der telekinetischen Kräfte: Es diente nur dazu, Misskonfigurationen auszugleichen, Aggressionen abzumildern, Ekel zu konfrontieren. Helen graute es. Die Misskonfigurationen wucherten derart, dass sie eines Tages das Fernmöglichste verschlucken würden. Und gerade deswegen fragte sich Helen, ob es nicht eine Priorisierung der Misskonfigurationen geben müsste. Dann sagte sich Helen verzweifelt, dass es für strukturelle Misskonfigurationen eigentlich Berufspolitikerïnnen und demokratische Institutionen gab, eigentlich, eigentlich. Schade nur, dass von dieser Seite aus kein Interesse bestand, sich den Misskonfigurationen zu widmen. Von der Seite der Institutionen gab es hauptsächlich die Beschwichtigung, nie gab es die vollständige Anerkennung der Misskonfigurationen. Gegen die Beschwichtigungen musste angekämpft werden. Und wenn man müde war, gegen die Beschwichtigungen anzukämpfen, konnte man entweder indolent werden oder depressiv. Oder versuchen, im Fernmöglichsten die Misskonfigurationen auszuhalten, sie spürbar zu machen, wobei man sich eben ständig sagen musste, dass es kein Vorgeben war, kein Vorschieben. Und mündete das Aushalten der Misskonfigurationen nicht auch in einer Depression höherer Ordnung? Das galt es zu vermeiden. Es fiel Helen ohnehin schwer, ihre Malerei zu begründen, ihren Nutzen, ihre Notwendigkeit. Sie wollte sie nicht zusätzlich gegen Erwartungen bezüglich ihrer telekinetischen Kräfte begründen müssen. Deshalb entschied sie vorerst, unerkannt zu agieren, so gut sie konnte.
Sie erhob sich und brachte ihr Geschirr in die Küche. Als sie den Container verließ, wurde sie von Mateo aufgehalten. Er griff an Helens Oberarm. Sie blieb stehen und drehte sich um.
»Hast du Lust, mit mir schwimmen zu gehen?«, fragte Mateo.
»Lust schon«, sagte Helen. »Aber ich muss die Sonne suchen.«
»Helen, du kannst mir einfach sagen, wenn du keine Lust hast.«
»Ich habe Lust, aber zuerst muss ich die Sonne suchen. Danach können wir gerne schwimmen gehen.«
»Meinst du, ich kann dir vielleicht helfen?«
»Eventuell später, wenn ich es allein nicht schaffe.«
»Was ist das Problem?«
»Das Problem?«
»Ja.«
»Mein Problem sind Himmelskörper. Sie verschwinden.«
»Kennst du das von Lichtenberg? Noch glauben, daß der Mond auf die Pflanzen wirke, verrät Dummheit und Aberglaube, aber es wieder zu glauben zeugt von Philosophie und Nachdenken.«
»Mateo, ich rede nicht von der Wirkung der Himmelskörper, ich rede von den Himmelskörpern selbst.«
»Meinst du nicht, es ist gerade relativ hell, weil die Sonne existiert?«
»Es braucht meinerseits noch ein bisschen Philosophie und Nachdenken, bevor ich das beantworten kann.«
»Helen, bitte sag mir einfach, wenn du keine Lust hast.«
»Hör mir gut zu: Ich lebe in Egio nicht allein. Das heißt, ich bin unter Umständen körperlich verfügbar, aber nicht mittelfristig. Und jetzt muss ich die Sonne suchen. Wenn du das aushalten kannst, können wir später miteinander schlafen. Überleg es dir. Wenn nicht, auch nicht wild.«
Nachdem sie das mitgeteilt hatte, lief Helen zu ihrem Container, zufrieden, fokussiert auf ihre Mission. Sie wollte außerdem ein Violinkonzert hören. Sie sperrte sich im Bad ein. Eine Weile saß sie auf dem Klodeckel und feilte sich die Fingernägel. Kopfhörer steckten in ihren Ohren. Und wie Hilary Hahn Mendelssohn spielte, ließ Helen weinen. Sie weinte vor Ergriffenheit. Als Kind hatte sie ein paar Jahre Violinenunterricht gehabt, und sie kapierte kein bisschen, wie das, was Hilary Hahn tat, funktionierte. Hilary Hahn spielte schnell und präzise, sie hielt ihren Bogen perfekt und ihre Körperspannung war außerirdisch. Blasphemisch rangiert das Hirn, und extrablasphemisch musste Mendelssohns Hirn rangiert haben beim Komponieren des Violinkonzerts. War Mendelssohns Hirn so etwas wie ein Teilchenbeschleuniger gewesen und war Hilary Hahn die Teilchen? Wäre es ein Gottesbeweis, wenn Mendelssohn nie existiert hätte? Plötzlich unterbrach Helen das Stück mittendrin, was ihr obszön vorkam, unredlich. Sie fühlte sich, wie wenn man mit einer Axt aus einem Fantasygame in einen Teilchenbeschleuniger schlägt. Stattdessen duschte sie. Es war unvermeidbar zu duschen, meinte Helen. Sie hätte sich gerne mit einem Handtuch, auf das Hilary Hahn gedruckt war, abgetrocknet. Anschließend putzte sie sich die Gehörgänge mit Wattestäbchen sauber. Sie zog Unterwäsche an, schlüpfte in Jeans, ein silbernes Samttop, sie zerriss die Plastikhülle, in der die Sonnenfinsternisbrille steckte, sie holte Sneakers, verknotete die Schnürsenkel, machte zwei Karatekicks und platzierte die Kopfhörer wieder in ihren Ohren. Sobald sie den Container verlassen hatte, begann sie von vorn mit dem Violinkonzert.
Helen testete die Sonnenfinsternisbrille. Ihr gefiel das bleierne, schwer konturierte Aussehen der Landschaft. Nichts würde sie davon abbringen, die Sonne zu finden. Sie unterbrach ihre Hemmungen dem Himmel gegenüber und stierte hinauf in die Schleierwolken. Das war einfacher als angenommen. Die Wolken waren auch bleiern und ihre Kumulationen waren von dramatischer Schattierung. Helen lief vorsichtig durch die hohen, weißlichen Gräser, in ihrem Balancevermögen eingeschränkt von der Musik und weil ihr Blick nach oben kippte. So entfernte sie sich vom Forschungslager.
Eine Stunde später legte sie sich auf den Rücken. Helen fühlte sich zuversichtlich. Sie stellte die Musik aus. Sie war umgeben von Grasknistern und Zikaden. Die Wolkenschicht, so ephemer sie auch wirken mochte, rumorte, wenn man lange genug darauf achtete. Verdickungen bildeten sich, Überlagerungen, teilweise kam es zu Intervallen, in denen es schien, als würde das Fortdauern aussetzen, wenn auf einmal die dräuenden Verwandlungen stoppten, sich Löcher auftaten zwischen verschiedenen Schichten, und überhaupt, wie laut waren die Gebilde geworden, wie sehr walkten sie in der Luft, wie sehr verunmöglichten sie Helen die Kontaktaufnahme, wie grob klemmten sie das Sichtfeld ab, wie wahnwitzig vermehrten sie sich? Systematisch schaute Helen von Horizont zu Horizont, von Waldrand zu Waldrand, von Kiefernansammlungen zu Birkenansammlungen und so fort. Zugegeben, es war hell, aber die Beschichtung der Brille ermöglichte exakte Untersuchungen. Helen hatte Ahnungen, was die Sonne betraf. Zusätzlich downloadete sie eine App, die den Stand der Sterne anzeigte.
Sobald sie sich sicher wähnte, überprüfte Helen, dass es keine menschlichen Mitwisser gab, und hielt ihre offenen Handflächen in den Himmel. Sie wollte, dass sich die Wolken partiell auflösten. Sie imaginierte einen grünlichen Strahl, der von ihren Handflächen ausging. Bald ergab sich eine Öffnung, ein paar Kilometer über der Erdoberfläche, Eiskristalle zerbröselten in der Richtung, in der Helen die Sonne vermutete. Ein Loch entstand. Enttäuscht musste sie feststellen, dass sie nur grell schimmerndes Universum aufgedeckt hatte. Helen schluckte.
Gerade war sie dabei, frustriert ihre Brille abzunehmen, als Sonnenstrahlen auf ihren Körper fielen.
Welch Gnade, dachte sie. Helen freute sich darüber, dass sie nicht verrückt war. Das war es nämlich gewesen, wovor sie sich gefürchtet hatte. Sie hatte sich davor gefürchtet, Sonnencreme zu verschwenden, weil es überhaupt keine Sonne mehr gab für sie, sie hatte sich davor gefürchtet, längst die Kontrolle über ihre telekinetischen Fähigkeiten verloren zu haben, nur noch ein Kuddelmuddel aus Energien zu sein, irgendeine unangemessene Symbiose von Unwirklichkeit und Wirksamkeit, ein Phantom oder zumindest eine phantomhafte Verkomplizierung kosmischer Zusammenhänge. Na ja. Ehrlich gesagt war es weitaus weniger schlimm gewesen, als es inmitten ihrer Erleichterung den Anschein machte. Nie hatten sich die Befürchtungen summiert oder gegenseitig verschlimmert, immer waren es winzige Befürchtungen gewesen, winzigste Befürchtungen, kurze Zweifel, kleine Spekulationen. Es waren nur die vielen Tage gewesen, in denen Helen die Sonne nicht hatte ausmachen können, viele erschöpfende Tage, in denen manchmal zwielichtige Gefühle evoziert wurden. Und weil sie ihre zwielichtigen Gefühle mit niemandem hatte teilen können, war sie wohl ein bisschen weggedriftet, zumindest teilweise, zumindest innerlich. Wie schon betont: Zu keiner Sekunde war Helen dem Wahn nahe gewesen, sie hatte sich nur gefragt, ob es ein Potenzial für Wahn in ihr gab. Und wer sich tagelang fragt, ob es ein Potenzial für Wahn in ihr gibt, tja. Wer hat in einer solchen Situation die gefestigte Seelenruhe, sich selbst frei von gewissen Potenzialen zu sprechen? Es wäre jetzt leicht anzufügen, nur der Wahn würde sich von sich selbst freisprechen, aber in diese verallgemeinernde Vermutung wollen wir nicht fallen. Wir wünschen uns allen die gefestigte Seelenruhe, nehmen aber an, dass sie schwer bis überhaupt nicht zu erreichen ist. Demnach war auch die Unruhe in Helens Seele menschlich. Unruhe, das muss man verdauen, also das Wort, es wirkt doch direkt, als würde man unter Wasser nach Luft schnappen. Helens Potenziale waren menschlich. Helens Zweifel waren menschlich. Helens Erleichterung war menschlich.
Dass sie sich allein mit ihren Potenzialen befassen musste, war der Nachteil an ihrer Beziehung mit Lenell, wenngleich Helen nie in Kategorien wie Nachteil gedacht hätte. Aber sie wollte ihn nicht anrufen, um ihm zu erzählen, dass sie nicht mehr fähig sei, die Sonne zu sehen, dass sie sich vor einer Invertierung des Universums fürchte etc. »Invertierung des Universums?«, hätte Lenell sofort angespannt gefragt. »Okay, das war völlig überzogen«, hätte Helen schnell geantwortet, um ihn zu beschwichtigen. »Aber du hast es gesagt«, hätte Lenell insistiert. »Ich habe mich unachtsam ausgedrückt«, hätte Helen geantwortet. Augenblicklich transpirierende, sprühnebelhafte Wangen bei Lenell, das würde Helen spüren. Jedes Mal, wenn Lenell aufgeregt und verunsichert war, entstanden diese kleinen Schweißkügelchen unter seinen Tränensäcken. Und statt über ihre Befürchtungen zu sprechen, würde sie damit beschäftigt sein, Lenell zu beruhigen, würde damit beschäftigt sein, sich mühsam selbst zu widerrufen. Invertierung des Universums, es war auch eine idiotische und überzogene Formulierung für das, was sie umtrieb. Und obwohl all das nicht passiert war, hätte es genauso passieren können. Helen konnte sich die Situation mühelos vorstellen. Beziehungsweise hatte sie die Situation vorhergesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass sie Lenell gegenüber Schweigen würde. Er sollte nichts erfahren vom Sonnenschwund. Es gab Menschen um sie herum, die sie stattdessen ins Vertrauen ziehen könnte. Aber sie tat es nicht. Selten sprach sie über ihre intimen Potenziale. Am ehesten trotzdem mit Lenell, weil er eben nichts erwartete. Aber dann wiederum konnte sie nicht über alles mit ihm sprechen. Ihre Ängste hyperpotenzierten sich in ihm, das wollte sie nicht verantworten. Helen wünschte sich eine gute Therapeutin. Viele Menschen wünschen sich das. Helen hatte schon einige Versuche gestartet, aber Egio war nicht gerade das Gravitationszentrum der Psychoanalyse. Bald würde sie Videocalls machen, mit Therapeutïnnen, die ihr empfohlen worden waren, in ganz Europa. Aber zunächst war die Sonne wieder vorhanden. Das milderte vieles ab. Helens Gram verringerte sich.
In konspirativer Laune schickte sie Mateo ihren Standort. Die Schleierwolken hatten die Öffnung, die Helen kreiert hatte, wieder verschlossen. Sie nahm die Sonnenfinsternisbrille ab und zog ein paar Grashalme aus deren Hülsenverankerungen. Daraufhin kaute sie die Grashalme von unten her ab, diese cremige, weichnussige Wurzelmasse. Obwohl die Gräser fast ausgetrocknet waren, konservierten sie in sich noch etwas von dem geschmolzenen Permafrostwasser, das Helen sich gerne genehmigte. Sie wusste, dass die Schleierwolken einen Wetterumschwung ankündigten. Bald würde es gewittern. Schon seit Tagen war das deutlich geworden.
Sie sah, dass sich vom Forschungslager her ein Quad näherte. Staubige Aufwirbelungen in der entstaubten Luft, aus der die Partikel eigentlich herabgesunken waren. Helen richtete sich auf, sodass sie im Schneidersitz hocken konnte. Sie meinte, dass zumindest vorübergehend eine Ordnung entstanden war, eine Ordnung der Gestirne und eine Ordnung der Liebesverhältnisse. Als Mateo näher gekommen war, winkte Helen mit beiden Armen. Noch immer klemmte ein Grashalm zwischen ihren Zähnen.
Mateos Quad kam ein paar Meter vor Helen zum Stehen. Mateo stieg ab, er trug keinen Helm. Was trug er überhaupt? Trekkingsandalen, das fand Helen auf oberflächliche Weise unsexy, außerdem eine dschungelhafte Badehose und ein sehr dünnes Shirt, dessen stoffliche Außenseite und dessen stoffliche Innenseite sich eigentlich berührten. Mateos Brustmuskeln waren ahnbar.
»Hast du Brustmuskeln?«, fragte Helen.
»Wer hat keine Brustmuskeln?«
»Ich meine, heben sich deine Brustmuskeln ab?«
»Ich glaube, ich muss dich enttäuschen«, sagte Mateo.
»Lass mal deinen linken Brustmuskel zucken.«
»Ich versuch’s.«
Eigentlich zuckte in der Folge eher Mateos Schulter, etwas unbeholfen. Eine Muskelbewegung konnte Helen unterdessen nicht ausmachen.
»Keine Ahnung, wie das funktionieren soll«, sagte Mateo.
»Ich auch nicht«, antwortete Helen.
»Wollen wir zum See fahren?«
»Woah, komm lieber zu mir. Das Gras ist bequem.«
»Ist das ein guter Spot, um die Sonne zu suchen?«
»Ich habe sie längst gefunden.«
»Ach echt?«
»Komm, ich zeig sie dir in meiner App.«
Der Freiplatz hinter dem Hügel, am Stadtrand von Egio: Agaven wurzelten in kiesiger Stauberde, Palmen umgaben das Gelände. In Richtung des Meeres war ein elastisches, feinmaschiges Plastikgitter aufgespannt, um den Wind zu brechen. Das Feld war aus rosarotem Kunststoff, die Linien dunkelgelb. Die Korbanlagen hatten Plexiglasbretter, bei Sonnenauf- und -untergang waren unzählige Ballabdrücke darauf zu sehen. An den Ringen hingen gelbe Nylonnetze. Lenell konnte sich keinen besseren Court vorstellen. Vielleicht war das, dachte er, sogar sein präferiertester Ort auf der Welt überhaupt, äußerlich gesehen. Seinen Rucksack legte er auf eine der beiden gelb gestrichenen Bänke am Spielfeldrand. Er nahm seine Wasserflasche und trank ausgiebig. Lenell trug sehr kurze, dunkle Shorts, ein weißes Aces-Trikot und weiße, verdreckte Basketballschuhe. Außer ihm waren nur Eidechsen auf dem Platz. Ein paar Mal rannte er dribbelnd von Korb zu Korb, machte ein paar Layups und dehnte sich dann. Die Luft war trocken und harzig. Jeglicher mentaler Lapsus schlich sich zeitweise aus, wenn Lenell Basketball spielte. Er unterschied zwischen teils ausschleichenden Tätigkeiten und vollständig ausschleichenden Tätigkeiten. Zu den teils ausschleichenden gehörten Gartenarbeit, das Zusammenbasteln von Modellbausätzen (Muscle-Cars) und sein Ordner-Job. Zu den vollständig ausschleichenden gehörte einzig und allein Basketball. Nicht mal beim Sex konnte er sich so maßlos hingeben. Zumal durch die Tatsache, dass beim Sex meistens andere Personen vonnöten waren, Dynamiken entstanden, die das Ausschleichen des Mentalen stoppten. Obwohl Lenell sich wünschte, im Sex zuflüchtig zu werden, sickerte das Mentale häufig in seinen Körper und es entstanden ungemütliche Feedbackstörungen. Jetzt nicht. Er stand in der Hocke, dribbelte zweimal mit der linken Hand, machte einen Crossover durch die Beine, dribbelte zweimal mit der rechten Hand, machte einen Crossover durch die Beine etc. Dann ging er dazu über, seitlich von der Dreierlinie zu starten, und führte verschiedene Moves aus, die er mit Sprungwürfen aus der Mitteldistanz abschloss: Spinmove, Stepback, einfacher Doppelstopp. Wenn er sich motivieren konnte, wie heute, machte er jeweils zehnmal dieselbe Bewegung und zählte seine Treffer. Er wiederholte die Zehnersequenzen so lange, bis er mindestens sieben erfolgreiche Abschlüsse verzeichnen konnte. War er nicht motiviert, führte er die Moves trotzdem durch, allerdings abwechselnd und ohne zu zählen. Lenell wollte weniger Gewicht haben, um die Bewegungen mit mehr Präzision und Geschwindigkeit ausführen zu können, aber er schaffte es nicht, abzunehmen. Obwohl er regelmäßig Sport machte, war er mit den Jahren fülliger geworden. Sein Psychiater erklärte das durch altersbedingte Veränderungen im Stoffwechsel, aber es könne auch an den Antidepressiva liegen. Lenell schaffte es nicht, langfristig darauf zu achten, ein Kaloriendefizit zu etablieren, genauso fiel es ihm schwer, sich zum Muskeltraining zu zwingen. Er versuchte, mehrmals in der Woche zum Court zu kommen und Basketball zu spielen. Manchmal traf er auf andere Spielerïnnen. Er mochte Pick-up-Games. Aber er mochte es auch, unbehelligt an seinen Skills zu feilen. Im Grunde war es einfach: Nachmittags und abends konnte er bei Pick-up-Games mitmischen, vormittags war er mit hoher Wahrscheinlichkeit allein auf dem Court.
Lenell warf Dreier und in seinem Kopf geisterte das Konzept des Kaloriendefizits herum. Um das Defizit zu vergrößern, machte er zwischendurch einen Linienlauf. Schon oft hatte er überlegt, zu Hause ein paar Fitnessgeräte aufzustellen, aber bislang war er nicht gänzlich überzeugt. Er beharrte darauf, nicht nur des Effekts halber Sport zu betreiben, gleichzeitig fragte er sich, ob er vielleicht noch mehr Freude am Basketball haben würde, wenn er besser in Form wäre. Es war mühsam. Lieber fantasierte er sich in Spielsituationen und warf weiter Dreier. Er stellte sich vor, von einem Liebhaber Helens herausgefordert zu werden, und versenkte daraufhin fünf Dreier in Folge, beseelt von leichter Abneigung, die ihn anstachelte. Er schaute grimmig, flexte ins Nichts. Möwen flogen über den Platz, Lenell atmete den Duft der Wildkräuter ein.
Das Leben ist okay, dachte er. Das Leben ist unzumutbar. Das Leben ist desaströs. Das Leben ist eine Mutter, die Luftballons zerstört. Lenell war neun Jahre alt gewesen, als sich seine Eltern entschieden auseinanderzuziehen, statt sich zu trennen. Der Vater wollte den Alkoholismus der Mutter nicht mehr aktiv mittragen, aber er war nie sonderlich konsequent gewesen, er kompromisste herum, behielt die drei älteren Kinder, während Lenells kleiner Bruder Levin mit der Mutter in eine andere Wohnung umsiedelte. Weil er den kleinen Bruder beschützen wollte, pendelte Lenell zwischen den Elternhäusern. Seine Mutter erlebte er zugewandt und lustig, bis sie kippte, wonach sie herrschsüchtig und unerbittlich wurde. Lenell fürchtete sich vor der Kippmutter und war bemüht, sich zwischen die Kippmutter und seinen kleinen Bruder zu stellen. Seinen Vater verachtete er, weil er seine Kinder der Kippmutter überlassen hatte. So kam es letztlich dazu, dass Lenell von allen Geschwistern am meisten unter der Kippmutter gelitten hatte. Die größeren Brüder pubertierten beim Vater herum. Sein kleiner Bruder wurde beschützt von ihm, während er selbst schon früh zum Seismologen wurde und leider auch zum Märtyrer der Kippmutter gegenüber, zu Luftpolsterfolie, die sich um seinen kleinen Bruder wickelte. Manchmal haute er ab, um die Aufmerksamkeit von seinem kleinen Bruder zu nehmen, wenn Levin beispielsweise schlechte Zeugnisse oder Scherereien hatte, während die Kippmutter zu kippen drohte. Zwar provozierten Lenells Fluchtversuche Eruptionen bei der Kippmutter, komischerweise wurde sein jüngerer Bruder dadurch aber verschont. Lenell war ein Wellenbrecher, ein wandelnder Wellenbrecher, sein kleiner Bruder war das Ufer. Lenell war immer vorgelagert, er lagerte sich selbst vor, Lenell war den Kippmomenten immer ausgesetzt. Mit elf Jahren hatte er begonnen, Basketball zu spielen, und jedes Mal nahm er seinen kleinen Bruder mit raus auf den Court, mit ins Training, um ihn sicher zu wissen.
Neben dem Quad lagen Helen und Mateo im Gras, mit kribbelnden, halb befriedigten Körpern. Mateo nahm sein Shirt und wischte Sperma von Helens Bauch. Sie unterdrückte ein Lachen. Sie sagte, Mateo solle sie lecken, und Mateo leckte sie, bis sie kam. Als Helen die Augen öffnete, sah sie in der Ferne eine Rehherde rennen.
»Schau«, sagte sie.
Mateo richtete sich auf. Sein Kinn glänzte.
»Dein Kinn glänzt«, sagte Helen.
Er wischte sich mit dem Handrücken drüber.
»Besser?«, fragte er.
»Ja«, sagte Helen.
»Was jetzt?«, wollte Mateo wissen.
»Hast du Schokoriegel mitgebracht?«
»Nein.«
»Andere Snacks?«
»Nein.«
»Schade.«
»Ich hol welche«, sagte Mateo.
Er zog sich an, stieg aufs Quad und raste los. Helen schaute ihm nach. Bald spürte sie Kacheln unter ihren Füßen, nasse Kacheln, zuerst war die Grassteppe noch da, aber die Kacheln breiteten sich aus und die Grassteppe verflüchtigte sich, Helen tappte ein paar Schritte umher, ging in die Hocke und berührte die Pfütze, nahm die Veränderungen der Lichtreflexionen wahr, aber dann schlief sie im Schwimmbecken ein, brach rücklings durch die Kacheln und fiel in einen darunterliegenden Raum, der aus einzelnen Kacheln und Schwärze bestand, uferloser Schwärze, und es fühlte sich warm an zu fallen, wo fallen nicht möglich war.
Als sich Mateo wieder näherte, verwandelte das Dröhnen des Quadmotors die uferlose Kachelschwärze in eine vielleicht ektoplasmatische Hülle, die Helen bedrückte und deren Dichte ständig zunahm. Sie öffnete die Augen, ohne sich zu erinnern, blanke Blicke, die schnell wieder auf der Umgebung hafteten, die verklebten mit der Persönlichkeit oder insistierten in der Persönlichkeit, die Helen vermutlich war.
»Willst du lieber Milky Way oder Twix?«
»Milky Way.«
»Hier.«
»Danke, dass du Snacks geholt hast, du bist mein favorisierter Lieferservice. Fünf Sterne.«
»Das ist kein sehr ehrenwerter Titel.«
»Moment mal. Das ist extra ehrenwert.«
»Sagst du. Ehrlicherweise bin ich im Umkreis von vielen Kilometern der einzige Lieferservice.«
»Na gut, ich sehe es ein. Ich find’s wirklich ehrenwert, dass du Snacks geholt hast.«
»Gern geschehen.«
Mateo legte sich hin, so, dass sein Kopf auf Helens Schoß Platz fand. Sie biss vom Milky Way ab und strich dabei auf Mateos Kopfhaut rum. Die Zellophanhülle des Twix war so golden und schimmrig, dass Helen wieder an die Sonne denken musste.
»Sag mal«, sagte er. »Ich habe dich im Internet gesucht und bin auf die Story mit den gestohlenen Bildern gestoßen.«
»Die Story ist mein öffentliches Leben.«
»Was ist mit den Bildern?«
»Ich weiß nur, dass noch immer ermittelt wird. Aber es gibt weder Hinweise auf die Täter noch auf den Verbleib der Bilder.«
»Gar nichts?«
»Im Winter rief mich eine Ermittlerin an und sagte, kurzzeitig seien zwei der gestohlenen Bilder auf einer Auktionsplattform aufgetaucht. Aber sie konnte bislang nichts erreichen.«
»Wollte sie die Bilder kaufen?«
»Ja, genau.«
»Belastet es dich?«
»Kaum. Ich meine, ich habe viele Bilder gemalt. Ich werde noch viele Bilder malen. Und ich habe wirklich ordentlich Geld bekommen von der Versicherung. Ich rechne nicht damit, dass die Bilder auftauchen werden.«
»Und wie lange wirst du eigentlich noch bleiben?«
»Hier?«
»Ja, im Forschungslager.«
»Zwei Tage, Mateo.«
»Zwei Tage?«
»Exakt.«
»Meinst du das ernst?«
»Ja, mein Flug ist gebucht.«
»Und warum haben wir so lange gewartet?«
»Das Leben ist ein Tumult von Ereignissen.«
»Das ist kein Grund.«
»Es ist eine Begründung.«
»Wow, jetzt noch Haarspalterei.«
»Was ist los?«
»Ich bin angepisst, ich ärgere mich über mich selbst.«
»Vielleicht treffen wir uns ja nächstes Jahr wieder.«
»In einem Jahr?«
»Ja, warum nicht? Du wirst in London sicher auch ein paar Flings haben.«
»Ja, ich habe Flings.«
»Na also. Betrachte mich als deinen Permafrostfling.«
»Ich find’s nicht komisch.«
»Ich schon.«
»Aber warum?«
»Wir sind Mittdreißiger, die in der Steppe ficken. Denkst du, wir beide haben nur darauf gewartet?«
»Ich vielleicht schon …«
»Tut mir leid, das war unsensibel von mir. Ich bin froh, dass wir in dieser Steppe liegen. Aber du weißt, Darling, ich bin versprochen.«
»Ich bin nicht so humorig drauf gerade.«
»Okay, ich habe mich selbst versprochen. Deshalb ist es für mich aber nicht unschöner, in der Steppe mit dir Sex zu haben und Snacks zu essen.«
»Aber wenn du nicht versprochen wärst …«
»Mateo, ich bitte dich.«
Eine Stechmücke landete über Mateos linker Augenbraue und wollte ihren Rüssel in sein Fleisch piksen.
»Mateo, eine Stechmücke auf deiner Stirn. Soll ich sie töten?«
»Nicht töten«, antwortete Mateo.
Helen verscheuchte sie und verfolgte dann genauestens ihren weiteren Flug. Die Stechmücke entfernte sich.
»Jetzt juckt es«, sagte Mateo.
Alles, was Helen an Zuneigung für ihn empfand, sammelte sie in ihrer Zeigefingerspitze und erlöste ihn von seinem Juckreiz. Er bekam es nicht mit.
Dann kam die Phase, in der die Kippmutter eine parallele Beziehung zu einem Zweitmann begann. Jetzt hielt sie sich mit ihren psychopathischen Auslassungen Lenell gegenüber zurück, weil sie ihn brauchte. Wenn sie teilweise tagelang beim Zweitmann war, nahm sie Lenell in die Pflicht, sich um seinen kleinen Bruder zu kümmern. Lenell bekam fünfzig Euro und einen Zettel, auf dem er alle Ausgaben mit Belegen verzeichnen musste. Er stellte den Wecker auf 6:30 Uhr, machte Müsli und sorgte dafür, dass sein Bruder rechtzeitig zur Schule kam, er half ihm bei den Hausaufgaben, wusch Wäsche, staubsaugte etc. Nachmittags gingen Lenell und Levin Basketball spielen, danach schauten sie zuerst Comedyserien und anschließend Actionfilme im Fernsehen. Oder sie spielten Konsole, Atari, Nintendo, Playstation.
Vor allem Street Fighter II hatte es ihnen angetan, seit einem Familienurlaub in Südfrankreich. Das war passiert, bevor sich die Eltern zu ihrer Teiltrennung durchgerungen hatten. Sie waren auf einem kleinen Zeltplatz gewesen, in der Nähe von Avignon, in einem Pinienwald. Damit die Eltern ihre bröckelnde Zweisamkeit ausleben konnten, versorgte der Vater seine Kinder mit Münzgeld und schickte sie in eine Bar, wo sich verschiedene Arcade-Automaten befanden. Zunächst waren es die älteren Brüder gewesen, die Street Fighter II spielten, während Lenell und Levin danebenstanden und mitfieberten. Aber wenn einer gewann, gewannen sie alle miteinander. Es stellte sich allerdings heraus, dass Lenell sehr geschickt im Umgang mit den Joysticks und Knöpfen war, und so kam es, dass er die Phalanx der Brüder am Automaten repräsentieren durfte. Anders als seine älteren Brüder kämpfte Lenell ausschließlich mit Ryu, und bald war er so erfolgreich, dass die Brüder mit dem Münzgeld des Vaters viele Stunden spielen konnten. Manchmal bekamen sie vom Vater extra Geld für 7up in Dosen oder Fruchtsäfte in kleinen Glasflaschen oder Bum-Bum-Eis. Es waren feierliche Tage gewesen, unbehelligt von den Eltern, eingenommen von einer unproblematischen jugendlichen Spielsucht, in einer urlaubshaft beschwingten Realitätshülle, deren Wahrnehmung pixelig von der Spielwelt mitgeprägt war. Permanent führte Lenell frenetische Kicks aus, es kam zu Showkämpfen zwischen den Brüdern – im Freibad, im Waschhaus, auf dem Bouleplatz, in der Bäckerei. Nie wieder waren sich die Brüder so verbunden gewesen, nie wieder hatten sie sich so unabhängig gefühlt.
Aber diese Erinnerungen hielten Lenell und Levin nicht davon ab, nächtelang im Wohnzimmer zu sitzen und Street Fighter II auf der Playstation zu spielen. Diesmal war es allerdings so, dass die Kippmutter unangekündigt erscheinen konnte, beispielsweise nach einem Streit mit ihrem Zweitmann. Dann lud sie all ihre Frustration bei Lenell ab. Lenell schickte seinen kleinen Bruder ins Bett, ließ sich verfluchen, beschimpfen, weil er nicht achtgegeben hatte, weil er nicht aufgepasst hatte, weil er verantwortungslos gewesen war. In diesen Momenten konnte es absurderweise auch zu einem Gegenkippen kommen, zu einem Umschwung, der dazu führte, dass sich die Kippmutter entschuldigte, vielmals entschuldigte, stark alkoholisiert entschuldigte, für ihre Grausamkeit, dass sie weinte und um Vergebung bat, dass sie Lenell plötzlich ins Vertrauen zog, ihm ausführlich von ihren Männerproblemen berichtete, ihrer Hin-und-her-Gerissenheit, ihren Gewissensbissen. Schweiß auf Lenells jugendlichen Wangen. Auf einmal war Lenell notwendig für die Kippmutter geworden. Er, der verständnisvoll aus Furcht war; er, der Erdbeereis serviert bekam; er, der detaillierte Einblicke in die Beziehungen erhielt, die ihn schauern ließen, die er nicht deuten konnte.
Viel später erst, Lenell war erwachsen und hatte den Kontakt zu seinen Familienmitgliedern komplett abgebrochen, erfuhr er durch einen obskuren Brief seines Vaters, dass die Kippmutter in ihrer eigenen Kindheit missbraucht worden war. Sein Vater äußerte die Hoffnung, Lenell könne über das, was womöglich in seinem Aufwachsen vorgefallen sei, hinwegsehen.
Das, was vorgefallen war? Das Leben?
Da erst, in seiner Erwachsenenexistenz, war diese Rage, die jegliche Rationalität flutete, in Lenell vollständig ausgebrochen; diese Rage, die in ihm Kernschwund verursachte; diese Rage, die seine Außengrenzen überdeutlich vibrieren ließ, die seine Haut schorfig machte. Hatte seine Mutter ihr ganzes Leben in Notwehr verbracht? Hatte sie ihm nichts angetan? War das Verhalten seiner Mutter entschuldbar geworden? Er wusste nicht mehr, wie er sich verhalten sollte.
Bevor Helen zurück nach Egio konnte, musste sie einen Zwischenstopp in Paris einlegen, wo sie ein neues Buch vorstellen würde. Ihre Galeristin hatte nach dem Raub in Lelystad eine Zusammenarbeit mit einem international renommierten Kunstbuchverlag eingefädelt. Zum Glück hatte das Raumfahrtmuseum schon hochwertige Reproduktionen der Bilder anfertigen lassen – diese Abbildungen bildeten den Hauptteil des Buches, nebst Songtexten von Lynn Kern sowie einigen Texten von Kunstkritikerïnnen und Schriftstellerïnnen, die Helen sympathisch waren und die sie in den Jahren ihrer Karriere kennengelernt hatte. Sie selbst hatte ein paar Tagebuchnotizen und Zeichnungen und Smartphonefotos aus Lelystad bereitgestellt, zudem hatte Bianca ein Interview mit ihr geführt. Eine alte Freundin, die damals mit Helen an der Pariser Kunstakademie studiert hatte, war für die Gestaltung des Buches verantwortlich gewesen. Es sah nach einem sehr kunstigen Kunstbuch aus, aber es war auch ein Dokument der Beklemmung, die Helen unter Normalnull verspürt hatte.
Bianca war fünf Jahre älter als Helen und kam mit ihrem Moped zum Flughafen. Sie winkte dieses herzliche, gut gelaunte, einnehmende, anrüchige Winken. Sie trug einen tiefblauen Blazer und einen karamellfarbenen Rock. Während Helen auf sie zulief, auf dem im Mittagslicht schimmernden Beton, holte Bianca einen zweiten Helm aus dem Stauraum unter dem Sitz. Sie wollte Helen umarmen und küssen, was durch den Helm, den sie jetzt mit beiden Händen hielt, allerdings erschwert wurde. Helen und Bianca beugten ihre Oberkörper kompliziert aufeinander zu. Dabei mussten sie lachen. Ein Taxifahrer hupte, weil Bianca im Halteverbot gewartet hatte.
»Warum hast du den Helm nicht noch etwas drin gelassen?«, fragte Helen.
»Keine Ahnung«, sagte Bianca. »Effizienz.«
»Wir sind gerade einhundertfach ineffizient.«
Helen drehte sich um und beschwichtigte den Taxifahrer. Sie stülpte sich den Helm über und kletterte hinter Bianca aufs Moped. Bianca war der Meinung, dass Helen mehr Zeit in Metropolen verbringen sollte, zumindest in Paris. Aber Bianca wusste auch, dass Helen in Egio besser und konzentrierter arbeiten konnte. Abgesehen davon, dass sie eine gute Galeristin war, lag ihr Helen am Herzen. Helen war eine der ersten Künstlerinnen gewesen, die sich nach der Gründung ihrer Galerie angeschlossen hatten. Sie waren gemeinsam erfolgreich geworden. Zwar verhinderte ihre Geschäftsbeziehung eine wirkliche Freundschaft, aber sie waren einander verbunden auf eine Weise, die Schwellen zu verschiedenen, nichtgeschäftlichen, zwischenmenschlichen Ausgestaltungen aufscheinen ließ. Da beide allerdings um den Wert ihrer Geschäftsbeziehung wussten, bewegten sie sich elegant um die aufscheinenden Schwellen herum. Helen umfasste geschäftlich die Hüfte von Bianca und ließ sich durch Paris fahren. Mittagsverkehr. Bianca manövrierte rigoros zwischen Autos und Lastern, die ihr meistens nicht gedankenschnell oder ruchlos genug waren. Helen kannte das bereits. Sie blieb ruhig. In ihrem Rucksack hatte sie nur das Nötigste. Ihr Gepäck und ihre künstlerischen Arbeiten aus dem Permafrost waren direkt nach Egio geschickt worden. Während der Fahrt drehte Bianca ihren Kopf und schwärmte davon, wie außergewöhnlich das Buch geworden sei. Noch bevor sie in den Permafrost gereist war, hatte Helen die Druckfreigabe erteilt. Seitdem war ihr das Buch in Vergessenheit geraten. Sie hatte die Angewohnheit, sich schnell neuen Projekten zuzuwenden. Sie mochte das Malen, nicht die fertigen Bilder, sie mochte das Denken, nicht das Gedachte, sie mochte das Aufbrechen, nicht die Inventur. Während sie etwas tat, vor allem künstlerisch, prüfte sie ihre Realitätsvorstellungen, danach blieb nur übrig, sich mit dem Geschaffenen zu arrangieren. Wenngleich Helen versuchte, kaum über das, was sie getan hatte, nachzudenken. Was es hauptsächlich zu bedenken galt, war das Nichtnutzen ihrer Kräfte. Sie konnte sich dem Malen hingeben, aber nicht der Weltveränderung. Vielleicht sollte sie sich dagegen nicht mehr wehren. Wie auch immer. Am Abend würde sie in einem Museumsshop mit einer hochgehandelten Philosophin über ihr Buch sprechen. Eine junge Schauspielerin würde zwischendurch ausgewählte Textstellen lesen und Songs von Lynn Kern performen. Danach würde es rosa Champagner geben. Darauf hatte Helen bestanden. Anschließend eine Nacht auf der Ausziehcouch von Bianca, morgens Kaffee aus der Zehntausendeuroespressomaschine und dann endlich nach Egio.
Gefühlt jeden Kilometer kamen sie an bronzenen Statuen vorbei, Verkörperungen irgendwelcher soldatischen, breitbrüstigen Männer, die mit ihren Lanzen auf überlebensgroßen Rappen hockten. Immer wieder tauchte zwischen Häuserschluchten der Eiffelturm auf. Am Himmel die Sonne. Der angenehme Schatten der Platanen. Die turbulenten Rondelle. Das unsägliche Kopfsteinpflaster. Der parfümierte Nacken von Bianca. Die aufgeheizten Kunstledersitze. Helens müder Kopf, ein bisschen eingezwängt im Helm. Was würde sie sagen? Wieder würde Helen mit der Vorannahme konfrontiert werden, dass der Raub ihrer Bilder existenziell einschneidend für sie gewesen sein müsste. Und sie würde dagegen vorgehen, jedes Mal musste sie dagegen vorgehen. Diesmal wollte sie, wenn es besonders unbehaglich werden sollte, von Lenell erzählen. Was nutzten diese monokausalen Wohlfühlgeschichten in einer Welt, die auseinanderbrach? Es gab diese Sehnsucht nach Geschichten, die davon berichteten, wie Widrigkeiten überkommen wurden. Aber während vielleicht Einzelschicksale Einzelwidrigkeiten überkommen konnten, gab es noch die ontologischen Widrigkeiten, die scheinheilig übersehen wurden. Weißt du, was existenziell einschneidend war, nach meinem Aufenthalt in Lelystad? Nein? Ich hatte mir in einer Apotheke in Lelystad eine Sauerstoffkartusche und eine Atemmaske gekauft, weil ich es unheimlich fand, dass die Stadt zu großen Teilen unter dem Meeresspiegel gebaut ist. Ich hatte Angst, dass ich Atemnot bekommen würde, dass meine Lunge schrumpfen könnte. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Okay, dann wurden meine Bilder geklaut. Das stimmt. Ich sehe es ein, von außen wirkt das aufregend. Aber es hat mich nicht aufgeregt. Weißt du, was danach passiert ist? Ich kam heim, ich wohne ja in Griechenland. Du musst wissen: Mein Partner hat ziemlich schlimme Depressionen. Es gibt Phasen, in denen er fast suizidal ist. Vielleicht ist er sogar suizidal. Ich will es nicht beschönigen. Ich kenne den Unterschied nicht zwischen fast suizidal und suizidal, wenn es überhaupt einen Unterschied gibt. Trotzdem macht er seine Arbeit. Er ist Seismologe. Manchmal ist es hart, aber es gibt Tage, an denen wir gemeinsam viel Spaß haben. Ich kam also zurück. Wir haben ein schönes Haus, einen Bungalow, der an einen Hang gebaut ist. Man sitzt auf der Terrasse und schaut zwischen Kiefern auf die Stadt, auf den Golf von Korinth. Mein Partner war in einer fürchterlichen Verfassung, als ich zurückkam. Ich merkte es sofort. Er hatte auf mich gewartet. Ich meine damit nicht, dass er vor der Tür hockte und tagelang wartete, bis ich wiederkommen würde. Eher mental, er hatte mental auf meine Rückkehr gewartet und sich bis dahin durch sein Leben geschleppt. Wir tranken Kaffee. Wir setzten uns in den Garten, auf niedrige Bastsessel, die wir vor ein paar Jahren mal am Straßenrand gefunden haben. Ein paar Minuten später bekam er einen Anfall. Ich weiß nicht, was für ein Anfall es war. Er kippte vom Stuhl, fasste sich an die Brust. Es war kein Herzinfarkt. Sagen wir, ein psychischer Horror hat ihn erfasst, ein Krampfanfall. Er röchelte und blickte mich an. Dann schrie er. Dann röchelte er wieder. Ich nahm seine Hand. Es wirkte, als würde er keine Luft bekommen. Ich sagte, er solle in seinen Bauch atmen. Ich rannte rein und holte die Sauerstoffkartusche aus meinem Gepäck. Ich präparierte die Atemmaske und den Schlauch daran und rannte wieder raus. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich setzte meinem Partner die Atemmaske auf und ließ Sauerstoff laufen. Dabei umfasste ich seinen Rücken. Sein Gesicht war rötlich, er schwitzte. Ich muss dazusagen, dass ich mal einen Bildband über die Geschichte der sowjetischen Sanatorien hatte, und da wurde scheinbar viel Sauerstofftherapie angeboten. Mehr wusste ich nicht. Das ist nicht mal Wissen wahrscheinlich. Es ist nur Idiotie. Aber es wirkte. Mein Partner saugte den Sauerstoff in seine Lunge und begann, sich zu beruhigen. Als er wieder halbwegs beisammen war, sagte er, dass er sich fühle wie ein Luftballon. Dabei saugte er weiterhin den Sauerstoff ein. Er sagte, er fühle sich wie ein bedrohter Luftballon. Ich sagte, dass ich die Kartusche für ihn mitgebracht habe, obwohl es nicht stimmte. Er wusste, dass es nicht stimmte, ließ es sich aber nicht anmerken. Auch ich ließ mir nichts anmerken. Ich sagte, ich würde ihn wieder auffüllen mit Sauerstoff. Er sagte, die Bedrohung könne auch sein, dass er platzen würde. Ich sagte, ich würde versuchen, mich um Balance zu kümmern, obwohl mir klar war, dass ich das nicht vermochte. Wie soll man Balance in einen anderen Menschen bringen? Kann mir das irgendjemand verraten? Es wäre hilfreich für mich. Jedenfalls, egal. Später an dem Tag bestellte ich online einen Vorrat an Sauerstoffkartuschen. Wenn man dieser Hilflosigkeit und diesem Auseinanderfallen beiwohnt, und wenn der Mensch, der so hilflos ist und auseinanderfällt, der Mensch ist, den man liebt, ich weiß nicht, was sollten mich geklaute Bilder interessieren? Vor allem, ich wurde für die Bilder sogar bezahlt, verstehst du? Es ist so, als wären alle Bilder der geplanten Ausstellung verkauft worden, ja, noch bevor die Ausstellung eröffnete. Es tut mir leid, aber ich verstehe die Obsession nicht. Ich bin doch nicht an den Bildern interessiert, die ich gemalt habe, sondern an denen, die ich noch malen werde.
Diesmal war Lenells Verfassung stabiler. Am Bahnhof von Egio wurde Helen von ihm empfangen: Er lehnte an seinem Pick-up, mit kurzen, blondierten Haaren, mit Leopardenmuster-Tanktop, mit Chinos, mit Birkenstocks. Helen rannte auf ihn zu, hüpfte auf ihn drauf und küsste ihn. Anschließend wendete sie ihren Kopf, die Beine um Lenells Hüfte geschlungen, um den Feigenberg zu begrüßen: Ein 1843 Meter hoher Berg, dessen Gipfel sie auch aus ihrem Atelier heraus sehen konnte. Es war später Nachmittag. Lenell erzählte, dass es im Garten nach Zitronenmelisse und Orangenblüten duftete, dass er zwischenzeitlich nur eine halbe Tavor genommen hatte, und zwar weil seine Finger so gezittert hatten beim Zusammenkleben und Bemalen eines Modellautos, eines Chevrolet Chevelle, der jetzt seine Sammlung an Muscle-Cars erweitern würde. Sein Blockseminar, das er in Patras gegeben hatte, war problemlos verlaufen. Helen wusste es bereits aus seinen Nachrichten, aber sie wollte einen ausführlichen Bericht. Ihrer Meinung nach war Lenell gut darin, Wissen zu vermitteln. Und sie interessierte sich zumindest rudimentär für die geologischen Grundlagen, auf denen Lenells Forschung basierte. Die Verwerfung unter Egio war friedlich geblieben, unzuckend, unrumorend. Die Platten schmiegten sich aneinander. Auch jetzt. Das vergaß Helen eigentlich ständig: dass sie sich gerade aufgrund der Milde der Platten wiedersehen konnten. Einmal, bei einem Zusammenstoß, würde vielleicht sogar der Feigenberg weiter wachsen, signifikant wachsen.
Was auf der Plattenoberfläche passierte, war also das Wiedersehen von Helen und Lenell.
Der Parkplatz war aus Flüsterasphalt gegossen worden. Helen liebte Flüsterasphalt. Lenell atmete ihren Körpergeruch ein, er vergrub sich in ihren Haaren. Er sah die Sonnenstrahlen durch ihre Haare. Helen wartete, bis die anderen Menschen verschwanden, und wünschte sich, dass Lenell sie im Kreis fahren würde auf dem lautlosen Parkplatz. Und beinahe geräuschlos kreisten sie, sie hielt ihren Kopf aus dem offenen Fenster, hörte die Zikaden, das Windrascheln der Olivenbäume, das Sonnenknistern der zufälligen Gräser, deren Samen den Brachrändern zugefallen waren, die entsprungen und gewachsen waren. Helen bewunderte ihr ausgeblichenes Dazugehören, das ohne Verhaltensauffälligkeiten auskam. Sie wusste den Berg in ihrem Rücken, neben sich, vor sich, sie umgriff die Kopfstützte ihres Sitzes, ließ ihr Haar im Fahrtwind beben, nahm Lenells Hand und empfand andererseits die Hitze der dunkelblauen Karosserie. Dann reichte es und Helen verfrachtete ihren Oberkörper ordentlich ins Wageninnere. Sie nahm sich eine Dose voll Birnensoda aus der Mittelkonsole. Beim Anziehen der Aluminiumlasche brach oval die Trinköffnung auf. Helen ließ es langsam passieren. Es zischte entsprechend der Rundung. Ein bisschen Kohlensäureschaum schwappte heraus.
»Wollen wir zur Lagune?«, fragte Lenell.
Helen nickte. Meistens suchten sie zuerst die Lagune auf, wenn Helen von ihren Reisen zurückkehrte. Sobald Lenell Auto fuhr, veränderte sich sein Gehabe und er maximierte all seine fragwürdigen Speedracerpotenziale. Seine Unsicherheit verschwand und eine fast urkomische Souveränität verkörperte sich. Jedes Mal war Helen überrascht von dieser Umkehrung. Sie fragte sich, warum Lenell nicht einfach Lieferant wurde, ein Driver, ob er dadurch eine andere Lebenspraxis verinnerlichen würde, eine Lebenspraxis, die ihn seiner Fragwürdigkeit enthob, die ihn normaler machte, enthalten in der Welt. Lenell wusste nicht, ob er in der Welt enthalten war, oder ob er überhaupt enthalten sein wollte. Aber es war tatsächlich auffällig, wie gerne er Auto fuhr, beziehungsweise wie sich Autofahren für ihn anfühlte, nämlich erhaben und bestimmend. Das war ihm in einer höheren Ordnung unangenehm, aber während er schaltete und schaute und beschleunigte, war ihm nichts unangenehm, sondern er speedete einfach, er speedete passgenau durch die Wirklichkeiten voraus. Dazu noch seine zusammengebastelten Muscle-Cars. Man hätte meinen können, dachte Helen oft, man hätte meinen können, oder man könnte meinen. Immerhin bestärkte Speedracer-Lenell ihre Überzeugung, dass es noch andere Versionen gab, nicht so multiversumsmäßig, auch nicht essenzialistisch auf verschiedene Kerne hinweisend, sondern im tagtäglichen Ausagieren betrachtet, die Frage andeutend, ob er sich schließlich doch noch mit seinem Enthaltensein in der Welt anfreunden könnte. Ob es Entscheidungen gab, die Lenell treffen könnte zugunsten seines Überlebens. Vielleicht war das auch zu eindeutig gedacht, vielleicht war das Überleben nur eine Teillösung.
Es war nicht weit zur Lagune. Bald stiegen sie aus dem Pick-up und spazierten am Strand entlang, um das abgetrennte Feuchtgebiet herum. Herausgelöst aus dem Speed des Fahrens veränderte sich Lenells Körperhaltung, die Wirbelsäule krümmte sich mehr – eine Schwere, die ihn stets verfolgte, hatte ihn wieder eingeholt und lag treibsandig auf seinen Schultern. Obwohl er auf seine Haltung achtete, war es, als würde er seinen Oberkörper immer leicht nachziehen, als würden die Verhältnisse ihn hindern. Schilf wuchs übermenschlich um die Lagune, am Horizont lagerten Hügelketten. Im Gewässer staksten rosa Flamingos. Lenell sympathisierte mit den Blesshühnern. Helen sympathisierte mit den Pelikanen. Allerdings hatten sie erst einmal einen Pelikan beobachten können, während Blesshühner immer zugegen waren. Mit der deutlich spürbaren Sonnenwärme im Rücken erzählte Helen jetzt doch, dass sie ein paar Tage lang das Gefühl gehabt hatte, die Sonne nicht mehr wahrnehmen zu können, aufgrund der Schwüle und der feinen Schleierwolkenschicht und diesem grellen, grieselnden Grau des weit aufgeklappten Himmels. Ein bisschen Abstand und sie konnte Lenell alles erzählen. Solange er nicht unmittelbar betroffen war oder betroffen sein könnte, war er vernünftig. Sprich nicht in den Geschehnissen mit ihm, sagte sie sich manchmal, sprich mit ihm außerhalb der Geschehnisse. Es tat gut, sich mitzuteilen. Lenell legte seinen Arm um Helen. Er roch sonnencremig und rassierwasserhaft. Helen fuhr mit der Hand unter sein Shirt und streifte durch den verschwitzten Rückenflaum. Das wollte sie, danach hatte sie sich gesehnt.
Sie kamen zum Kiosk: ein umfunktionierter, alter Wohnwagen, sporadisch umgeben von einer Einfriedung aus gebundenen Bambusrohren. Unter blauen, leicht nach Westen gekippten Sonnenschirmen, deren Fußbehältnisse mit Sand gefüllt waren, befanden sich Plastiktische und Plastikstühle. Zerfledderte Wimpelketten waren an hölzernen Strommasten befestigt. Unter dem aufgebockten Wohnwagen schliefen zwei schwarze Katzen. Dahinter wuchsen Tamarinden und Silber-Pappeln.
Während sie Kiwi-Eisbecher auslöffelten, kapierte Helen plötzlich, dass Lenell eine Sonnenbrille trug. Jedes Mal verpasste Helen den Moment, in dem Lenell seine Sonnenbrille aufsetzte. Sie vollzogen ihre Unternehmungen, und irgendwann hatte Lenell eine Sonnenbrille auf. Helen sprach mit ihm nie darüber. Sie wunderte sich nur. Mit ihren Augen suchte sie verstohlen Lenells Hosentaschen nach Umrissen des Etuis ab. Sie meinte, daran mitkriegen zu können, wie oft sie unaufmerksam war. Oft. Der Feigenberg spiegelte sich in den Gläsern der Sonnenbrille. Hinter Lenell, im Golf, sah Helen eine kleine Insel. Meine Güte, dachte sie.
»Lenelli«, sagte sie.
»Was ist los?«
»Pass auf. In einem Gespräch ging es darum, wo wir wohnen. Und ich meinte so: Egio, ich wohne in Egio. Ich dachte, niemand weiß, wo Egio ist. Wie immer. Aber ein Forscher, Mateo, erzählte mir, dass auf dieser Insel da« – (sie zeigte mit ihrem Zeigefinger an Lenells Kopf vorbei, woraufhin Lenell den Kopf drehte) – »ein Spechtmensch lebt. Der Spechtmensch versucht angeblich, ausgestorbene Koräenkiefern aufzuziehen.«
Lenell hob sein Gesäß und richtete seinen Stuhl unter sich neu aus. Mit kleinen Schritten vollzog er eine Drehung. Weil Helen nicht in seinem Rücken sitzen wollte, trug sie ihren Stuhl um den Tisch und setzte sich neben Lenell. Sie schlürfte das zurückgebliebene, geschmolzene Vanilleeis aus dem Becher. Sie bestellte sich ein Birnensoda.
»Willst du auch?«
»Ja«, sagte Lenell.
Sie korrigierte ihre Bestellung und orderte zwei Birnensodas. Gemeinsam bestarrten sie die besagte Insel.
»Ich war doch sogar schon dabei, wie du da Seismografen aufgestellt hast«, meinte Helen.
»Ja«, sagte Lenell.
»Wie viele Menschen leben da?«
Man konnte eine Siedlung am Ufer ausmachen, der ein kleiner, schroff betonierter Hafen vorgelagert war. Ein paar Yachten und Segelboote waren an den Kais vertäut. Auf einer Anhöhe standen weitere Häuser, Kiefernwälder okkupierten die Hügelflanken, Olivenhaine, Felsformationen.
»Ungefähr zweihundertfünfzig«, sagte Lenell. »Dazu noch Urlauber und Tagestourismus.«
Er kannte die Bevölkerungszahlen der Gemeinden und Inseln im gesamten Gebiet.
»Hast du dort schon mal was von einem Spechtmensch gehört?«
Überlegend öffnete Lenell die Lippen.
»Na ja«, sagte Helen. »Ich würde morgen gerne mal auf die Insel fahren und mich dort umsehen.«
»Warum genau?«
»Mich interessiert, was es damit auf sich hat. Und wie die Koräenkiefern wachsen. Was meinst du?«
»Wie die Koräenkiefern wachsen?«
»Nein, Lenelli, kommst du mit?«
»Okay, ja.«
Sie tranken ihre Birnensodas. Anschließend fuhren sie nach Hause. Tatsächlich, der schattige Garten war überquellend vom Orangengeruch. Helen stützte sich mit den Handflächen gegen den Stamm der Zeder. Lenell sagte, dass er Lasagne gebacken habe. Zunächst lief er ums Haus, um den Granatapfelbaum vor Helens Atelier zu gießen. Helen wiederum ging ins Badezimmer und duschte. Auf dem Weg bemerkte sie drei gelbe Luftballons, die aufgeladen im Flur an der Decke klebten.
Sie aßen im Bett. Danach zeigte Helen Lenell ihr neues Buch. Die Begutachtung des Buches ging über in Zärtlichkeiten, die wiederum übergingen in Sex. Verknäult schauten sie auf Lenells Laptop eine Reality-TV-Show, bis sie bekloppt wurden. Bekloppt von den generischen und urhohl sich tradierenden Lebensweisheiten. Bekloppt holten sie mehr Lasagne, bekloppt wussten sie wiederkauend, dass sie einander dazu inspirierten, die besten Versionen ihrer selbst zu sein, bekloppt wussten sie wiederkauend, dass sie unentschuldbar sie selbst waren. Leider weiß man das im nichtbekloppten Zustand nicht mehr, dachte Helen, oder man weiß es, aber meint es anders. Man bleibt unentschuldbar man selbst, hält es aber schwerer aus. Man weiß, dass es unentschuldbar ist, sich nicht in etwas anderes zu verwandeln, sondern verheddert zu bleiben. Es erklärt nichts, unentschuldbar zu sein. Unentschuldbar zu sein bedeutet auch nur, schuldig zu sein. Ungefähr das dachte Helen im Halbschlaf. Aber es ist ungenügend, dachte sie ebenfalls im Halbschlaf. Es ist vermutlich möglich, nicht so fatalistisch darüber zu denken, dachte sie. Dem eigenen Handeln mehr Eigenmacht zugestehen. Aber jetzt ist es nicht möglich. Wegen des Halbschlafs. Der Halbschlaf pervertiert die Eigenmacht. Ihre Hand lag auf Lenells Bauch, der sich wölbte und einsank. Er war bereits eingeschlafen. Helen erhob sich, kippte torkelnd das Fenster, machte die Lichter aus, klappte den Laptop zu. Von draußen hörte sie raschelnde Kiefernnadeln, torkelnde Palmwedel, Bambus, entfernte Motorengeräusche.
Im Morgengrauen erwachte Helen, ungewollt frühzeitig, aber elektrisiert. Sie schlich sich aus dem Schlafzimmer heraus, verschloss leise die Tür. Während sie Zähne putzte, kochte sie Espresso. Rührend kochte sie anschließend Haferbrei mit Apfelstückchen. Dann ging sie, bekleidet mit einer Boxershorts von Lenell und einem alten XXL-Shirt, auf dem Candace Parker beim Wurf zu sehen war, in ihr Atelier. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, der am großen, tiefen Fenster stand, und schaute den Feigenberg an. Sonnenstrahlen trafen schon auf seinen Gipfel. Der Haferbrei dampfte. Es roch nach Zimt. Das andere Fenster, vor dem der Granatapfelbaum wuchs, war gekippt. Helen hörte Vögel. Ein bisschen fror sie. Also schattenboxte sie ein paar Minuten, bis sich ihre Muskeln erwärmt hatten. Sie machte Dehnübungen und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Während sie den Haferbrei aß, bereitete sie sich aufs Malen vor. Sie legte sich Stoffe, Leinwände, Farben und Pinsel zurecht. Das Morgengrauen verschob sich, der Berg verschob sich, seine Flanken und Canyons rutschten ins Licht. Und Helen, die noch länger unberührt bleiben würde von den Sonnenstrahlen, malte den Berg, oder was sie vom Berg wahrnahm, wie er sich auflöste und erneuerte, in seinem hämmernden, vornehmen, rücksichtslosen Vorhandensein. Dabei musste sie wieder an ihre Halbschlafgedanken denken. Ob der Berg immer die beste Version seiner selbst war? Wahrscheinlich nicht. Aber zumindest war er entschuldbar, weil sich dieses Konzept im Berg schlicht auflöste. Am liebsten wäre Helen sofort zu einer Wanderung aufgebrochen. Dabei wusste sie, dass sie schon bald Spechtmensch suchen würde.
»Wie willst du die beste Version von dir sein, wenn du um 8:43 Uhr noch schläfst?«
»??«
»Schläfst du überhaupt?«
»Was?«
»Ob du noch schläfst?«
»Nicht mehr.«
»Perfekt.«
»Perfekt wofür?«
»Um die beste Version von dir zu sein.«
»Helen, ich war nie die beste Version von mir.«
»Woher willst du das wissen?«
»Wenn ich die beste Version von mir bin, während ich mich so tiefenschichtig elend fühle, weißt du, wie furchtbar das wäre?«
»So war’s nicht gemeint, Lenelli.«
»Ich weiß, aber trotzdem stimmt es.«
Helen schlüpfte unter Lenells Laken und schmiegte sich in seine Arme. Sie wünschte sich hinein in ihre inneren Schwimmbäder, aber es geschah nicht. Wach betrachtete sie die Wand, die Konturen. In ihrem Mund sammelte sich Speichel, aber sie vermied es zu schlucken. Zimtiger Speichel.
»Kaffee?«, fragte sie nach einer Weile.
»Klar.«
»Okay, ich bringe welchen.«
Eine Stunde später legten sie vom Egioer Hafen ab. Lenell saß am Steuer des hellblauen Motorboots und beachtete umsichtig den Verkehr. Einige Yachten ankerten weiter draußen. Vor den Stränden paddelten Touristïnnen. Ausflugsschiffe und Fähren fuhren davon. Lenell hielt auf die nahe Insel zu. Helens Blick verfing sich in den Gischtkuppen, und mit jeder weiteren Gischtkuppe fühlte sie sich verfangener und verfangener. In ihrem Gehirn akkumulierte sich die Gischt. Erst das Jagdmanöver einer Möwe direkt vor ihr brachte einen Bruch, der die Gischtmassen zersetzte. Die Fahrt dauerte fünfzehn Minuten. An der Insel angekommen, sicherte Lenell das Motorboot mit einem Tau. Händehaltend liefen sie den Kai entlang. Die Schiffskarosserien funkelten, Netze wurden auf dem Asphalt ausgelegt, Mopeds mit Frischeboxen kamen vorbei. Eine Katze beschnupperte einen vergessenen Eimer. An der Promenade gab es Restaurants und Souvenirshops. Dahinter war die Ortschaft, mit weiß leuchtenden Flachdachhäusern, zwischen denen sorgfältig verputzte Natursteintreppen in kleine Gassen führten.
In einem Café kaufte Helen zwei Espresso Macchiato und fragte nach dem Spechtmensch. Der junge Mann hinter der Theke zuckte mit den Schultern und schlug den Siebträger aus. Lenell blinzelte beschwörend, aber es half nichts. Danach lief Helen voran durch die Ortschaft und versuchte, mit einheimischen, lokal bewanderten Menschen ins Gespräch zu kommen. Auch wenn es ihr oft gelang, charmant Smalltalk zu initiieren, kriegte sie keine Infos.
Lenell wiederum versicherte ihr, dass der Spechtmensch auf der Insel sei. Er könne es spüren, meinte er. Das verwunderte ihn. Meistens spürte er zu wenig. Oder er spürte genug, aber ungefiltert und drangsalierend. Allerdings wusste Lenell nicht, ob er dem Spechtmensch in Helens Beisein begegnen wollte. Na gut, er wollte es unbedingt, aber es machte ihn nervös. Er wollte vor Helen nichts verheimlichen, aber er wollte sich auch nicht zur Disposition stellen.
Wie sie immer höher auf dem Hügel umherirrten, kamen sie zum Rand der Ortschaft. Sie schauten sich um. Ein Weg führte durch einen Olivenhain. Lenell kannte diesen Weg. Er hatte hier vor einigen Jahren einen Seismografen installiert. Auf der anderen Seite der Ortschaft war die Insel flach. Man konnte sehen, dass dort keine Häuser mehr standen. Es war eine vielleicht zwei Kilometer lange Fläche, teilweise landwirtschaftlich genutzt, umgeben von felsigen Ufern. Aus diesem Grund konnten sie eigentlich nur noch weiter bergauf, um zu prüfen, ob es im oder hinter dem Kiefernwald, auf den sie zuliefen, weitere Häuser gab. Sie prüften.
Mitten im Kiefernwald gelangten sie an ein großes Grundstück, das fürsorglich umzäunt war, massive Gitter, sehr hoch und offensichtlich mit Sensoren versehen, die Berührungen registrierten. Helen und Lenell schlichen am Zaun rum, zwängten sich an Wacholdersträuchern vorbei, begegneten Landschildkröten, rötlichen, rindenhaften Schlangen und Eidechsen. Zwischen den Bäumen war ein Haus zu erkennen, cézannig wirkte es, fleckig in der Hitze.
»Sucht ihr was Bestimmtes?«
Auf einmal verschleppte sich die Wirklichkeit von selbst, in einer Stauung von Irritation und Erleichterung. Eine Erneuerung passierte. Eine Erneuerung, die sich beidseitig auswirkte, als Spechtmensch Lenell wiedererkannte. Lenell hatte eh gewusst, was ihm bevorstehen würde, was er erkennen würde. Sein Herz klopfte. Alles vollzog sich, wie es sich vollziehen musste. Auch Helen verstand, dass ein Vollzug stattfand, ein Vollzug, der sie beinhaltete, vielleicht aber trotzdem außen vorließ, beziehungsweise ein Vollzug, dessen Stattfinden sie verstand, aber dessen Unausweichlichkeit sie nicht begriff. Sie empfand den Vollzug nicht als unbehaglich, sie nahm lediglich sein Eintreten zur Kenntnis. Es war nur ein kleiner Moment, in dem sich die Verhältnisse verschoben, wie sie dastand, mit verschrammten Armen, mit verschwitztem Shirt. Vielleicht weil sie nicht ganz verstand, was eigentlich vor sich ging, war Helen zuerst in der Lage, weiterzusprechen.
»Ehrlich gesagt haben wir dich gesucht«, sagte sie.
»Mich?«, fragte Spechtmensch.
»Ja.«
»Weshalb? Meint ihr, es hat keine Gründe, dass ich von Zäunen umgeben bin?«
»Sicher wird es Gründe haben.«
»Also?«
»Ich war auf einer Expedition, wo ich von einem Forscher, der in London lebt, gehört habe, dass quasi in meiner direkten Nachbarschaft sogenannte Koräenkiefern gezogen werden.«
»Sogenannte Koräenkiefern?«
»Ja.«
»Jagt ihr Trophäenbäume?«
Die Zunge des Spechtmenschen züngelte warnend aus seinem Schnabel heraus.
»Sachte Bruder«, sagte Helen. »Ich bin Malerin und Lenell ist Seismologe. Er hat das ganze Gebiet kartografiert, um die Verwerfungszone zu verstehen und um im Zweifelsfall bei der Evakuierung helfen zu können.«
»Ach, bist du Helen Farxo?«
»Ja.«
»Verstehe. Wow. Das ist eine schöne Überraschung. Okay. Lass mich kurz überlegen.«
Spechtmensch überlegte. Dann sagte er: »Wollt ihr Kaffee? Weißt du, ich bin Fan deiner Bilder. Ich habe mir auch dein neues Buch bestellt. Wann erscheint es?«
»Vorgestern habe ich es vorgestellt. Wahrscheinlich werden die Bestellungen jetzt langsam bearbeitet. Du kannst uns aber auch in Egio besuchen und ich schenke dir ein Exemplar.«
»Danke, das ist sehr freundlich. Trinken wir erst mal Kaffee, oder?«
»Ja.«
»Gehst du einkaufen in der Ortschaft?«
»Eigentlich nicht. Ich bestelle mir meine Einkäufe oder esse Würmer oder Wurzeln oder Larven. Das ist nicht das Problem. Kommt doch mal mit jetzt.«
Tatsächlich. Sie standen noch immer müßig zu beiden Seiten des Zauns, in halb angestrengten, halb frivolen Positionen, die Arme eigenartig in die Hüften gestemmt, die Beine selbstsabotierend verdreht, die Becken ungesund im Körper rumschummelnd – da endlich, aus ihren Eigenarten enthoben, liefen sie kollektiv zum Eingangstor, wobei sie das begonnene Gespräch weiterführten.
»Hast du hier überhaupt Freundïnnen?«, fragte Helen.
»Nein, ich habe mich hauptsächlich zurückgezogen.«
»Woraus?«
»Aus den Verhältnissen vermutlich.«
»Aber offensichtlich warst du mal in den Verhältnissen?«
»Ja, ich war sogar in verschiedenen Verhältnissen. Ich war in kriminellen Verhältnissen, in mondänen Verhältnissen, in akademischen Verhältnissen …«
»In London?«
»Ja, auch in London, akademisch vor allem, aber nur für ein paar Semester – ich habe dann im Fernstudium weitergemacht.«
»Aber?«
»Nichts aber, ich tat es nicht zur Erlangung eines Grades, auch wenn ich schließlich einen Grad erlangte.«
Schließlich erreichten sie das Haupttor. Eine schmale Schotterstraße führte ins Anwesen hinein. Spechtmensch tippte einen Code auf den Touchscreen, und das Tor bewegte sich mechanisch in seiner Halterung. Sobald eine kleine Öffnung entstanden war, betraten Helen und Lenell das Grundstück. Während Helen Spechtmensch befragt hatte, war Lenell ruhig geblieben. Schüchtern hörte er zu, suchte allerdings immer wieder Spechtmenschs Blick, sodass sie sich hin und wieder gewollt betrachteten, im Beisein Helens, sie musterten sich, erstaunt, neugierig, und allweil glühte in den Körpern eine Vorfreude, oder schlichter: eine Erwartung, die nicht mit dem Schlimmsten zusammenhing. Erwartung, die nicht rational befragt werden musste, Erwartung, bei der es keine Notwendigkeit gab, sie mit verhaltenspsychologischen Kniffen auszugleichen, einfach eine Erwartung – eine Empfindung, in der die Zukunft enthalten war. Das konnte Helen natürlich bemerken, eine Umfunktionierung Lenells, wahrscheinlich eine vorübergehende Umfunktionierung, wodurch sich änderte, was er ausstrahlte, es war nicht direkt Zuversicht, nur etwas, das sich unterschied von der hirnsengenden Depression.
Beinahe abgöttisch, vor sich selbst versinkend, gaben sie sich die Hand, formell verdutzt die Kraft der Gewohnheiten nutzend.
Sie spazierten durch einen Wald aus gewöhnlichen Kiefern, ein paar Minuten, bis sich ein Platz offenbarte, auf dem ein Quad stand, es gab einen asphaltierten Basketballcourt (eine Korbanlage mit Plexiglasbrett und Netz aus rosa Nylon), ein paar Olivenbäume, einen Schuppen sowie einen einstöckigen Bungalow, hinter dem die Landschaft kluftig zum Meer hin absank – graue Felsen, treppenförmig angeordnet.
»Alles gehört dir?«, fragte Helen. »Bis runter zum Meer?«
»Ja.«
»Wow.«
»Ich zeige euch auch noch meine kleine Bucht. Surft ihr?«
»Wie soll man hier surfen? Die Wellen sind lächerlich.«
»Ich war früher viel surfen«, sagte Lenell.
»Wartet ab«, sagte Spechtmensch.
Das Quad war offenbar auf individuellen Wunsch hin lackiert worden, neongrün und lila, etwas staubig war es neben dem Bungalow geparkt worden.
»Wo sind die Koräenkiefern?«, fragte Lenell.
»Geduld, ja?«
Zwar hatte Spechtmensch wohl nicht mehr in den Verhältnissen leben wollen, aber es schien ihm zu gefallen, dass er ungefragt mit zwei neugierigen Mitwesen in Kontakt gekommen war. Er verhielt sich gastfreundlich. Eine unerwartete Wendung war in seinem Leben eingetreten. Ja: Es sollte wirklich eine Wendung sein. Der Bungalow war teils aus Lehm, teils aus weiß getünchten Mauern gebaut. Zum Vorplatz hin waren nur zwei kleine, hochkantig schartige Fenster zu sehen. Die Haustür war aus hellem Holz. Sie traten ein. Hauptsächlich bestand der Bungalow aus einem weitläufigen Raum, in dessen Mitte ein gläserner, kreisrunder Lichthof eingelassen war. Zum Meer hin richtete sich alles auf ein gewölbtes Panoramafenster aus, durch das der Blick kunstvoll gelenkt wurde. Links befanden sich abgetrennt ein kleines Bad sowie ein Schlafzimmer. Jedenfalls war der gerahmte Blick so gerahmt, dass das Fenster erst auf Höhe der Knie begann, dafür aber die gesamte Breite der Hauswand einnahm – was sich zeigte, war der Golf von Korinth, blau betörendes Meer, zu beiden Seiten die Küstenlinien, und davor, fein säuberlich in den Abständen austariert, drei junge Kiefernbäume.
Helen trat zum Fenster, wie angezogen, und während sie näher kam, erblickte sie eine erdige Terrasse, die umringt war von groben, sandsteinartigen Platten und von der ein in den Felsen geschlagener Weg runter zum Wasser führte.
Spechtmensch hatte eine Siebträgermaschine. Während er Kaffee zubereitete, erklärte er, dass sein bevorzugtes Wasser, das er sich in Fünf-Liter-Kanistern liefern lasse, aus zwei verschiedenen Quellen gewonnen würde, wobei die Härtegrade unterschiedlich seien, er bevorzuge logischerweise das weichere Wasser, es sei aber nicht transparent, von welcher Quelle die Kanister jeweils kommen würden, was wiederum bedeute, dass die Qualität seines Espressos minimal schwanke, was er zu entschuldigen bitte, für den Fall, dass er diesmal das in Anführungszeichen falsche Wasser erwische, falsch hinsichtlich des Verwendungszwecks, falsch im falschen Kontext, falsch, weil seine Maschine so fein abgestimmt sei auf sein Lieblingswasser, dass eine unvorhergesehene Änderung des Härtegrads, na ja … vielleicht werde es überhaupt nicht auffallen, oder nicht signifikant zumindest.
Helen betrachtete ihn skeptisch, während er sprach.
»Kommst du klar?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Spechtmensch.
»Stress dich nicht wegen der Härtegrade, wir werden nicht ausflippen.«
»Gut.«
Wie funktioniert das mit dem Schnabel, fragte sie sich. Offenbar problemlos. Das Gefieder auf seinem Kopf war mattgrün im Zwielicht der Wohnung. Gleichzeitig stand Lenell neben Helen an der Fensterfront und studierte fachkundig und besorgt die Umgebung. Bald reichte Spechtmensch kleine Tassen voll Espresso, bot zusätzlich Milch an und bat seine Gäste anschließend, rauszukommen. Sie liefen im Gänsemarsch auf dem schmalen Kiesweg, der ums Haus führte, bemüht, die Oberfläche der Kaffeegetränke möglichst ruhig zu halten, unschwankend, um nichts zu verschütten. So gelangten sie ums Hauseck. Vor ihnen standen die schulterhohen Kiefern.
»Was soll das?«, sagte Helen. »Das sind keine Pflanzen, sondern Bäume.«
»In Wahrheit sind es junge, extrem sensible Gewächse«, sagte Spechtmensch. »Ich werde mich noch mindestens fünfundvierzig Jahre um sie kümmern müssen.«
»Halleluja«, sagte Lenell. Dann fügte er hinzu: »Warum hast du dir dafür diesen fragilen Ort ausgesucht?«
»Alle Orte sind fragil«, sagte Spechtmensch. »Alle Orte fragilisieren sich. Ich möchte es schaffen, dass die Samen in Umlauf geraten, auch wenn es in einer runtergekommenen Welt sein sollte, in einer menschenleeren, irgendwie zerbrochenen Welt. Selbst wenn ich in dieser kommenden Welt mit Schutzanzug und Atemmaske sitzen muss, selbst wenn ich ein riesiges Gewächshaus bauen muss, in dem ein abgeschlossenes Mikroklima vorherrscht. Aber wer weiß. Berührt mal die Triebe, wie zart und hellgrün sie sich anfühlen, wie unwahrscheinlich sie sich in der Hand sträuben.«
Dabei dachte Helen: Nichts sträubt sich zärtlich in der Hand, alles sträubt sich wie Winde gegen die Luft.
So verweilten sie endlos vor den Koräenkiefern, tranken Espresso mit insistierenden Mienen, ungefähr fünfzig Meter über Normalnull. Das Meer leuchtete.
»Okay«, sagte Lenell nach einer Weile. »Es sind eben Kiefern, ich kann botanisch nicht hyperventilieren deswegen, es sind Bäume, sie sind jung, sie brauchen Geduld, jahrelang ausgeschüttete Geduld.«
»Der Unterschied ist die Seltenheit«, sagte Spechtmensch. »Und dass sie zweihundert Meter hoch werden können.«
»Vielleicht wäre die Seltenheit ein Grund, um zu hyperventilieren«, sagte Lenell.
»Puh«, sagte Helen plötzlich. »Die Schnelligkeit, in der wir uns kennenlernen, während es Langsamkeit braucht, um einen Baum kennenzulernen.«
»Es wird noch genug Gelegenheit sein«, sagte Spechtmensch. »Wollt ihr jetzt surfen?«
Lenell und Helen nickten fragend. Also machten sie sich auf, die ungleichen Stufen zwischen den Felsen hinabzusteigen, während die drei Koräen nichts taten, als zu wachsen. Ihre Stammhöhe war vielleicht neunzig Zentimeter, ein paar Äste hatte Spechtmensch schon gekürzt, sodass kleine, atavismenhafte Knorpel abstanden, die Rinde wirkte robust und mehrlagig, rötlich. Weiter oben spreizten sich Äste reihum schwungvoll vom Stamm weg: Sie wuchsen horizontal und erst weiter entfernt vom Stamm strebten sie in den Himmel, ausgreifend, an ihren Enden jeweils voll buschiger, halluzinierend grüner, langer Nadeln.
»Wenn das deine Aufgabe für die nächsten fünfzig Jahre ist«, sagte Helen, »wie kannst du dann so entspannt bleiben?«
»Erstens bin ich nicht entspannt«, sagte Spechtmensch. »Und zweitens hatte ich davor überhaupt keine Aufgabe, von daher ist das für mich fast schon erleichternd. Vielleicht bin ich so ähnlich wie Adoptiveltern, die jahrelang versucht haben, Kinder zu kriegen.«
»Und was ist mit den Verhältnissen, in denen du dich aufgehalten hast?«
»Die Verhältnisse, das habe ich nur vorgegeben. Die Verhältnisse sind ein Graus. Man tut so, als würde man existieren.«
»Wenn wir uns jetzt anfreunden, werden auch Verhältnisse entstehen.«
»Ja, wir müssen vorsichtig sein.«
»Es wird sich nicht vermeiden lassen.«
»Das stimmt, aber wir können die Verhältnisse beeinflussen.«
Die Treppe führte in unwirklichen, variierenden Abständen zu einer kleinen, geheimen, von grauen Gesteinen eingekesselten Bucht. Spechtmensch hatte sein eigenes Schwimmbecken. In der Uferlinie gab es eine Einkerbung. Und obwohl Wasser in die winzige Bucht fließen konnte, schirmten massive Felsen das Becken, das einen Durchmesser von ungefähr zwanzig Metern hatte, zum offenen Meer hin ab. Von der Treppe aus traten Spechtmensch, Lenell und Helen auf eine betonierte Fläche, die zwischen den Felsen gegossen worden war. Zwei rosa Plastikliegestühle standen dort. Zwischen zwei Steinwänden sah man eingeklappte Sonnenschirme und mehrere Surfboards lagern. Dadurch, dass die kümmerlichen Wellen im Golf von den Trennfelsen gebrochen wurden, erstreckte sich die Wasseroberfläche glatt in der Bucht. Lenell verschränkte seine Arme. Spechtmensch gluckste. Sonnenstrahlen blendeten sie.
»Ich hab das noch niemandem gezeigt«, sagte er.
»Was denn?«
Spechtmensch zog sein Smartphone aus seiner Hosentasche und drückte darauf rum. Im Wasser begann es zu rumoren. Die türkise Oberfläche wellte sich leicht. Die Oberfläche wellte sich immer stärker. Plötzlich entpuppte sich eine Welle, so hoch wie die Koräenkiefern. Die Welle wölbte sich auf der Stelle, das heißt, sie gebar sich unaufhörlich neu.
»Auf dem Grund ist eine Maschine installiert«, sagte Spechtmensch blinzelnd. Er begann, vom spezifischen Strömungsverhalten zu sprechen, von der Wasserhärte der Welle, da lachte Helen laut auf, und Spechtmensch meinte, ebenfalls lachend, man finde es sowieso schnell heraus, die Welle sei ja geduldig.
Die Welle war lang genug, dass Lenell und Spechtmensch nebeneinander surfen konnten. Helen schaute vom Liegestuhl aus zu. Sie entdeckte, dass Lenell die Sonnenbrille auf sein Shirt gelegt hatte. Sie setzte die Sonnenbrille auf. Es war zwischenzeitlich früher Nachmittag und die Sonnenstrahlen fielen fast senkrecht hinab in die winzige Bucht; die grauen Felsen verhielten sich silbern, die Plastikliege verhielt sich schmelzend. Helen kam sich gestört und glücklich vor. Sie sah nichts außer der Welle; schäumend drückte sich das Wasser aus sich selbst heraus. Lenell hatte es schnell geschafft, sich an die Bedingungen zu gewöhnen, grinsend balancierte er auf dem Board, machte Turns, manchmal schaute er zu Helen, bevor er sich vornüber ins Wasser fallen ließ. Kurz tauchte er unter, um sich dann wieder aufs Board zu stemmen und weiter zu surfen. Spechtmensch wiederum vollführte Tricks, er ließ sich von der Welle in die Luft tragen, wo er sich drehte. Wenn er ins Wasser fiel, machte er manchmal eine eigentümliche Pickbewegung mit seinem Schnabel, was Helen als Versuch deutete, eine innere Aufgeregtheit auszuhalten. Jetzt erst, als er kein Shirt mehr trug, konnte man sehen, wie über seinen Brustwarzen allmählich der Übergang zum Spechtkopf passierte, wie die Federn grünlich aus ihm wuchsen. Er war muskulöser als Lenell. Auf seine schlanken Flanken waren Tribals tätowiert.
In einer Surfpause ließ sich Helen von Spechtmensch erklären, wie die Kaffeemaschine zu bedienen war. Dann ging sie hoch ins Haus, holte Softgetränke und machte Kaffee. Sie stapelte alles auf einem Silbertablett. Außerdem brachte sie Zeichenzeug mit runter.
Von ihrem Liegestuhl aus malte sie weniger abstrakt als gewöhnlich die surfenden Wesen auf der künstlichen Welle. Zumindest kam es ihr weniger abstrakt vor, wenngleich es abstrakt blieb. Dabei faszinierte sie dasselbe wie sonst, nämlich wie es gelingen konnte, eine flüchtige Erscheinung festzuhalten. Nur erschien das Problem perfider, weil die Wellenerscheinung einerseits flüchtig war, andererseits aber auch stetig: Das Flüchtige wurde permanent nachproduziert, auf die immer gleiche Weise. Helen wollte das Verfließen der Welle spürbar machen. Sie war irritiert, denn eigentlich kannte sie von Wellen ausschließlich die Sehnsucht zur Flucht, die danach suchte, dass Auflösung umsetzbar war. Plötzlich musste sie unweigerlich an Springbrunnen denken. Sie dachte an den großen, mit pseudoantiken, falschmarmornen Figuren ausgestatteten Springbrunnen, den sie oft mit ihrem Vater besucht hatte, wenn er traurig war; sie dachte an die aus dem Boden sprießenden Fontänen in den Einkaufszentren ihrer Kindheit; sie dachte an die grell angestrahlten Pariser Springbrunnen, die sie passiert hatte nach Partynächten; sie dachte an die dreistufige Sandsteinfelsenpyramide in der Mitte eines trockengelegten Brunnenbeckens, unter der sie an einem warmen Frühlingsmorgen mit Zehro Acid genommen hatte. Während sie innerlich zwischen ihren freigesetzten Erinnerungen umherwanderte, verwandelte sich langsam ihr Bild. Die surfenden Wesen verschwanden. Ihr kam es notwendig vor, schnellstmöglich im Atelier die künstliche Welle in den obszönen, durchlässigen Farben zu malen, in denen sie die Fläche, die Normalnull markierte, wahrgenommen hatte.
Als sie später zu dritt auf den Liegestühlen rumhingen und Softgetränke tranken – der Horizont hatte sich in der Ferne schon der Sonne entgegengehoben, sodass die Strahlenbündelung nicht mehr konzentriert wirkte und es mehr war, als würde emulgiertes Licht ausgesondert, das lila und gelblich über dem Meer schwebte, in dieser Differenz war allerdings nichts emulgiert, dafür verblieb das Wasser zu sehr Wasser und das Licht zu sehr Licht –, fragte Spechtmensch: »Was verbergt ihr so, wie ich meine Welle verberge?«
Zwei Möwen flogen vorbei.
Lenell stemmte seine Hände angestrengt in die Hüften, auf der Kante des Liegestuhls sitzend. Er starrte in die künstliche Welle. Schließlich sagte er: »Ich verberge meine Depression, wobei es mir schwerfällt. Und Helen verbirgt ihre Kräfte.«
»Was für Kräfte?«, fragte Spechtmensch.
»Telekinetische«, sagte Lenell.
»Niemals.«
»Zeigst du es ihm?«, fragte Lenell.
Helen schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. Dann streckte sie ihre offenen Handflächen aus und teilte die künstliche Welle.
»Yeah«, schrie Spechtmensch. »Kannst du das halten?«
Er stand auf, griff sein Board und glitt ins Wasser. Tropfen flossen über seine grünlichen Federn. Nachdem er sich aufs Board gestellt hatte, machte er ein paar Turns in der Welle, um dann, mit genügend Schwung, über die Lücke zu springen. Helen ließ ihre Hände sinken und die Welle war wieder durchgehend und gleichmäßig. Auch Lenell surfte noch ein bisschen, war körperlich aber bald so überfordert, dass seine Muskeln zitterten.
»Ihr könnt so oft herkommen, wie ihr wollt«, sagte Spechtmensch. »Ich bin eigentlich immer hier. Spielst du Basketball, Lenell?«
»Ja.«
»Dann lass uns spielen.«
»Morgen, ja? Wenn ich nicht den perversesten Muskelkater habe.«
Während Lenell und Spechtmensch weitersprachen, versuchte sich Helen an der Welle. Sie hatte nicht viel Vorwissen im Surfen. Ein paar Mal hatte sie es probiert in Urlauben. Es gestaltete sich anspruchsvoll, Stand auf dem Board zu finden. Trotzdem hatte sie Spaß dran, sich auszuprobieren, vor allem, weil sie das Gefühl hatte, gerade keine emotionale Verantwortung für Lenell zu haben. Dieses Gefühl machte sie auf eine verwirrende, sich selbst auslachende Weise stutzig, weil sie bislang davon ausgegangen war, dass sie eben keine emotionale Verantwortung für Lenell übernehmen würde. Zwischendurch hörte sie, dass Lenell und Spechtmensch über Basketball sprachen, WNBA-Teams analysierten, bestimmte Kader und Spielstile verglichen, den bisherigen Playoff-Run von Egio BC rekapitulierten und deren Meisterschaftschancen abwägten. Helen hievte sich wieder aufs Board und bewegte sich in die rauschende Welle. Sie wusste nicht mal, welche Technik dabei hilfreich war. Sie versuchte zu erinnern, wie sich Spechtmensch bewegt hatte. Aber ihr gefiel es, andauernd abgeworfen zu werden, Halt zu verlieren, ihr Balanceempfinden sabotiert zu kriegen. Während sie sonst Angst davor hatte, zu stürzen, kam es ihr hier, in diesem künstlichen, aber wirksamen Kontext, aufregend und befreiend vor. Sie schluckte Salzwasser, ihre Haare klebten in dunklen Strähnen an ihrem Kopf, Rotz lief aus ihrer Nase, ihre Unterhose löste sich immer wieder in den Wasserstrudel. Helen musste sich konzentrieren, sie musste ihre Kräfte voll einsetzen, um handlungsfähig zu bleiben.
Vom Wasser aus schaute sie zu Lenell, der im Schneidersitz auf dem warmen Beton saß, mit offenem Hemd und Sonnenbrille: ohne Boxershorts, die neben ihm zum Trocknen lag. Sein Schamhaar, seine Hoden, sein Penis glitzerten. Neben ihm stand Spechtmensch, in seiner türkisen Badehose, Ausschau haltend, ein Glas voll Limonade in der Hand, gestikulierend. Helen war irritiert. Die Situation wirkte sexuell auf sie. Lenell lächelte sie an. Helen winkte ihm verwegen und wendete sich wieder der Welle zu.
Am nächsten Tag war Lenell früh ins Forschungszentrum aufgebrochen, schrieb Helen aber gegen zehn Uhr eine Nachricht, in der er fragte, ob sie sich zum Mittagessen treffen wolle, im Kaisergarten. Helen, die gerade eine Fitnesseinheit über Youtube machte, wunderte sich – sie hatte seit Jahren in den Kaisergarten gehen wollen, eigentlich seit sie mit Lenell in den Bungalow auf dem Hügel gezogen war. Aber Lenell hatte immer Einwände vorgebracht: Ihm war der Kaisergarten zu billig erschienen, zu shady, zu generisch etc. Das alles hatte Helen nie abstreiten können, es war offensichtlich. Sie hatte keine kulinarische Konventionszerschredderung gewollt, keine hochpreisige Out-of-thebox-Erfahrung (die sie grundlegend eh nicht anstrebte, habituell war ihr das gar nicht möglich), nichts Außerkörperliches, nichts Astrales, sondern sie hatte gewollt, was erwartbar war und was in einem billigen All-you-can-eat-Buffet angemessen erschien. Und zwar inmitten des namensgebenden Kaisergartens, unter dunkelhölzernen, verzierten Galerien, zwischen roten Lampions, neben einem in der Gegend berühmten, zehn Meter langen Aquarium, das den Innen- und den Außenteil des Restaurants verband, direkt an einer viel befahrenen Straße. Lenell empfand sich anders, erwartungsvoller, was Essen anging, mit feinschmeckerischen Ambitionen. Beim Essen begehrte er fast schon gegen seine andauernde Apokalyptik auf: Einerseits weil er es von seinem Vater gewohnt war, teuer zu essen, zweitens aber, und das kam Helen entscheidender vor, weil für ihn bei teurem, hochwertigem Essen Hedonismus möglich wurde, ein Konzept, das er eigentlich ablehnte, weil es verquer zu seinen moorhaften, ihn hemmenden Gemütslagen existierte. Aus diesen Gründen hatte er sich stets gegen einen Besuch im Kaisergarten gewehrt. Bis heute. Abgesehen von der unerwarteten Frage war seine Nachricht nicht auffällig. Helen sagte zu. Sie wünschte sich, dass Lenell beschwingter werden würde, dass die psychischen Tendenzen nicht noch tendenziöser würden. Sie machte weiter mit ihren Fitnessübungen. Danach begann sie schwitzend, die Farben für ihre neuen Bilder zu mixen. Dabei fiel ihr auf, logischerweise, dass Normalnull bislang nur eine innere Farbe für sie gewesen war und es herausfordernd sein würde, das, was in ihrem Hirn spukte, materiell sichtbar zu machen.
Normalnull, dachte sie. Bei einem Talk war sie einmal darauf hingewiesen worden, dass Normalnull eine veraltete Vorstellung sei, dass es aktuellere Bezeichnungen gebe, dass es sich eh nur um Mittelwerte handeln würde, um bequeme, nutzlose Gespinste. Normalnull, dachte Helen. Warum hatte sie sofort an Normalnull denken müssen, als sie die rosafarbene oder weißliche Fläche zum ersten Mal sah? War es nur ein Austrieb gewesen? Das Weltgefühl als Halluzination? Sie wurde sich selbst begreifbarer im Bezug zu Normalnull, egal ob die Bezeichnung veraltet war oder nicht. Selbst wenn Normalnull nur eine Fantasie war, oder vielleicht war Normalnull sogar wie die Fantasie selbst, präzise und willkürlich zugleich, und das war hilfreich und tröstlich daran. Normalnull war eine subjektive Sinneinheit, die Helen half, ihr Denken zu ordnen. Das würde auch mit anderen Sinneinheiten funktionieren, mit anderen Metaphern, mit anderen Bildern, und Helen verstand ihre Existenz, wenn sie vom Malen ausging, als Suche nach diesen fast arbiträren, idiotischen, aber rettenden Sinneinheiten.
Helen dachte: Die Schlimmheit der Welt vollzieht sich unsichtbar – in verhüllter Korrumpiertheit, verschüttet von dem, was andauernd geifernd vorhanden ist und sich auftürmt. Das Problem ist, es funktioniert nicht, das Unsichtbare mit Unsichtbarem zu bekämpfen. Was hilft, ist ein Guerillakrieg, der unbeachtet in die Zone des Unsichtbaren eindringt und dort Bildgebungsverfahren entwickelt, die das Unsichtbare in die Sphäre des Sichtbaren drängen.
Natürlich wirkte die verhüllte Korrumpiertheit auch im eigenen Körper, im eigenen Denken. Helen war sich klar darüber, dass der Guerillakrieg auch gegen sich selbst geführt werden musste. Verhüllte, emotionale Korrumpiertheit verweigerte Helen beispielsweise die Großherzigkeit, die sie anstrebte. Während dieser leicht fahrigen Gedanken variierte sie die Mischverhältnisse der Farben, um malen zu können, was sowohl rosa als auch weißlich sein sollte, je nachdem.
Eine künstliche Welle, die geifernd vorhanden war?
Vor dem Kaisergarten spürte Helen richtiggehend Begeisterung in sich. Endlich. Sie war voller Freude. Schnell stieg sie die Stufen hoch, die bewacht wurden von zwei schimmernden Löwen aus Marmorimitat. Auf den Plexiglasverschalungen der Laternen befanden sich die Logos einer lokalen Brauerei. Es war viel los, vor allem ums Buffet. Helen durchschritt das Restaurant und gelangte in den Innenhof. Unweit des Aquariums saß Lenell an einem abgelegenen Tisch. Helen stutzte. Lenells Ausstrahlung war mehrdeutig und verstörend. Ruckartig begrüßte er sie. Er erhob sich und küsste Helen. Dann schob er ihr den Stuhl hin. Das hatte er noch nie getan.
»Siehst du die Goldfische?«, fragte er und zeigte unwirsch zum Aquarium.
»Schön, oder?«
Helen schaute.
»Siehst du?«, fragte Lenell wieder.
»Klar«, sagte Helen, die sich ihrer plötzlich einsetzenden Vorsicht schämte. Sie wusste nicht, was vor sich ging.
Wetterleuchten zog durch Lenells Gesicht. Sein linkes Augenlid zuckte, während er Helen gewohnt erwartungsvoll anblickte. Wie viel Augensekret kann man produzieren?, fragte sich Helen und schaute in Lenells funkelnde Pupillen.
»Ich hab mir schon grünen Tee bestellt«, sagte er.
»Bist du schon lange hier?«
»Ein paar Minuten, okay, ein halbe Stunde.«
»Warum das?«
»Ehrlich gesagt habe ich es im Büro nicht mehr ausgehalten.«
»Willst du mir davon erzählen?«
Lenell atmete gramvoll ein.
»Ich hatte vorhin eine Panikattacke und habe Tavor genommen. Das hat mich so müde gemacht und ich wollte mich unbedingt mit dir treffen. Also habe ich mir Aufputschmittel organisiert.«
»Und jetzt?«
»Jetzt dreh ich durch.«
»Warum hast du mich nicht angerufen?«
Plötzlich hatte Helen die Vorstellung, dass Lenell ihr einen Heiratsantrag machen wollte, dass er sie deshalb gefragt hatte, ob sie mit ihm hier mittagessen würde. Sie fühlte sich unwohl. Sie wusste nicht mal, ob es stimmte. Ihr Heiratsangebot war nichts gewesen, das sie öffentlich auf Droge zelebrieren wollte.
Aber noch bevor es so weit kommen konnte, stand Lenell auf, ging vor dem Aquarium in die Knie und schleckte mit seiner Zunge an der Glaswand die Schwimmspuren der Goldfische nach, während er seinen Oberkörper hin und her schwingen ließ. Hätte Helen nicht gewusst, dass in Lenells Hirn chemische Offenbarungen passierten, wäre sie amüsiert gewesen. So wurde sie traurig, beinahe apathisch. Und kurz darauf kam der Chef des Restaurants und bat sie, den Kaisergarten dringlichst und umgehend zu verlassen.
Draußen war Lenell irritiert. Auf dem Parkplatz kickte er bei jedem Schritt stumpf in den Kies und lief beschämt zu seinem Pick-up. Helen ging langsamer hinterher. Plötzlich landete zwischen ihnen ein Pelikan. Lenell stoppte und drehte sich um. Um seine Füße zerquoll Staub. Etwas mürbe schaute der graue Pelikan umher mit seinem klobigen, feinadrigen Schnabel. Über den Pelikan hinweg sagte Helen: »Sag mal, warum wolltest du dich eigentlich im Kaisergarten treffen?«
Lenell rieb sich mit den Fingerspitzen das Kinn.
»Ich hatte Lust, dich zu überraschen«, sagte er. »Und bitte entschuldige für mein Verhalten gerade.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. So wild war’s auch nicht.«
»Na ja.«
»Abgesehen von der Überraschung keine Intentionen?«
»Was meinst du?«
»Ich habe den ganzen Vormittag überlegt, was du vorhaben könntest.«
»Ach Helen, ich hatte nichts vor. Ich war einfach gut gelaunt und wollte dich daran teilhaben lassen. Dann kriegte ich Angst, weil meine Stimmung so unwahrscheinlich war. Die Tavor war zu viel Betäubung. Ich wollte meine Stimmung von davor wieder zurück. Jetzt bin ich ein brüchiges Gebiet aus verschiedenen chemischen Zusammensetzungen. Weißt du was? Ich glaube, ich selbst bin die Verwerfungszone.«
»Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?«
»Ich wollte dich nicht mit meiner Unstetigkeit nerven.«
»Was willst du jetzt machen?«
»Ich würde gerne allein sein.«
»Okay.«
»Ich komme später nach Hause. Mach dir keine Sorgen, ja?«
Der Pelikan watschelte währenddessen unschlüssig umher. Die Schatten unter den Materien waren winzig und komprimiert. Unter den Häusern waren sie verschwunden, unter den Autos konnte man sie sehen. Der Schnabel des Pelikans war ebenfalls schattig sichtbar auf dem Kies, vermutlich eins zu eins im Maßstab. Es windete kaum. Der Pelikan spannte seine Flügel auf. Er flog davon. Der Maßstab seines Schattens veränderte sich. Helen blickte dem Schatten auf dem Boden nach. Sie blickte dem kriechenden Schatten nach, der bei eins zu eins begann, sich veränderte zu zwei zu eins, drei zu eins, zehn zu eins. Der Schatten kroch über die Materien, wuchs, vermaßstabte sich, bis er verschwunden war.
»Deswegen mag ich die Blesshühner«, sagte Lenell.
Helen erschrak.
»Sie ducken sich pervers lange unter der Oberfläche weg«, sagte Lenell. »Sie ernähren sich verstohlener, sie tauchen woanders wieder auf.«
»Melde dich, wenn du wieder auftauchst«, sagte Helen lächelnd.
Sie winkte Lenell zu und verließ den Parkplatz.
Auf dem Rückweg zum Bungalow wurde sie ständig überholt von Mopeds, von schreienden Männern. Sie war voller Sorge um Lenell. Es roch nach Abgasen, nach Müll, Möwen standen in den Containern und pickten in den schwarzen, Sonnenstrahlen reflektierenden Plastikbeuteln rum, Wildkräuter wuchsen morbide an den Straßenrändern, in ausgetrockneten Abflussrinnen. Und wie Helen an ein paar Obstständen vorbeikam, dachte sie über ihre Lebensführung nach. Sie unterbrach sich zwanghaft dabei, um Eis zu kaufen, Vanille überzogen mit Maracuja. Beim Reinbeißen schmerzten ihre Schneidezähne. Dampf entwich den Eiskristallen auf der Maracujaschicht. Helen wedelte ein bisschen mit dem Eis rum und schaute dem Dampf nach.
Warum machte sie es nicht wie Cézanne, fragte sie sich, und hatte Sex mit Callboys, denen sie emotional nichts schuldete, nur ihr Geld? Dann würde sie sich um nichts sorgen müssen als um ihre Malerei. Kein lenelliger Abrieb, kein Aufrieb, aber Helen hatte keine Lust auf eine verkühlte Attitüde, wo alles der Malerei unterworfen würde, wo nichts gelten würde jenseits der Kunst. Was wäre das für eine anachronistische Praxis, dachte sie, peinliche, solipsistische Selbsterhöhung. Sie wollte freigiebiger werden mit ihren Emotionen, ohne Besitzanspruch. Anstatt sich vor Lenells psychischem Austriefen zu retten durch abgesicherte Vereinzelung, fragte sich Helen eher, wie sie Lenells Austriefungen zugewandt bleiben konnte, wie sie darin waten könnte, fröhlich stapfend, wie es möglich sein könnte, anarchistischer zu werden in der Liebe, konkret, wie sich die Inbesitznahme auflösen ließe, wie ihr eigener Anspruch auf Lenell sich trennen ließe von der Zugewandtheit, wie sie selbst ohne Inbesitznahme agieren könnte, koalierend mit anderen, ohne darin einen Affront zu sehen, ohne sich schlecht zu fühlen. Denn wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie anerkennen, dass beispielsweise während des Flirtens mit Mateo eine Traurigkeit in ihr nistete, in der sie sich grämte, dass Lenell nicht alles für sie war, einfach alles, alles, alles, was sie benötigte und besitzen wollte, und das hatte nichts mit Lenell zu tun, sondern vor allem mit ihren Ansprüchen und Ansichten von dem, was Liebe sein sollte. Einen Spitznamen hatte sie nur für Lenell, sonst für niemanden, aber warum? Mateo Materie Mattheit Matinee Matador Magmamateo Mörsermateo Mulde Mysterium. Wie konnte es gelingen, das eigene Gefühlsempfinden und Sehnsuchtsempfinden elastischer werden zu lassen, gleichzeitiger, sodass Lenell weiterhin ihr Partner bliebe, aber andere Amouren währenddessen praktizierbar würden, Erweiterungen und nicht Befürchtungen. Helen dachte etwas dumm, sie wolle in Lenells Austriefungen waten wie in einem See, nicht wie in einem Bassin. Sie fühlte in Barrieren und Verhinderungen. Das triggerte sie, und vielleicht hatte sie deshalb manchmal den Wunsch, nicht mehr verfügbar sein zu müssen, nur noch für Callboys. Aber fick Cézanne, dachte Helen, diese rückständigen Ordnungsperversionen führten vielleicht zu Produktivität, aber wie unnötig war der Wunsch nach menschlicher Produktivität im 21. Jahrhundert, wo die Arbeit robotisiert werden sollte, und der Sex vergesellschaftet. Okay, das war illusorisch. Das Herausbewegen aus der eigenen, tief ins Verhalten hineinkonditionierten Feindlichkeit gegenüber kollektiven Praktiken würde Generationen benötigen. Vorerst wollte sie versuchen, Inbesitznahme zu verlernen und sich in überfluteten Arealen zu verlieren. Wehmut kam auf in Helen. Sie änderte ihre Richtung und lief zum Stadtstrand. Der fein säuberlich abgeschleckte Eisstiel steckte ihr leger im Mundwinkel. Sie fragte sich, ob es besser sei, perspektivisch zu üben, ohne Lenell zu luxurieren, oder ihre Vorstellung von Lenell zu verändern. Sie wechselte über die Plattengrenze, sie fragte sich, was ihre Vorstellung von Lenell überhaupt war. Problematisch ist auch, dachte sie, dass man derartige Gedanken hauptsächlich dann denkt, wenn ein anderer Mensch gerade auf Uppern ein Aquarium abgeschleckt hat, selten aber, wenn keine Aquarien abgeschleckt wurden. Dabei wäre es ratsamer, die eigenen Vorstellungen zu prüfen, wenn unmittelbar davor keine Aquarien abgeschleckt werden. So beließ Helen ihre Gedanken, vereinbarte aber insgeheim, dass sie weitersinnieren würde, und zwar inmitten eines alltäglichen, unspektakulären Wohlgefühls. Sie erreichte den Stadtstrand. Helen entkleidete sich bis auf ihre Unterwäsche, hüllte ihr Smartphone, ihre Plasmatropfen und ihre Geldkarte in die Klamotten und bat eine ältere Frau, die auf einer Liege lag, darauf aufzupassen. Anschließend rannte sie ins Meer. Wie immer, wenn sie allein war, schwamm sie einfach geradeaus. Auch wenn der Golf überschaubar blieb. Trotzdem stellte sich bald ontologisches Schaudern ein, wenn sie versehentlich daran dachte, was wohl unter ihr passierte. Sie konzentrierte sich auf die Bewegungen, konzentrierte sich darauf, tief zu atmen, und es gelang ihr, wieder in die Schlierigkeit ihres Körpers zurückzufinden, in die Schlierigkeit ihrer angestrengten Muskeln, umgeben von Kühle, in die Schlierigkeit ihres sonnenzerdellten Hirns, umgeben von gischtiger Luft, und so wie sie eindrang und zurückfand und so wie sie umgeben war, ungefähr so waren die Wellen, durch die und über die sie sich bewegte.
Nur ein paar hundert Meter weiter war Lenell vor Kurzem in sein hellblaues Motorboot gestiegen und losgefahren. Der Bug hatte sich aggressiv aus dem Wasser gehoben, als Lenell Power gab. Wieder war er gespeedet, wieder hatte er sich ungetrübt gefühlt. Obwohl er gedacht hatte, allein sein zu wollen, war er auf die Insel des Spechtmenschen zugefahren. Dort hatte er angelegt, Sportschuhe angezogen und war den Hügel hochgestiegen.
Dabei hörte er Eminem über Kopfhörer. Wenn Lenell einen Schutzpatron hatte, dann war es Eminem. Seit den späten 1990er-Jahren hatte er sich anerkannt gefühlt in dessen Musik. Und obwohl seitdem vieles überwunden war, was ihm damals geholfen hatte, war Eminem geblieben. Basketball und Eminem hatten Lenell durch seine Jugend geholfen. Jetzt nahm er die Lyrics anders wahr, manchmal schämte er sich sogar dafür, aber er verdankte Eminem vermutlich große Teile seiner nicht zerstörten Psyche. Das war nicht mehr zu ändern. Eminem hatte seinen Kernschwund verlangsamt.
Diesmal wollte Lenell am Eingang des Anwesens seine Ankunft verkünden. Gerade hob er seine Hand zur Klingel, da sah er im Wald an einer Kiefer Spechtmensch hängen, knapp unter der Krone, die Beine um den Stamm geschlungen, mit dem Schnabel gierig in der rotbraunen Rinde pickend. Spechtmensch trug nur seine türkise Badehose. In diesem Moment hatte Lenell das Gefühl, wieder zu sich zu kommen, als wären auf einmal alle Drogen in seinem Hirn verdampft. Er dachte an die Zunge des Spechtmenschen, wie sie lang und dünn zwischen den Rindenstücken umhersuchte.
»Ey«, rief er.
Spechtmensch schaute zu ihm und fragte: »Na, hast du Muskelkater?«
Lenell spürte, dass er surfen war, aber nicht so vernichtend, wie er angenommen hatte. Beim Gehen zog es in seinen Oberschenkeln, aber eher animierend als ächtend.
»Es wird mich nicht abhalten.«
Spechtmensch kletterte vom Baum und kam barfuß zum Tor gejoggt. Sein Körper bewegte sich durch Lichtfelder und durch Schattenfelder.
Lenell und Spechtmensch umarmten sich lange.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagte Spechtmensch.
Lenell lächelte.
Sie liefen durch die Kiefern. Eidechsen betrachteten sie von angewärmten Steinen aus. Vor dem Haus setzte sich Lenell auf einen Plastikstuhl zwischen Agaven. Spechtmensch fragte ihn, ob er Hunger habe. Lenell nickte. Für eine Weile verschwand Spechtmensch im Haus. Bei seiner Rückkehr hatte er ein rosa Trikot von Egio BC an, weiterhin seine Badehose und weiße Sportschuhe. Er brachte einen Teller voller Pfannkuchen und eine Schale mit zerschnibbelten Früchten, die in Sirup schwammen.
»Ist das okay?«, fragte er. »Die habe ich vorhin gemacht. Sie sind leider schon kalt.«
»Klar ist das okay.«
Spechtmensch hockte sich ebenfalls auf einen Plastikstuhl. Lenell aß. Zwischen dem klebrigen Kauen, das eher ein Erweichen und Zersetzen der Pfannkuchen war, mithilfe des Sirups, erzählte er bruchstückig von seinem Vormittag, von der Euphorie, von der Verstörung – das Aquarium ließ er aus, indem er von einer Panikattacke sprach.
»Es wäre das Beste, ein bisschen Basketball zu spielen«, sagte Spechtmensch.
Nach dem Essen ging Lenell ins Badezimmer. Obwohl er pinkeln musste, stand er mehrere Minuten unschlüssig rum. Er schnupperte an Spechtmenschs Duschgel (Zedernholz) und Vogelshampoo (Minze und Maracuja), schaute aus dem Fenster in die leicht schwankenden Kiefern, putzte sich die Ohren mit Wattestäbchen und fragte sich, ob seine Existenz schlichtweg obszön geworden war. Morgen würde er wieder wie gewohnt Seismografen inspizieren und an seinem Forschungsbericht arbeiten, sagte er sich. Dann pinkelte er wirklich. Es brannte in seiner Harnröhre, aber nicht lange, nicht intensiv.
Abwechselnd warfen sie sich ein, checkten ihr jeweiliges Können, ermunterten sich, pushten sich, blödelten herum. Zwischendurch begannen sie, sich ihre Leben zu erzählen. Lenell wurde dabei immer leichter zumute; es tat ihm gut, sein Leben ohne Absichten erzählen zu können. Es schien ihm gut aufgehoben bei Spechtmensch. Spechtmensch wiederum berichtete von seiner Zeit in London, von seinem Fernstudium, wie er die Abgeschiedenheit ausgehalten hatte. Er sprach von der Freude, die ihm die Begegnung mit Lenell gab. Auf sanfte Weise, nicht auf absichtsvolle. Dann wurde es ihnen zu warm und sie gingen surfen.
Helens sinnloses, unabsehbares Hinausschwimmen war im Golf von Korinth nicht möglich. Erstens gab es keinen Horizont aus Wasser, und zweitens musste sie darauf achten, vorausschauend Booten auszuweichen. Sie betrachtete die Hügelketten, die sich im Meerdunst verunwirklichten. Sie war bereits mehrere Hundert Meter geschwommen, da erkannte sie Lenells Boot, das am Hafen der Insel vertäut war. Aha, dachte sie, weder überrascht noch perplex. Obwohl sie nicht daran gedacht hatte, dass Lenell zu Spechtmensch gefahren sein könnte, kam es ihr nicht unplausibel vor.
Helen erinnerte das Interview mit dem Neurologen, das sie letztens im Radio gehört hatte. Bei Beschäftigungen, die wirkliche Aufmerksamkeit erfordern, gebe es kein Multitasking, hatte der Neurologe gesagt, man konzentriere sich auf die eine Beschäftigung, dann konzentriere man sich auf die nächste Beschäftigung, man wechsele, die Aufmerksamkeit springe. So wäre es vielleicht auch mit Lenell und abwechselnden, anderen Liebhaberïnnen, dachte Helen. Das wäre traurig. Denn sie wünschte sich, dass die Liebe jeweils in anderen Lieben enthalten sein könnte. Vielleicht war sie illusorisch.
Sie hatte die Vision, wie Lenell Spechtmensch einen Blowjob gab. Sie fand es erregend. Und es kam ihr groteskerweise wie eine gerechtere Aufteilung von Sorgearbeit vor. Sie schwamm zurück nach Egio. Kurz dachte sie darüber nach, wie es wäre, ein Mensch zu sein, der Spray-Tan schätzt. Womöglich war das eine Nachwirkung des Abends mit Reality-TV. Sich gleichmäßig besprühen lassen und anschließend Caipirinhas trinken. Diese Vorstellung vergnügte sie eine Weile.
Schließlich besann sie sich und sah nur noch den Feigenberg, der sich mit all seinem Gestein, seinen Sträuchern, seinen Feigenhainen, seinen lila und grauen und grünen Schattierungen im frühen Nachmittag behauptete, dessen Gipfel nicht aufzuhören schien, wie er sich in die Atmosphäre drückte, umgeben von schwappender, beinahe ektoplasmatischer Luft, der gleichermaßen lastete in seiner andauernden Fragilität und der sich doch permanent erneuerte, getrieben, austreibend, nicht zu kartografieren, aber für Helen wahrnehmbar.
Daraufhin hob ein Austausch zwischen Helen und Spechtmensch an. Sie chatteten beiläufig, aber unaufhaltsam. Oft bat Helen darum, Videos von der künstlichen Welle zu kriegen. Spechtmensch schickte ihr willkürliche Zooms ins überstürzte Wasser. Helen verstand nicht, was passierte; sie wusste nicht mal, ob sie es verstehen wollte. Sie saß in der Küche, betrachtete den Bildschirm ihres Smartphones, stierte auf die Welle, trank Kaffee. Sie fragte sich, ob sie Lenell ein Aquarium schenken sollte. Natürlich nicht, dachte sie sofort. Nicht mal unbedingt wegen Lenell, sondern wegen der Fische. Nicht mal unbedingt wegen des Abschleckens, sondern wegen des Alltags. Kurz tauchte Lenell als Scheibenputzerfisch in ihrem Bewusstsein auf, nur auf der falschen Seite des Glases. Sie stellte sich selbst als Glas vor, wenn sie von Lenell geküsst wurde, wenn sie von ihm oral befriedigt wurde; als wäre sie nur eine durchsichtige Oberfläche mit verschiedenen Winkeln.
Dann kam der Tag der Sonnenwende. Helen war wach, noch bevor die Sonne um 6:03 Uhr aufging. Sie wollte den längsten Tag, wie sie es gewohnt war, maximal wahrnehmen: nicht nur mit geöffneten Augen, sondern, so gut es ging, mit offen bleibenden. Auf dem Gartentisch hatte sie mehrere Fläschchen mit Plasmatropfen bereitgestellt, in einer Eisenbox mit passgenauen Fächern. Sie wollte kaum blinzeln und stattdessen den Augen die notwendige Flüssigkeit extern zuführen, die Pupillen geweitet wissen. Sollte sie später gefragt werden, was sie an jenem Tag getan hatte, würde sie antworten können: Ich war geeked up auf den Plasmatropfen. Dazu kam, dass sie den Feigenberg malen wollte, unaufhaltsam, seine sich schuppenden und nachwachsenden Hänge; seine Auflösung, die wohl an den Hängen begann. Nur wo die Hänge waren, existierte der Berg, während außenrum der Nichtberg existierte. Diese Unterscheidung war nicht markiert, obwohl sie bestand. Helen fragte sich, ob der Berg kapitulierte, wo er aufhörte, ob er implodierte. Aber nein, so war es nicht, denn sie lief oft auf diesen Hängen, wenn sie manifest waren. Wie sollte man begreifen, dass Vorhandenheit endet? Wie sollte man aus der Ferne verstehen, dass dieser Berg nicht wucherte, wie es den Anschein hatte?
Um Punkt 6 Uhr saß Helen mit einer Kanne voll Espresso und ihren Malutensilien am Gartentisch, auf einem Plastikstuhl, unter dem Maulbeerbaum. Um 6:03 Uhr begann sie mit den Plasmatropfen. Und wie sie den Deckel anschließend wieder auf das Fläschchen klippte, veränderte sich die Spitze des Feigenbergs zuerst heimlich, dann klar; der Gipfel kippte ins Licht, schälte sich aus dem Schatten – schnell erweiterte sich das Lichtfeld über die Flanken des Bergs, auf Helen zu, die nicht blinzelte. Das Gestein, die Feigenbäume, die Olivenbäume, die Kiefern, die Sträucher, einzelne Häuser, Siedlungen, Wege, alles glänzte und hob sich nun konturierter voneinander ab. Die Fallhöhe zwischen den Farben wuchs. Dann kam der Moment, in dem die orangen Straßenlampen ausgingen: Lautlos erloschen sie, geschwind, aber nicht gleichzeitig, wie das Gegenteil eines Platzregens. Aber es war schon so hell geworden, dass das Auslöschen der Straßenlampen mehr mit Folgerichtigkeit zu tun hatte als mit Transplantation.
Lenell wachte später auf, gegen 8:30 Uhr. Er pinkelte, putzte Zähne, setzte sich im Wohnzimmer auf eine Gummimatte und meditierte zu den Instruktionen eines Youtube-Videos. Während ihm regelmäßig gesagt wurde, er solle sein Bewusstsein liften, dachte Lenell darüber nach, wie unlauter ein Mensch sein könne, wie unlauter sowohl die Depression als auch die Sehnsucht in ihm wüteten, wie unpraktisch er war, was Survival anging. Warum belässt du es nicht einfach beim Meditieren?, fragte er sich. Warum überlebst du nicht? Wieder wurde ihm gesagt, er solle sein Bewusstsein liften, aber er verstand diese Tätigkeit nicht. Warum hatte er das Schlimmste getan, was man tun konnte, und »Meditieren mit Depressionen« gegoogelt? Er hangelte sich gerade noch durch die angeleitete Tiefenentspannung, spürte seine Körperteile der Reihe nach, beginnend mit den Zehen, endend mit seinem nicht gelifteten Bewusstsein. Er war nervös. Beim Aufstehen hatte er den Eindruck, sein Bewusstsein wie einen Anker an einer Eisenkette hinter sich herzuziehen und Furchen zu hinterlassen. Er drehte sich um und betrachtete die Furchen, die sein Bewusstsein im Wohnzimmerboden gezogen hatte.
Er schnitt Obst klein und bereitete sich Müsli zu. Er kochte Kaffee. Durchs Fenster sah er Helen beim Malen. Das könnte doch ausreichen, dachte er, einfach ausreichen. Dann musste er schon wieder pinkeln. Seine Harnröhre brannte ein bisschen. Er saß pathetisch auf dem Klo, den Kopf in die Hände gestützt. Warum war es erwachsen, seinen Penis nach unten zu halten mit zwei Fingern?, fragte er sich. Im Haus roch es nach Kaffee, Sonnenstrahlen fielen gegen die Wände, morgendlich tiefgelb, draußen wuchsen Palmen, Agaven, im Flur lag sein Basketball, unter ihm rumorten die Platten aneinander rum. Das könnte doch ausreichen, dachte er wieder. Gefahren gab es genug, dachte er. Lenell dachte an seine Mutter und fühlte sich annektiert. Er fühlte sich von seiner Mutter annektiert, und jedes Gebiet, durch das er sein Ankerbewusstsein zog, war ebenfalls annektiert von seiner Mutter. Selbst die Scheibe des Kaisergarten-Aquariums war annektiert gewesen, dabei hatte er nur schmecken wollen, was nicht annektiert war. Er überprüfte seinen Penis, aber er konnte keinen Ausschlag oder Pusteln entdecken. Er wusch seine Hoden und seinen Penis mit sanften Bewegungen, trocknete sich ab, massierte eine antibakterielle Creme ein, wobei er eine leichte Erektion bekam. So dachte er an Spechtmensch, der ihm nicht nichtannektiert erschien, was Lenell stutzig machte. Und was wieder das Gefühl der Unlauterkeit hervorrief, zuallererst gegenüber Helen. Lenell wollte kein Sperma durch seine Harnröhre dringen lassen, er fürchtete das Brennen. Bestimmt würde es bald besser werden, sagte er sich. Er masturbierte nicht. War Helen denn annektiert von seiner Mutter? Anstatt sich der Frage zu widmen, trank er Kaffee, aß Müsli und fuhr dann mit dem Pick-up ins Forschungslabor.
An diesem Tag der Sonnenwende dachte Lenell zum ersten Mal über Exoskelette nach. Er imaginierte ein ultraleichtes Gehäuse, das ihn umgab mit hybridem Material, das ihn beinahe einschloss und das alle äußeren Bewegungsabläufe für ihn übernehmen würde. Er würde sich verhalten wie sonst, nur würde er sich nicht anstrengen müssen. Er wäre nicht mehr unlauter, er könnte sich komplett darauf fokussieren, sein schweres Bewusstsein zu liften, seine Emotionsproblematik zu verstehen. Er wollte sich gegen die Annexionen wehren. Dann würde seine Erschütterung womöglich abebben, er würde besonnener werden. Besonnenheit war auch eine von Lenells Sehnsüchten. Nur kein Fortbestehen seines implodierenden Hirns. Sein Hirn, das immer weiter zerfiel, dem zwar eine Gravität innewohnte, nur war ein Hohlraum entstanden, ein Kernschwund, wodurch Hirnmasse unablässig ins Innere rutschte. Hirnmasse füllte die entstandenen Lücken. Permanent passierten Einstürze. Aber es waren nur notdürftige Versuche, Hirndichte herzustellen. So wäre es nicht mit Exoskelett. Er würde innerhalb seines Hirns agieren können, Schutzwälle errichten, aufgehoben in der künstlichen Hülle.
Letztlich saß Lenell nur in einem ergonomischen Bürostuhl, vor sich auf den Bildschirmen wurden Daten angezeigt, auf dem Schreibtisch lagen ausgedruckte Fachartikel. Er bemühte sich um eine gestreckte Wirbelsäule, um ein gestrecktes Brustbein, aber unmerklich fiel seine Körperspannung immer wieder ab, vielleicht auf ein Exoskelett hoffend, vielleicht kapitulierend. Lenell wurde darüber informiert, dass ein Seismograf beschädigt war, auf der anderen Seite des Golfs. Er überprüfte den Fehlerbericht und kam zu dem Schluss, dass er das Problem leicht beheben konnte. Nach kurzem Überlegen rief er Spechtmensch an.
»Hast du Lust, mit mir einen Seismografen zu reparieren? Ich muss quasi bei dir vorbeifahren.«
»Hm«, sagte Spechtmensch. »Heute Abend ist das Finale in Egio.«
»Oh«, sagte Lenell. »Stimmt.«
Er hatte tatsächlich vergessen, dass das entscheidende Spiel der Saison anstand. Lenell war so in sein zerfallenes Hirn verschluckt gewesen, dass er nicht mehr daran gedacht hatte.
»Bist du gar nicht am Ordnen?«
»Warte, ich muss schauen, ob ich eingeteilt bin.«
»Wäre doch romantisch«, sagte Spechtmensch.
»Was hat das eigentlich mit dem Seismografen zu tun?«
»Nur indirekt.«
»Was indirekt?«
»Ich will meine Koräen nicht so lange unbewacht lassen, wenn ich später schon nach Egio fahre.«
»Ich rufe dich gleich wieder an«, sagte Lenell.
Er öffnete die App, in der die Ordnerjobs verteilt wurden, und bestätigte seine zugeteilte Schicht. Anfragen aus den letzten Wochen leuchteten unbeantwortet auf. Wieder rief er Spechtmensch an: »Also, ich bin eingeteilt«, sagte er. »Ich muss allerdings schon ziemlich früh da sein. Aber ich könnte dich auf dem Rückweg nach der Reparatur einsammeln, unten an deinem Anleger, dann könnten wir gegebenenfalls noch bei Helen vorbeischauen und Kaffee trinken?«
»Ja«, sagte Spechtmensch. »Das können wir machen.«
Lenell traf seine Vorbereitungen und fuhr zum Hafen. Im Motorboot ließ er Musik über eine Bluetoothbox laufen. Vampiros von Rosalía und Rauw Alejandro im Loop. So preschte er durch die moderaten, beinahe nichtssagenden Wellen, vorbei an der Insel, durch den Golf, vorfreudig, wehmütig, lebensmüde.
Was sollte noch kommen?, dachte er. Mehr Basketball? Mehr Flirts? Mehr Erdbeben? Die Sonne stand senkrecht über der Bucht, sprühte ihr Sprühen, immerzu trafen Lichtteilchen aufs Meer, blau lastete es in den Senken, leuchtgrün standen Kiefern an den Ufern. Lenell fühlte sich bereit. Wofür er sich bereit fühlte, wusste er nicht genau.
Der Ordnerjob war mit dem Auftauchen Spechtmenschs sinnfrei geworden, unwirklich. Zuvor war das Aufregende und Besänftigende des Jobs gewesen, nichts zu erwarten, nichts zu erhoffen, nichts zu suchen, sondern nur in die Menge zu schauen, bereit für alles, was passieren würde, wenngleich vermutlich nichts passieren würde. Es war so ähnlich, wie die Verwerfungszone zu beobachten: ein Gebiet wahrnehmen, in dem Eruptionen möglich sind. Dadurch hatte er existieren können, ohne sich belanglos oder überflüssig zu fühlen. Fast wie ein Schläfer in seiner eigenen Existenz war er gewesen, wenn er am Spielfeldrand gestanden hatte; betraut mit einer Aufgabe, die es ihm nicht gestattete, abzuschweifen, sondern die seine Hingabe voraussetzte. Aber jetzt, da er Spechtmensch im Publikum wusste, war es geschehen um seine Schläfertätigkeit. Er konnte nicht mehr unerkannt vor sich selbst bleiben. Stattdessen brizzelte er vor persönlicher Erwartung, fieberte auf zärtliche Blickwechsel hin und vernachlässigte alle anderen Zuschauerïnnen. Das war natürlich unangebracht, unprofessionell, nicht zukunftsträchtig. Deshalb konnte er den Job nicht weiter ausführen. Nächste Saison würde er sich Tickets kaufen müssen, er würde gemeinsam mit Spechtmensch im Publikum sitzen. Wenn überhaupt.
Als sie beim Bungalow ankamen, hatte Helen schon zehn Fläschchen Plasmatropfen verbraucht. Geblinzelt hatte sie kaum; und wenn, dann weil sie unachtsam gewesen war, aus Gewohnheit, nicht weil es an Flüssigkeit gemangelt hatte. Ihre Wangen glänzten, von ihren Augen abwärts waren eingetrocknete, ektoplasmatisch schillernde Rinnsale zu sehen. So saß sie auf ihrem Plastikstuhl, zwischen kleinen Leinwänden und Blättern und Farben und Spachteln und Pinseln. Lenell näherte sich ihr. Er streichelte sie im Nacken. Dann beugte er sich zu ihrem Kopf und fragte, ob sie auch Kaffee wolle.
»Auf jeden Fall«, sagte Helen und fügte hinzu: »Was geht, Spechti?«
»Woher weißt du, dass ich da bin?«, fragte Spechtmensch. Er stellte sich neben Helen.
»Hab’s gespürt.«
»Ich geh schnell rein und koche Espresso«, sagte Lenell und nahm die Kanne.
»Was treibst du hier?«, fragte Spechtmensch.
»Ich bin geeked up auf den Plasmatropfen«, sagte Helen.
»Aha.«
»Das mache ich immer zur Sonnenwende. Ich widme mich dem Feigenberg.«
»Hast du das alles heute gemalt?«
»Ja.«
»Wow.«
»Hol dir mal einen Stuhl, da an der Hauswand stehen welche.«
Spechtmensch holte sich einen Plastikstuhl, anschließend trug er noch einen zum Tisch, für Lenell.
»Du hast wirklich alles heute gemalt?«
»Ja, bausch es nicht so auf. Ich sitze hier seit 6 Uhr.«
»Ich bausche nichts auf, aber ich bewundere deine Bilder sehr.«
»Hast du das Buch schon bekommen?«
»Nein.«
»Du kannst Lenell bitten, dir eins zu geben. Da ist ein kleiner Karton in meinem Atelier.«
»Wir gehen gleich ins Stadion, deswegen lieber beim nächsten Mal.«
»Na klar.«
»Für mich ist das wirklich vollkommen übertrieben, dass ich jetzt neben dir sitze, während du malst.«
»Warum?«
»Ich betrachte deine Bilder und es ist, als hätte ich schon mal gesehen, was du malst. Ich meine nicht kunstgeschichtlich, sondern woanders, in meiner Psyche. Aber natürlich habe ich es noch nie gesehen. Ich kann dieses Gefühl nur haben, weil es deine Bilder gibt.«
»Danke. Du kannst dir ein Bild aussuchen.«
»Nein, nein, das geht nicht.«
»Doch, auf jeden Fall geht das.«
»Helen, ich habe Geld. Ich kann mir über deine Galerie einfach ein Bild kaufen.«
»Willst du mich beleidigen?«
Spechtmensch lachte.
»Nein«, sagte er. »Natürlich nicht.«
»Also.«
»Helen, ich kann jetzt auch kein Bild von dir mit ins Stadion nehmen. Vielleicht wird Egio BC heute Meister.«
»Na, dann musst du eben bald wiederkommen.«
»Sag mal, meinst du, ich darf das mit den Plasmatropfen auch mal ausprobieren?«
»Natürlich darfst du es ausprobieren. Lenell hat mich nie danach gefragt. Ich denke, weil es im Grunde idiotisch ist.«
»Das macht mir nichts. Ich würde gerne mit dir gemeinsam geeked up sein und den Feigenberg betrachten.«
»Dann los. Ich hoffe, es passiert nichts mit deinen Spechtaugen.«
»Was soll schon passieren? Hast du irgendwas beigemischt?«
»Nein, nichts.«
»Ich mache mir keine Sorgen.«
»Du musst nur den Kopf in den Nacken legen. Es ist nicht schwer.«
Spechtmensch tat es; sein Schnabel zeigte schief in den Maulbeerbaum hinein. Sanft und kalt spürte er die Flüssigkeit auf seine Lider treffen, in sein Schläfengefieder sickern.
»Ich schaffe es nicht«, sagte er, »ich schließe meine Augen intuitiv.«
»Ja«, sagte Helen. »Das musst du üben. Es ist eben idiotisch.«
Wieder probierte Spechtmensch, sich Plasmatropfen zuzuführen.
»Sei verschwenderisch«, sagte Helen. »Ich habe genug. Flute deine Augen.«
»So klappt es«, sagte Spechtmensch.
In der Folge hockten Helen und Spechtmensch nebeneinander, leicht debil, und starrten auf den Feigenberg, ohne zu blinzeln. Spechtmensch fiel es schwer, aber er konnte sich kontrollieren.
»Wir realisieren uns aus der menschlichen Wahrnehmung heraus«, sagte Helen.
»Das könnte beispielsweise die Wahrnehmung der Koräen sein«, sagte Spechtmensch. »Koräen blinzeln nicht.«
So fand Lenell die beiden vor, als er zurückkehrte: demütig, mit nass glänzenden Augen, komplett unbeweglich. Er blieb stehen. In den Händen hielt er ein kleines Tablett, auf dem sich die Espressokanne und Tassen und Milch und Kekse in einer Schale befanden. Er hielt inne. Die Blätter des Maulbeerbaums raschelten. Eidechsen sonnten sich auf den rötlichen Steinen. Nach einer Weile bemerkte Lenell, dass er weinte.
In der Schuppenpanzer-Arena auf dem Hügel fühlte sich Lenell wie ein Mensch, der eine Tätigkeit zum letzten Mal ausführt. Dass die Spielerinnen von Egio BC bis ins Finale vorgedrungen waren, hatte er zwar mitbekommen, aber nicht realisiert. Es war gewesen, als hätte er in einem Paralleluniversum gelebt, in dem es professionellen Sport nicht gab. Er hatte seine Arbeit gemacht, wenngleich schlecht. Er war bei Spechtmensch gewesen, wenngleich aufgeregt. Er hatte mit Helen zusammengelebt, wenngleich unlauter. Außerdem hatte er seine Ordner-Pflichten schlicht vergessen. Und jetzt, wo er es wieder tat und zum letzten Mal tun würde, fragte er sich, wie es hatte passieren können, dass er in so bizarr kleinen Umlaufbahnen um sich selbst kreiste. Seine nach außen ausfransende Hirndichte nötigte ihn zunehmend, sich mit Survival zu befassen. Was nichts mit Survival zu tun hatte, entzog sich der Gravitationskraft seines Hirns. Während er diese Gedanken dachte, lächelte er Spechtmensch zu, der in Reihe 7 saß und einen veganen Hotdog aß. Wie schön die Menschen im Publikum waren. Ausschließlich alle trugen rosafarbene Trikots, beflockt mit den Rückennummern ihrer Lieblingsspielerinnen. Wie schön das künstliche Licht umherrotierte. Wie die Fanschals und Fahnen emporgereckt und geschwungen wurden. Wie sich Ärger, Erstaunen und Jubel in den Gesten und Gesichtern vorbereitete und vollzog. Wie sich umarmt wurde, abgeklatscht, zugezwinkert. Wie nebulös er selbst dagegen war. Mollig und nebulös. Oder untersetzt und nebulös. Oder unsichtbar und nebulös. Immerhin hatte er grün gefärbte Haare. Aber was tat es dazu, dass er sich andauernd falsifiziert fühlte? Nichts tat es dazu. Nicht mal Spechtmenschs Bemühungen, Lenell einzubinden, durch Zeichensprache, verursachten das Gefühl der Zugehörigkeit. Lenell stand da, zumeist mit verschränkten Armen; hinter ihm erspielten die Spielerinnen gerade die Meisterschaft, das war unverkennbar. Vor ihm mampfte Spechtmensch Popcorn, vor ihm wechselten sich Unglaube und Tobsucht permanent ab. Lenell versuchte, sein Bewusstsein zu liften. Bald darauf kam eine Kollegin, die ihm ins Ohr flüsterte, nach Abpfiff dürften auf keinen Fall Fans auf den Court gelangen, wenn überhaupt, nur Familienmitglieder der Spielerinnen; die Zeremonie und Pokalübergabe müssten geregelt stattfinden, wegen Sicherheitsvorschriften und Fernsehen. Lenell nickte. Jetzt würde er sich tatsächlich beweisen müssen als Ordner, bei seinem letzten Einsatz. Was soll’s, sagte er sich. Es würde schon klappen. Die letzten Minuten des Spiels verliefen zähfließend. Die Zuschauerïnnen hatten sich von ihren Plätzen erhoben, sie klatschten, legten ihre Arme umeinander, schrien. Lenell lächelte noch immer sein Lächeln, wodurch niemand begriff, was in seinem Hirn passierte. Sein Lächeln ließ keine Rückschlüsse zu, überhaupt keine, abgesehen davon, dass er nett wirkte, aufgeschlossen, zugewandt. Und natürlich schaffte er es, die jubelnden Menschen vom Court abzuhalten. Es war nicht schwer, da zusätzliche Absperrbänder gespannt wurden. Auch während der Zeremonie durfte sich Lenell nicht umdrehen. Er hörte, was der Stadionsprecher ankündigte. Ihm wurde gewahr, dass er keine Ahnung hatte, wie der Pokal eigentlich aussah. Er wurde von grünem und rosa Konfetti getroffen. Mit der Hand fuhr er sich übers Haar, mit den Handkanten säuberte er seine Schultern, kurz griff er den Bund seines Shirts und schüttelte, aber sofort kriegte er Angst, dass man seinen Bauchansatz sehen könnte. Er verschränkte wieder die Arme und erledigte seinen Job im Konfettiwirbel.
Später, kurz nach Sonnenuntergang, verlagerte sich die Party nach draußen. Lenell war von seinen Pflichten entbunden. Er sagte zu Spechtmensch, dass er jetzt in Rente sei. Nicht viele Ordner würden es schaffen, einen so perfekten Zeitpunkt für ihren Abschied zu finden. Spechtmensch lachte. Beim Verlassen seines Postens hatte er ein speziell designtes Meisterschafts-Shirt mit zugehöriger Cap erhalten. Das hatte dazu geführt, dass er sich doch noch zugehörig fühlte. Lenell und Spechtmensch standen in der Menge vor dem Stadion. Es war warm. Der Mond schien und überzog die Palmblätter silbrig. Der Asphalt schimmerte.
»Das Game war so merkwürdig«, sagte Spechtmensch.
»Warum?«
»Ich musste immer zu dir schauen, weil du so traurig wirktest.«
»Ach was.«
»Doch echt.«
»Nein, ich war nicht traurig. Ich habe nur meinen Job gemacht.«
»Du kannst mir nichts erzählen.«
»Wir sind Champs, was soll’s!«
»Das ist das andere. Es war so schnell klar, dass Egio gewinnen würde. Deine Traurigkeit und das unspannende Game, komische Kombination für ein Finale.«
Die Spielerinnen kamen mit dem Pokal aus dem Haupteingang. Sie wurden empfangen mit Schreien, Klatschen und Jubel. Sie trugen Skibrillen und sprühten mit Champagner rum.
»Wow«, sagte Lenell. »Es ist ein silberner Henkelpokal.«
Spechtmensch lachte wieder.
Da begann das Feuerwerk über dem Dach der Arena. Grüne und rosa Raketen explodierten im Himmel, der Explosion für Explosion nachhallte, in denselben Farben, und dessen schwach ausgeleuchtete Leere Lenell an sein Hirn denken ließ, aber nur so lange, bis er spürte, wie Spechtmensch seine Hand nahm, und händehaltend blieben sie stehen, ohne Hohlräume, ausgefüllt auf diese vibrierende Weise, die nur entsteht, wenn die Liebe beginnt. Sie bewegten sich nicht. Sie verfolgten das Feuerwerk. Sie ließen es zu, dass sich ihr Schweiß vermischte. Auf dem schwarzen Schnabel von Spechtmensch reflektierten die Raketen. Plötzlich wünschte sich Lenell eine Veränderung; plötzlich wollte er ein anderer Mensch werden, einer, der besser war in Survival. Mitten in diese Erkenntnis sagte Spechtmensch, dass er jetzt vermutlich die letzte Fähre verpassen würde. Zuerst bot Lenell an, Spechtmensch könne bei ihm schlafen. Aber Spechtmensch wollte die Koräen nicht allein lassen. Also sagte Lenell, er würde ihn mit dem Motorboot auf die Insel bringen.
Sie spazierten zum Hafen. Ständig fuhren hupende Autos vorbei. Spechtmensch trug die Cap umgekehrt auf seinem Spechtkopf. Lenell schwenkte sein Ordner-Shirt in der salzigen Luft. Hin und wieder heulte er auf, einfach, weil es sich gut anfühlte. Spechtmensch holte sein Smartphone hervor, um Lenell einige Szenen vom Game zu zeigen. Dabei legte er seinen Arm um Lenells Schulter, und mit aneinandergeschmiegten Köpfen schauten sie im Gehen auf den Bildschirm. Sie holten sich Softgetränke aus dem Kühlschrank einer Bar, unterhielten sich kurz mit anderen Fans, zahlten und setzten dann ihren Weg fort. Möwen flogen durch die Straßenschluchten. Die Zedern waren dunkel. Spechtmensch und Lenell überquerten schweigend einen Parkplatz. Schleierwolken vereitelten mittlerweile den Mondschein. Wie Lenell zumute war? Gut war ihm zumute. Seine Hirnimplosion war ausgesetzt oder sogar behoben. Wobei behoben wohl ein bisschen übertrieben war. Lenell misstraute Euphorie grundsätzlich; aber jetzt unterschied er zwischen der Euphorie seines Hirns, die er nicht zuließ, und der Euphorie der Nacht, in die er hineinfallen wollte. Er sprach nicht. Er wollte nur wissen, wie es sich anfühlte, nicht niedergeschlagen zu sein. Spechtmensch lief neben ihm, vergnügt, parfümiert. Sie sahen das Meer, das abgesehen von den spiegelnden Uferbereichen wirkte, als hätte es sich selbst verschluckt. Man konnte es sich zumindest vorstellen. Lenell tat es. Aber nur kurz. Denn er wusste, dass das Meer verlässlich war und das Sichselbstverschlucken aporetisch. Kein Organismus konnte sich selbst verschlucken, weil es maximal zu einer Inversion führen würde, nie zum Verschwinden. Egal, dachte Lenell. Er betrachtete die Wellen, die sich sanft emporhoben, sanft vornüberkippten, sanft verloren. Es gab keine Aggressivität, was für ihn bedeutete: keine Autoaggressivität. Er ging in die Knie vor den Wellen und bedankte sich bei ihnen. Sein Ordner-Shirt hing ihm zusammengerollt um den Hals. Spechtmensch beugte sich neben Lenell vor und spritzte ihm eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Dann rannte er weg, in Richtung des Hafens. Lenell lächelte. Auf einmal wusste er, was Besonnenheit sein könnte. Er verblieb auf seinen Knien. Wie wahrscheinlich war es, dass er ein Erdbeben erleben würde? Unwahrscheinlich. Wegen des Erdbebens? Nein, wegen sich selbst. Er stand auf, leckte sich das Salzwasser vom Gesicht und folgte Spechtmenschs Fußspuren durch den Sand – er erahnte Bojen, zurückgelassene Sonnenschirme und gestapelte Plastikliegen. Beiläufig trank er sein Softgetränk aus. Zufrieden strich er sich über seinen grünen, stoppeligen Kopf.
»Warte«, rief er.
Spechtmensch drehte sich zu ihm um, lief aber rückwärts weiter zu den Booten. Lenell joggte los, wobei er im linken Kniegelenk einen leicht stechenden Schmerz vernahm. Als er Spechtmensch eingeholt hatte, sagte er: »Sei froh, dass ich nicht mit meinem Karate beginne.«
»Du kannst Karate?«, fragte Spechtmensch.
»Ich habe es zumindest fünf Jahre gelernt.«
»Wow, warte.«
Spechtmensch ging in die Hocke und fasste vom Kai aus ins Hafenbecken. Daraufhin kippte er sich selbst eine Handvoll Wasser über den Kopf.
»Quitt?«, fragte er anschließend in gespielter Betröppeltheit.
»Absolut«, sagte Lenell grinsend. »Meine Knie würden mir eh keinen Fight erlauben, beziehungsweise nur im Notfall.«
»Deinen Notfallfight sollst du auf keinen Fall gegen mich bestreiten. Wollen wir los?«
Sie kletterten ins Boot. Nachdem sie die Hafenzone gemächlich verlassen hatten, bat Spechtmensch Lenell, Highspeed zu gehen. »Let’s go«, sagte Lenell und legte los. Das führte dazu, dass Spechtmensch seine Cap festhalten musste und unentwegt brüllte vor Freude. Die Wolkenschicht hatte sich teilweise aufgelöst, aber der Mondglanz kollidierte nicht mit dem Meer, er reicherte allerhöchstens den Dunst an. Lenell war in seinem Lieblingsmodus. Er steuerte hoch konzentriert sein Boot, selbstsicher wie selten, der Rumpf schrammte über die glimmende, kaum gespannte Wasseroberfläche. Was passierte, war Verdrängung, Aufschub, Gischt. Lenell nahm Fahrtwind und Motorenlärm wahr. Allerdings war das Vergnügen schnell vorbei. Die Insel kam näher. Lenell ließ das Boot langsamer werden. Er steuerte direkt zum Anleger bei der künstlichen Welle. Der betonierte Steg war ummantelt von Fendern, sodass der hellblaue Lack, der jetzt fast schwarz glänzte, nicht beschädigt werden konnte. Lenell warf kein Seil aus, sondern hielt das Boot am Anleger fest. Das erinnerte ihn daran, dass er tatsächlich Muskeln im Oberarm hatte. Wasser versuchte sich zwischen den Anleger und das Boot zu drücken. Gleich darauf spürte Lenell Spechtmenschs Hand in seinem Nacken. Das kribbelte.
»Danke dir, Champ.«
Lenell lächelte. Spechtmensch setzte ihm die Cap auf und stieg an Land.
»Das sollten wir öfter machen«, sagte er. »Ich mag das Adrenalin.«
»Grüß deine Koräen von mir«, antwortete Lenell. Er löste seinen Griff und das Boot trieb ab. Dann startete er den Motor. Nach einem Halbkreis fuhr er wieder am Anleger vorbei. Spechtmensch war schon auf der Steintreppe, drehte sich aber noch mal um und winkte.
Im Golf, auf halber Strecke nach Egio, stoppte Lenell das Boot. Er schaltete die neonblauen LEDs im Bodenraum ein und ließ seine Rückenlehne nach hinten kippen. Er zog seine Schuhe aus, stellte sie aufs Armaturenbrett und betrachtete den Himmel. Da erinnerte er sich, dass dies die kürzeste Nacht des Jahres war. Jäh entzündete sich daran das Gefühl von Endlichkeit. Lenell glitt in den Rumpf, sodass er umhüllt war von Neonleuchten. Wie sollte er sich in seinem seelischen Zustand um die Verwerfung kümmern? Worum sollte er sich überhaupt kümmern? Lenell entdeckte in der Cap eine kleine grüne Feder. Er schwenkte sie durchs Lichtfeld, hielt sie höher, in die Nacht, ließ sie zurücksinken ins Licht. Die Cap roch nach Plastik und Polyester, aber auch nach Spechtmenschs Parfum. Es würde keinen stufenweisen Ausweg mehr geben, bei dem seine Lebensweise unangetastet blieb. Er steckte zu tief im Schund seiner Psyche. Er hatte aufgehört, auf Therapie zu hoffen, und sich geschworen, nie wieder in eine Klinik zu gehen. Das hieß, es blieb nur eine Lösung.
Der dritte Part von Eminems Cleanin’ Out My Closet war, egal, wie sehr sich Lenell wünschte, ein anderer Mensch zu werden, längst zu einem tragenden Teil seiner selbst geworden, zu einer ersten Prothese in der pubertierenden Verlorenheit. Damals war er vierzehn Jahre alt gewesen. Und viele Gefühle, die vage waren, hatten durch Cleanin’ Out My Closet an Schärfe gewonnen, oder überhaupt Bedeutung erhalten. Aus Verlorenheit war Hass geworden: eine Unbereitschaft, nachsichtig zu sein. Dabei hatte Lenell gespürt, dass sein Hass egoistisch war. Aber genau das war das bestechende. Nachdem er sich jahrelang für Levin aufgeopfert hatte und versucht, ein Wellenbrecher zu sein, vermittelnd, verstehend, berauschte es ihn, selbstgerecht zu werden, nicht mehr zu vergeben. In Lenell war die Überzeugung erwachsen, Kontrolle erlangt zu haben. Er musste die Vorhaltungen seiner Mutter nicht mehr hinnehmen, sondern konnte eigene Vorhaltungen dagegensetzen. Er musste nicht mehr kleinlaut zum Kühlschrank laufen, wenn er seine Mutter in der Küche dabei ertappte, zu viele von den verschreibungspflichtigen Pillen zu schlucken, sondern er konnte sie konfrontieren. Er musste nicht mehr vor der nächtlichen Raserei flüchten, sondern er konnte furchteinflößend sein. Er musste sich nichts mehr gefallen lassen, sondern er konnte seiner Mutter drohen. Er konnte auf den Zweitmann losgehen. Er konnte die Einrichtung zerstören. Er konnte schreien. Was dabei kaputtging, war seine Verbindung zu Levin. Sein kleiner Bruder war entsetzt von Lenells Verhalten und fühlte sich nicht mehr beschützt von ihm. Stattdessen schlug sich Levin immer öfter auf die Seite der Mutter. Lenell blieb zurück, ohne Verbündete, wehrlos. Er brüllte Levin an, versuchte ihn auf das ständige Kippen hinzuweisen, aufs Hinkippen und Herkippen der Manipulation. Eigentlich war er verwirrt. Eigentlich hatte er keine Ahnung, was er von sich gab. Er bezichtigte seine Mutter der Hirnwäsche. Er dachte an Suizid. Die Musik von Eminem hatte ihm eine Möglichkeit gezeigt, zu handeln, aber sie hatte nicht dazu geführt, dass er verstand, was vor sich ging. Lenell sehnte sich danach, dass seine Mutter sagte, sie habe ihm unrecht getan. Aber jedes halbwegs nüchterne Gespräch eskalierte. Wenn sie versuchten, miteinander zu reden, mündete die Konversation bald in neuen Vorwürfen. Einmal hatte seine Mutter im Zorn gesagt, sie wünsche Lenells Tod. Sie war betrunken gewesen. Anstatt ihr alle Flüche, die er kannte, gegen den Kopf zu knallen, hatte Lenell kurzum seine wichtigsten Sachen in einen Reiserucksack gepackt und das Haus für immer verlassen. Er kam bei der Familie eines Basketballfreundes unter. Von nun an machte er mehr Sport, er beschäftigte sich mit Erdbeben, er zockte Konsole, er lernte Karate, er hörte Musik, er versank im Internet. In der Schule war Lenell strebsam, nach der Schule war er kriminell; er assistierte bei sinnlosen Einbrüchen, beteiligte sich an Aktionen einer Graffiti-Crew, prügelte sich, verkaufte manchmal Drogen. Er wurde geschnappt, angeklagt. Das Jugendstrafrecht hatte ihn verschont. Und obwohl er beim Basketball überaus begabt war, gelang es ihm nicht, in wichtigen Spielsituationen ruhig zu bleiben. Sobald er auf den Court ging, wurde er nervös. Talentscouts beobachteten ihn, verfolgten seine Performance, hielten ihn aber letztlich für zu instabil.
In diesen Jahren lief Lenell nachts oft allein durch die Straßen. Er schlief kaum. Er fühlte sich wie Eminem. Aber er fühlte sich auch wie Ryu. Er war ein junger Karateka, ohne Zuhause, ohne Familie. Er wanderte umher und suchte Herausforderungen. Das stellte er sich zumindest vor. Er fühlte sich wie 2Pac. Er fühlte sich wie Tony Montana. Er fühlte sich wie John Cena. Er fühlte sich wie Harry Potter. Er fühlte sich wie Neo. Er fühlte sich wie Michael Corleone. Er fühlte sich wie Pablo Escobar. Er fühlte sich wie Agent Cooper. Er fühlte sich wie Allen Iverson. Er fühlte sich wie Leon der Profi. Er fühlte sich wie Ash Ketchum. Er fühlte sich wie Tommy Vercetti. Er fühlte sich wie Randall Raines. Schließlich war Lenell sechzehn Jahre alt, aber er fühlte sich wie alle Männer mit Troubles, die ihm in die Quere kamen.
Das Schlimme war, dass der Hass zwanzig Jahre später selbst als Prothese fungierte. Lenell hatte kaum noch das Gefühl von Kontrolle. Er meinte sich überwuchert von den Umständen seines Lebens. Was er jetzt deutlicher spürte, war die Sehnsucht nach einer Aussprache mit seiner Mutter. Er hatte es sogar noch ein paar Mal probiert. Immer war er auf Unverständnis und Spott und Verletztheit gestoßen. Sie hatte ihm angelastet, dass er sich abgewendet hätte, um sie zu zerstören. Sie hatte ihm gesagt, nie sei sie im Stich gelassen worden wie von Lenell. Aus ihrer Alkoholsucht war eine Nervenerkrankung hervorgegangen, an der sie schließlich gestorben war. Das war drei Jahre her. Lenell war nicht bei der Beerdigung gewesen. Trauer hatte er nicht verspürt. Er hatte nur den Eindruck gehabt, betrogen worden zu sein, zurückgelassen.
Die meisten seiner alten Vorbilder hatten für Lenell an Wert verloren. Nur Eminem war ihm als Schutzpatron geblieben. Der dritte Part von Cleanin’ Out My Closet hatte noch immer Gültigkeit, wenngleich eine schale Gültigkeit, derer Lenell sich schämte. Er wünschte sich, seiner Mutter vergeben zu können, mehr Milde zu empfinden. Aber dafür hasste er sie zu sehr. Er hasste sich selbst für seinen Hass. Innerlich war er auf Prothesen angewiesen. Es war abwegig, aber er konnte sich nicht vorstellen, ohne Antidepressiva, Tavor, Eminem und Hass zu überleben. Lenell fühlte sich fremdbestimmt von seinen Prothesen. Nur Helen wusste darum. Nur sie konnte ihm helfen.
Zunächst flog Helen nach Paris. Sie wollte ein paar Tage bei Bianca verbringen. Zum einen überführte sie neue Werke in die Galerie, für anstehende Auftritte bei Kunstmessen. Außerdem plante sie mit Bianca eine informelle Verkaufspräsentation der Bilder, die sie am Tag der Sonnenwende gemalt hatte, zu der nur wenige Kuratorïnnen, Kritikerïnnen, Sammlerïnnen und Bekannte eingeladen waren. Und sie wollte möglichst entspannt und mit Biancas Unterstützung entscheiden, welche Ausstellungseinladungen sie für das nächste Jahr annehmen würde.
Während des Flugs träumte Helen von Schwimmbecken, die allerdings ausgegossen waren mit Flüsterasphalt. Ihre Schritte machten keine Geräusche. Plötzlich kam ihr Flüsterasphalt illusionär vor; sie wusste nur nicht, ob das Illusorische von ihren Schritten her kam oder von den Nichtgeräuschen. Löschten die Geräusche die Schritte aus, oder löschten die Schritte die Geräusche aus? Innerhalb des Schwimmbeckens würde sie keine Antwort erhalten, das war offensichtlich. Aber noch immer schlafend, ahnte Helen, dass sie nicht fähig war zum luziden Träumen. Sie streichelte den Flüsterasphalt, sprach ihm gut zu. Ein Steward weckte sie und fragte, ob sie lieber Tomatensaft oder Cola wolle. Sie beugte sich vor und streichelte ausgiebig den PVC-Boden.
Dabei sagte sie: »Cola, ist doch klar.«
Lenell fuhr an diesem Tag ins Büro: Er checkte seismografische Messwerte und trank grünen Tee. Sein Entschluss stand fest. Aber er fürchtete sich vor den Auswirkungen. Fein säuberlich teilte er sich eine Tavor mit der Messerspitze in kleine Portionen, die er in willkürlichen Abständen einnahm. Dabei überarbeitete er das Skript eines Vortrags aus dem Frühjahr für den entstehenden Tagungsband. Er zoomte mit einem Kollegen aus Marseille wegen der Zusammenführung von Daten. Nachdem er seine Arbeit getan hatte, suchte er im Internet nach Exoskeletten. Fürs Erste bestellte er ein leichtes, schusssicheres Exemplar für den Thorax aus Carbon. Es kostete 1900 Euro. Eigentlich war es für militärische Einsätze entwickelt worden. In Lenells Fall sollte es Entlastung bringen für seinen Rumpf und Rücken und korrigierende Wirkung haben bezüglich der Falschstellung seiner Wirbelsäule. Womöglich lag es am Tavor, aber Lenell meinte, die elende Phase der Stagnation, in der er gefangen war, komme an ihr Ende. Zufrieden machte er sich auf den Weg zur Insel, um Basketball mit Spechtmensch zu spielen.
Die Sonne schien auf den Court und die Nadeln in den Kiefernbäumen bewegten sich kaum. Es roch nach Harz und Staub. Zikaden schredderten die Stille.
Sie traten zum ersten Mal gegeneinander an.
1 on 1.
Man gewann mit sechzehn Punkten, wobei ein Korb aus dem Feld für einen Punkt zählte, ein Dreier für zwei. Spechtmensch trug einen styroporenen Schnabelschutz, damit er Lenell nicht versehentlich verletzte. Er schwor, dass es ihn nicht stören und schon gar nicht einschränken würde, allerdings notwendig sei. Lenell hätte kein Problem damit gehabt, von Spechtmenschs Schnabel getroffen zu werden, das musste er sich im Geheimen eingestehen. Es wäre erotisch und rauschhaft gewesen, den Schnabel von Spechtmensch im eigenen Fleisch zu spüren. Lenell ertappte sich als Fan einer blutrünstigen Romantik. Womit Lenell allerdings nicht gerechnet hatte, waren Spechtmenschs schneller Antritt und die Beinkoordination. Auch kam er nicht gut damit zurecht, dass Spechtmensch Linkshänder war. Lenell war defensiv überfordert. Immer wieder gelang es Spechtmensch, über seine linke Seite zum Korb zu ziehen und abzuschließen. Lenell traf den Dreier gut, aber Spechtmensch, der athletischer war, konnte ihn eng verteidigen, ohne sich beim Drive schlagen zu lassen. Außerdem hatte Spechtmensch schnell kapiert, wie schlecht Lenells Ballhandling mit dessen schwacher linker Hand war; er schickte Lenell demonstrativ über links, wodurch er gleichzeitig den Pullup erschwerte. Zwei Moves halfen Lenell: erstens ein Dribbling über links, auf das ein Spinmove folgte, der entweder zum Korbleger oder Mitteldistanzwurf führte; zweitens ein Stepback-Jumper nach einem Dribbling über rechts. Das erste Spiel war eng, aber Spechtmensch gewann schließlich. Im zweiten Spiel traf Spechtmensch mehrere Dreier hintereinander und gewann ebenfalls. Das verärgerte Lenell und spornte ihn an. Er hatte lange nicht mehr so geschwitzt. Sein Kopf nahm einen pastellrosa Stich an. Fast wurde er böse auf Spechtmensch. Er verspürte überhaupt keine Lust mehr auf Romantik, sondern forderte Revanche. Im dritten Spiel traf er jeden Wurf, obwohl Spechtmensch nah an ihm blieb. Lenell gewann deutlich. Sie vereinbarten, dass sie so lange weitermachen würden, bis einer von ihnen drei Spiele gewann. Dann verklärte sich Lenell wieder in Nervosität, wie früher, wenn es wichtig gewesen war. Spechtmensch fiel auf seine Fakes rein, Lenell vergab allerdings die einfachsten Würfe. Fluchend fiel Lenell über sich selbst her, während Spechtmensch Rebounds holte, den Ball klärte und Lenells Unkonzentriertheit ausnutzte. Schnell wusste Lenell, dass er höchstwahrscheinlich verlieren würde. Das euphorische Gefühl, das er vormittags in seinem Büro vernommen hatte, war vorüber. Er wollte nicht aufgeben und verteidigte hart. Aber Spechtmensch traf trotzdem ein paar anspruchsvolle Jumper aus der Mitteldistanz. Kurz versuchte Lenell, seine Wut trashtalkend auf Spechtmensch abzuwälzen, in der Hoffnung, dass er ihn verunsichern könnte, zu Fehlern verleiten. Das funktionierte nicht. Spechtmensch ging nicht auf seine Provokationen ein. Stattdessen verwandelte er bald den entscheidenden Dreier, schaute Lenell an, ohne Stolz, und sagte aufmunternd: »Gut gespielt, Lenelli.« Sie klatschten ab. Nach einer kurzen Verschnaufpause, in der Lenell wieder einigermaßen zu Sinnen kam, fragte Spechtmensch: »Sollen wir runter zum Meer?«
Lenell nickte.
Eine Weile surften sie. Anschließend lümmelten sie in Badehosen auf den Plastikliegen. Lenell nahm den Himmel als Dunstabzugshaube wahr. Er hatte den Wunsch, seine Badehose auszuziehen, um nackt neben Spechtmensch zu sein, aber er traute sich nicht. Er fuhr mit dem Zeigefinger durch die nassen Haare auf seinem Bauch, oberhalb des Bunds, fabrizierte eine Spirale um seinen Nabel. Spechtmensch sagte, er habe gerade viel zu tun mit Borkenkäfern. Er wisse, dass es unmöglich sei, alle Larven auf seinem Grundstück aufzuspüren und aus den Baumrinden zu schlürfen. Aber es dürfe nicht überhandnehmen, denn dann seien seine Koräen bedroht. Ob es ihn nerve, wollte Lenell wissen. Ach was, meinte Spechtmensch, es sei eben die Arbeit eines Spechts. Im Grunde sei er froh darum. Was sollte er sonst den ganzen Tag tun. Er stelle Pheromonfallen auf, locke die Borkenkäfer weg von seinen Koräen. Dazu würden Aufgaben wie das Fällen befallener Bäume und das Beseitigen von Totholz kommen. Er sei einfach ein Waldhüter und das mache ihn glücklich.
»Ich beneide dich«, sagte Lenell. »Hast du nie Angst, wenn du immer allein bist?«
Spechtmensch antwortete: »Manchmal gehe ich nachts durch meine Wälder. Weißt du, ich höre alles überdeutlich. Ich schaue umher und die Äste bewegen sich falsch für die Stärke des Winds. Und ich denke, sie haben Arthrose, die Äste. Und dann denke ich, dass ich selbst Arthrose habe, zumindest in meiner linken Hand. Und das macht mir Angst.«
»Zeig mal deine Hand.«
Lenell tat etwas, das er selten tat, nämlich auf kitschigste und besänftigendste Weise pustete er in Spechtmenschs Handfläche. Er versuchte sich zu kümmern. Dabei verkrampfte sein Oberkörper, als wäre er selbst ein arthritischer Ast.
»Ich weiß nicht, ob das hilft«, antwortete Spechtmensch lächelnd. »Aber ich werde mich daran erinnern, wenn sich die Äste das nächste Mal falsch bewegen.«
Wie hatte es zu dieser Geste der Fürsorglichkeit kommen können? Lenell grübelte, weil er sich erschrocken hatte. Und dann kam ihm die traurige Antwort. Er sagte: »Ich habe mich für das Unabsehbarste entschieden, obwohl ich es immer vermeiden wollte.«
Spechtmensch stellte seinen Kopf schief und kniff die Augen zusammen.
»Ich bin seit über fünfzehn Jahren in Behandlung«, sagte Lenell. »Ich war in Kliniken, in Paris, in Athen. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich nicht loskomme von der Auflösung in mir. Keine Medikamente können das ändern. Aber ich konnte es hinkriegen, dass es ausreichend war. Mit ausreichend meine ich zumutbar. Es gab mehr Nichtaufgelöstes als Aufgelöstes. Ich dachte, ich richte mir das Leben so ein, dass ich meine Arbeit schaffe und sonst möglichst viel Fun habe. Aber in der Auflösung löst sich auch der Fun auf. Obwohl ich gerade eigentlich viel Freude habe. Aber selbst die Freude ist mir unerträglich. Ich komme zu einem Kipppunkt, wo ich mir nicht sicher bin, ob ich eher das Nichtaufgelöste bin oder das Aufgelöste. Und deshalb werde ich Helen darum bitten, ihre Kräfte zu nutzen, um die Auflösung in mir zu stoppen. Aber ich habe keine Ahnung, wer ich danach sein werde.«
»Wow«, sagte Spechtmensch, eher verblüfft als erstaunt.
»Ich bin mir auch sicher, dass Helen und ich danach nicht mehr zusammen sein werden.«
»Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, wer ich sein soll ohne die Auflösung in mir. Ich bin selbst schon zur Auflösung geworden. Vielleicht kann mein Leben ein Stück weit von vorn beginnen.«
»Ein Leben, fast abgeschirmt von seiner Vergangenheit.«
»Stimmt, das ist die Konsequenz. Aber ich möchte lieber rausfinden, wer ich noch sein könnte, anstatt mich komplett aufzulösen. Wer weiß, was Helen bewerkstelligen kann.«
»Kannst du ihr das zumuten?«
»Darüber denke ich schon lange nach. Sie würde auf jeden Fall bejahen.«
»Habt ihr schon darüber gesprochen?«
»Nicht explizit, aber ich würde sagen, dass wir die Möglichkeit bedacht haben. Ich werde sie am Telefon fragen, solange sie in Paris ist. Dann kann sie darüber nachdenken.«
»Ich hoffe, Helen kann dich vor den Borkenkäfern bewahren, so wie ich die Koräenkiefern bewahre.«
Lenell überlegte lange. Spechtmensch starrte in die Welle.
»Meine Psychologin sagte einmal, ihrer Meinung nach sei ich nicht komplett willens. Ich empfinde das als Beleidigung, obwohl ich ahne, was sie meint. Denn es stimmt: Ich lamentiere zu viel über meine Mutter, ich verfange mich in Vorwürfen und ich erzähle wieder und wieder denselben Kram. Meine Psychologin ist ungeduldig. Sie will nicht hören, wie ich die immer selben Klagen vorbringe. Und ich weiß, dass ich schon wieder damit anfange, aber ich schaffe es nicht, mich zu unterbrechen, und wahlweise denke ich, ich sei ein Idiot oder ich sei traumatisiert. Meine Psychologin sagt, ich solle Verhaltenstherapie probieren. Aber ich wurde schon so oft mit neuen Ansätzen geködert. Ich schäme mich vor Helen, ich schäme mich für Helen. Sie ist so stoisch darin, mir meine Idiotie oder Traumatisiertheit zu lassen, auch wenn ich oft hinabsinke in mein Beharren. Ich beharre auf meiner Unschuld. Ich kapiere zwar, dass ich mich damit zu einer Auswirkung des Lebens meiner Mutter degradiere, aber letztlich fühle ich mich genau so. Niemand juckt es, ob ich schuldig oder unschuldig bin. Nur mich. Und das meint meine Psychologin damit, dass ich nicht willens sei.«
Augenblicke kamen, sie kamen zum Glück immer wieder, nicht in voraussehbaren und schon gar nicht in festgelegten Abständen, in denen Helen leicht schwindelte, in denen ihr Magen warm wurde und kribbelte. Dann wusste sie, dass sie eine bessere Malerin geworden war. Ihre Organe brummten, um zu bekunden, dass sie eine Entwicklung abgeschlossen hatte. Sie war hochgelevelt. Ungewollt waren neue Wahrnehmungsweisen in ihr sedimentiert. Sogar ihr Brustbein fühlte sich softer an. In diesen Augenblicken merkte Helen, dass nicht nur die Zeit voranschritt, sondern parallel und antithetisch auch eine viel geheimnisvollere Fügung, die ihr bedeutete, dass sich das Malen, obwohl der eigenen Empfindung nach vielleicht folgenlos, durchaus auswirkte. Das Malen half ihr. Sie hätte weinen können in diesen Augenblicken, aber sie tat es nicht. Diese erreichten Level bekräftigten Helen, und wer weiß, ob sie ohne diese Bekräftigungen überhaupt noch malen würde. Helen wurde von diesen Augenblicken legitimiert, und das war wichtiger als die grundlegende Delegitimation, in der sie zu existieren meinte.
Während Lenell in der Küche des Bungalows stand, es war ein Samstag, und das Exoskelett um seinen Oberkörper anlegte (Gurtlängen veränderte, Klettverschlüsse festdrückte), dachte er zurück, wie er Helen vor elf Jahren in Paris kennengelernt hatte. Es war im Café eines kleinen Kinos gewesen. Er war von seinen Mitbewohnern zu einer Retrospektive des japanischen Regisseurs Seijun Suzuki geschleppt worden. Und obwohl Lenell den tragischen Männerfiguren ein bisschen früher in seinem Leben sofort anheimgefallen wäre, widerten sie ihn mittlerweile an. Das lag daran, dass er beschlossen hatte, sich andere Verhaltensweisen zum Vorbild zu nehmen. Denn in den Gewaltkaskaden der überzeichneten, wortkargen, hartgesottenen Gangster konnte er leicht seine eigene zurückgehaltene Wut wiederentdecken, wenn er es zuließ. Und das kam ihm billig vor. Es kam ihm wie Nachgeben vor. Vor dem Kino lernte Lenell ein paar Freundïnnen seiner Mitbewohner kennen, alle studierten an der Kunsthochschule. Auch Helen war darunter. Lenell hielt sich zurück, nickte den Menschen zu, grinste geistesabwesend. Er setzte sich bei der ersten Vorstellung, es war der Klassiker Branded to Kill von 1967, an den Rand der Sitzreihe, verschlang Unmengen Zimtpopcorn und ärgerte sich, dass er sich hatte überreden lassen. Noel hatte am Abend zuvor in seinem Zimmer gestanden, einen grünen Bacardi Breezer in der Hand, und eine alkoholisierte Brandrede gehalten darüber, dass die tiefgreifendsten Neuerungen ausschließlich in der Form stattfinden würden, nur in der Form könnten die Voraussetzungen geschaffen werden, die automatisiert stattfindende Realitätsmaniküre zu überwinden. Das sei kaum besser nachvollziehbar als am Beispiel von Seijun Suzuki. Lenell hatte wohl fragend geschaut, denn Noel war schockiert zur Seite gekippt, halb echt, halb gespielt, hatte sich aber wieder fangen können. Ob er bezüglich Seijun Suzuki noch nie von der Hypostase des Generischen gehört habe? Lenell hatte sich zuerst entschuldigt und dann verneint. Auf der Stelle hatte Noel sein Smartphone aus der Hosentasche gezogen und eine Freundin angerufen, die im besagten Kino arbeitete. So demonstrativ wie möglich hatte er Karten für Lenell geordert, wobei er mit roten Wangen und glasigen Augen in den Stuck an der Decke versunken war. So war es schließlich dazu gekommen, dass Lenell nach Branded to Kill im Café saß und pflichtbewusst, aber verzweifelt auf den zweiten Film wartete, Underworld Beauty von 1958. Er trank Grapefruitschorle. Weil die Fans von Seijun Suzuki, mit denen er dummerweise bekannt oder befreundet war, in unterschiedlicher Aufteilung immer wieder vor die Tür zum Rauchen verschwanden und sich so eine Fluktuation auf den Stühlen ergab, fanden sich Lenell und Helen bald nebeneinander wieder.
Wie er den Film gefunden habe, fragte Helen zuerst.
»Mäßig«, antwortete Lenell.
»Mäßig?«, wiederholte Helen.
»Ja«, sagte Lenell und trank von seiner Grapefruitschorle.
»Du weißt, dass du für diese Meinung in der falschen Veranstaltung bist?«, fragte Helen.
»Ja«, sagte Lenell lächelnd.
»Was fandest du mäßig an dem Film?«, wollte Helen wissen.
Lenell antwortete: »Nervige Auftragskiller killen sich gegenseitig, sodass die Organisation, die das veranlasst, am Ende überhaupt keine Auftragskiller mehr hat. Aber ich verstehe schon, Noel hat es mir erklärt, es ist keine Realitätsmaniküre. Ich kann nur die Bloßstellung von Gewalt momentan nicht vertragen.«
»Die Realität ist gewalttätig«, sagte Helen.
»Ja«, antwortete Lenell.
»Seijun zeigt uns das«, sagte Helen.
»Seijun?«, antwortete Lenell. »Du nennst ihn beim Vornamen?«
Helen lachte.
»Ja«, sagte sie. »Er war jahrelang prekärst angestellt bei einem Filmstudio, das ihn nur B-Movies machen ließ. Sie gaben ihm Skripte, Schauspielerïnnen, und er hatte zwei Wochen Zeit, die Produktion des Films vorzubereiten. Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, wie sehr er die Vorgaben immer mutwilliger und entschiedener pervertierte. Nach Branded to Kill wurde er rausgeschmissen und konnte knapp zehn Jahre lang keinen Film machen.«
»Respekt dafür«, sagte Lenell. »Trotzdem fand ich den Film mäßig.«
»Ich mag daran, was oft als kalkulierte Dissonanz bezeichnet wird.«
»Ich habe mitgekriegt, dass Killer alles, was ihr Leben ausmacht, zerstören, inklusive sich selbst. Meinst du das?«
»Seijun hat einmal etwas Schönes über die Zerstörung gesagt.«
»Ach ja?«
»Ja. Er sprach über einen bekannten, sehr imposanten Tempel, der von Passantïnnen jahrhundertelang übersehen und ignoriert wurde. Der Tempel machte sich selbst unsichtbar durch seine Präsenz. Erst als der Tempel zerfallen war und verwahrloste, wurde er wertgeschätzt. Seijun sagte, was intakt sei, existiere nicht wirklich. Nur das Zerstörte bringe Menschen dazu, zu imaginieren, was gewesen ist und was Bedeutung hat. Deshalb gibt es einen Hang zur Zerstörung. Das Ruinöse klärt uns über unser Leben auf. Und das stellt Seijun dar in seinen Filmen.«
Lenell hatte eigentlich antworten wollen: Weißt du, ich bin der Tempel, von dem Seijun Suzuki spricht. Aber stattdessen sagte er nichts und schaute Helen auf eine Weise an, in der enthalten war, dass sie sich verlieben würden. Bei Underworld Beauty saßen sie Seite an Seite und Lenell hätte nichts egaler sein können als die anschließenden Diskussionen, ob der Film vom deutschen Expressionismus beeinflusst war oder nicht. Und als er bald darauf zum ersten Mal Bilder von Helen sah, stellte er erleichtert fest, dass ihr Werk weit entfernt war von dem, wie er die Filme von Seijun Suzuki erinnerte. Er hatte sein Glück kaum fassen können: Er war gerade Mitte zwanzig und hatte eine desaströse Jugend hinter sich. Aber gleichzeitig promovierte er in Seismologie und war der feste Partner von Helen Farxo.
Was ihm von diesem Abend auch geblieben war, war der Titelsong von Seijun Suzukis Film Tokyo Drifter von 1966. Der Song war im Café gelaufen, während Lenell und Helen ins Gespräch gekommen waren. Es gab keinen hartnäckigeren Ohrwurm in Lenells Leben, obwohl er den Film nie gesehen hatte.
Lenell trug nur eine schwarze Jogginghose und das schwarze Exoskelett, das sein Hohlkreuz geraderückte. Er stand in der Küche und sang die Melodie des Titelsongs von Tokyo Drifter. Singend lief er raus und goss den Granatapfelbaum. Die Gießkanne fühlte sich leichter an. Er goss auch den Maulbeerbaum. Anschließend ging er ins Bad. Lenell zog sich durchsichtige Plastikhandschuhe über und trug sich Haarfärbemittel auf. Er wollte sich wieder blondieren. Während der fünfunddreißig Minuten langen Einwirkzeit hockte er in Helens Atelier und betrachtete ihre Bilder. Plötzlich fiel ihm auf, wie lange er sich ihre Bilder nicht mehr angesehen hatte. Kurz kam ihm der Gedanke, ob es folgerichtig wäre, sich jetzt umzubringen. Nicht im Atelier, sondern in Ruhe am Meer, außerhalb von Egio. Einfach das ganze Tavor, das sich in seinem Besitz befand, einnehmen, vielleicht noch einen Bacardi Breezer hinterher, und dann entspannt einschlafen, in der Gutgläubigkeit der Wellen. Er verwarf den Gedanken. Er dachte an Spechtmensch. Verstört von sich selbst trottete er ins Bad, zog noch einmal die Plastikhandschuhe an und spülte sein Haar. Dass er sich mit dem Exoskelett militärisch fühlte, mochte er überhaupt nicht. Dieses Gefühl lenkte ihn ab von seinem sich auflösenden Hirn. Er stellte sich in den Hauseingang, schaute blondiert in den Garten und bekam Schluckauf. Helen sagte immer, nichts helfe gegen Schluckauf: nicht umgekehrt aus einem Glas trinken, nicht Luftanhalten, nicht Erschrecktwerden. Man müsse geduldig sein, das war’s. Lenell schaffte es nie, den Schluckauf genügsam durch sich hindurch walten zu lassen. Ihm fehlte es an Indolenz. Meistens probierte er es mit Luftanhalten. Das Blöde bei Schluckauf war, dass es keine Beweise gab, was funktionierte und was nicht. Man redete sich letztlich einfach gut zu und überbrückte die Zeit, bis es aufhörte. So ist mein Leben, dachte Lenell. Andauernd rede ich mir gut zu, während mein Hirn zerfällt, andauernd überbrücke ich die Zeit. Aber er hatte den Eindruck, dass das Luftanhalten wirkte. Nach dem dritten Anlauf war der Schluckauf vorbei.
Um sich sicherer zu fühlen, schlüpfte Lenell in Sneakers und setzte sich in seinen Pick-up, der in der Einfahrt stand. Er verband sein Smartphone mit der Freisprechanlage und rief Helen an. Sie hob ab.
»Hey«, sagte Lenell.
»Na?«, fragte Helen.
»Hast du kurz Zeit?«, fragte Lenell.
»Klar, ist was Bestimmtes?«
»Ja, etwas sehr eigenartig Bestimmtes.«
Lenell stellte seine Füße auf den Beifahrersitz und begann zu weinen.
»Ich schaffe es nicht mehr allein, Helen. Ich weiß, dass es ignorant und selbstgerecht ist, aber ich wünsche mir deine Hilfe. Ich wünsche mir, dass ich noch ein bisschen leben kann. Und ich weiß nicht, wie lange das noch funktioniert ohne deine Hilfe.«
»Du meinst, ich soll versuchen, die Depression aus dir rauszuwirken?«
»Ja. Und es tut mir leid.«
»Muss dir nicht leidtun, Lenelli.«
Bevor Helen damit begonnen hatte, Lenell Lenelli zu nennen, hatte er nie einen Spitznamen gehabt. Immer hatte er gedacht, er sei nicht besonders genug und dass es ausreichte, ihn nicht zu individualisieren. Wie Helen jetzt den einzigen Spitznamen sagte, den er je haben würde, wusste er, dass er das Richtige getan hatte.
»Ich mach’s«, sagte Helen. »Ich kann dir aber nichts versprechen.«
»Danke. Du bist für mich, was alles andere ein bisschen unwichtiger macht.«
Helen wollte impulsiv antworten: Nicht unwichtig genug scheinbar. Aber sie wusste, dass das unfair und sogar dumm war. Sie war froh, dass sie es nicht ausgesprochen hatte.
»Hältst du es aus, bis ich zurück bin?«, fragte sie stattdessen.
»Ja.«
»Ich empfinde viel Liebe für dich, Lenelli.«
Nach dem Gespräch wusste Helen, dass sie Lenell verlieren würde. Und sie war der Ansicht, vielleicht aus Trotz, dass sie damit umgehen konnte. Sie dachte an die Stelle bei Deleuze, wo er sagt, es gehe nicht um Trauerarbeit, sondern dass Anti-Trauer die wichtigere Arbeit sei. Das könnte ein Credo sein, sagte sie sich. Aber dann dachte sie: Nur Mutterficker brauchen Credos.
Lenell blieb noch lange im Pick-up sitzen. Einzig schaffte er es, den Titelsong von Tokyo Drifter im Loop laufen zu lassen.
Das Telefonat hatte Helens Stimmung vermiest. Okay, sie hasste Besitzansprüche, aber jetzt sollte sie Lenell hergeben, damit er ein anderes Leben leben könnte. Und zwar durch ihr eigenes Zutun. Sie würde dieses andere Leben initiieren, was es ihr im Umkehrschluss unmöglich machte, amourös darin stattzufinden. Ihr war klar, dass sie von Eigensucht überwältigt wurde und dass sie verkommene Gedanken dachte. Sie zürnte ihren telekinetischen Fähigkeiten. Als sie an einem Café vorbeikam, ließ sie verzweifelt die im Sonnenlicht glitzernden, rotierenden, kristallinen Flüssigkeiten in einem Slushyautomaten gefrieren. Wie idiotisch, dachte Helen und schaute auf die grünen, blauen und roten Eisblöcke. Die Rührgeräte steckten fest. Der Automat begann zu piepen. Helen setzte ihren Weg fort. An der nächsten Ecke schaltete sie einen E-Scooter frei und fuhr auf der Pont de l’Alma über die Seine. Während sie in relativ leeren Seitenstraßen bis zum Maximum beschleunigte, dachte sie darüber nach, dass sie in Selbstlosigkeit all in gehen würde, auf eine Weise, die man von außen als würdevoll ansehen könnte, von innen aber nur als Verlustgeschäft. Als notwendiges, nicht zu verhinderndes Verlustgeschäft. Helens Kraftfeld schwappte aus ihr heraus, entzog sich ihr, verschob sich, wurde uneins mit ihrem Körper. Sie empfand Zerstörungswut. Aber sie hielt sich zurück. Sie stellte sich vor, die Begriffe Diskretion und Demut stundenlang mit Autotune zu singen. Diese Vorstellung half ihr. Ihr Körper fühlte sich dabei selbst an wie eine Autotune-Version ihres Körpers. Sie zerstörte nichts. Stattdessen parkte sie den E-Scooter in der Nähe von Saint-Sulpice und setzte sich vor der Kirche auf eine Bank. Sie betrachtete das Treiben um den Brunnen: influencermäßige Frauen veranstalteten Fotoshootings, Menschen trafen sich zu Dates, Hunde spielten, Kinder, die schimmernde Heliumballons in den Händen hielten, waren auf Inlinern unterwegs, Essenskuriere kamen vorüber. Der Himmel war geruchlos und breiig und hellblau. Seit elf Jahren hatte sie ihr Leben in Abstimmung mit Lenell verbracht. Wenn sich Änderungen ankündigten, hatten sie sich in Aushandlungen involviert, um ihre Sehnsüchte neu abzustimmen. Sie hatten sich geschworen, die radikale Andersartigkeit des anderen nie infrage zu stellen. Helen war sie selbst gewesen, aber auch das Einvernehmen Lenells. Umgekehrt war es genauso. Auch jetzt würde sie Lenells Einvernehmen sein. Aber danach würde sich ein Umbruch vollziehen, denn sie würde in Lenells Andersartigkeit eingreifen. Sie würde allein sein, ohne das Einvernehmen eines anderen Menschen. Helen schauderte. Da rief Bianca an und erzählte, fast hyperventilierend, dass sie gerade eine anonyme Postsendung erhalten hatte, in der sich ein Bild von Helen befand; eine von den Fahnen, die einst in Lelystad geklaut worden waren. Bianca war aufgeregt. Sie witterte Publicity. Nichts bekümmerte Helen gerade weniger als die geklauten Bilder. Nichts bekümmerte sie weniger als Publicity. Sie sagte zerstreut, Bianca solle die Ermittlerin informieren.
»Aber dann wird das Bild konfisziert und ich habe überhaupt nichts davon«, antwortete Bianca.
»Willst du es verkaufen?«, fragte Helen.
»Ich weiß nicht«, sagte Bianca. »Ich könnte es bei Empfängen oder Abendessen zeigen.«
»Du solltest es Lynn Kern schicken«, sagte Helen.
»Wem?«
»Egal.«
»Kannst du kommen?«
»Ja«, sagte Helen. »Bin unterwegs.«
Sie holte sich Cola in einem Express-Supermarkt und nahm ein Taxi.
Der Himmel sah aus, als würde er stocken; als würde die viskose Konsistenz, aus der er bestand, borstig werden. Helen schaute aus dem Fenster des Taxis und dachte an Streusel. Eine komische, unpassende Assoziation. Eigentlich war das Anfertigen von Streuseln immer unbefriedigend für sie. Sie vermischte Mehl und Zucker mit aufgewärmter, weicher Butter. Aber nie gelang es ihr, Streusel so herzustellen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Meistens wurden sie sofort zu fein und zerfielen zu Streuselgranulat. Gar keine Lust auf diesen Borstenhimmel, dachte Helen, den sie für ihre Assoziation verantwortlich machte. Sie trank Cola. Dann begann sie, auf ihrem Smartphone ein Racinggame zu spielen, in dem man mit Jetskis durch dystopische, ruinöse Lagunenstädte raste. Das bündelte ihre Aufmerksamkeit, ihre Verlorenheit. Als sie in einer Ladephase zwischen zwei Rennen wieder aus dem Fenster schaute, sah sie die Himmel von Cézanne. Und plötzlich wusste sie, wie der Tag enden würde.
In einem Nebenzimmer der Galerie, das Bianca als Büro nutzte, hing Helens Fahne an einer weißen Wand. Helen hatte das Gefühl, mit einer zurückgelassenen Version ihrer selbst konfrontiert zu sein. Die Fahne wirkte in dem kleinen Büro viel gröber als damals im Raumfahrtmuseum. Das war aufgrund der Relationen von Werk zu Wand nicht verwunderlich, irritierte Helen aber trotzdem. Sie erinnerte nur ihre eingebildete Atemnot in Lelystad und hielt sich an der Lehne von Biancas Stuhl fest. Würde sie überhaupt noch mal die schimmernde Fläche von Normalnull sehen, oder würde Normalnull bald verschwinden? Ersetzt werden von einer neuen Normalität? Sie spürte die Umarmung Biancas, die vom Wiederauftauchen des verschwundenen Werks aufgescheucht und berührt war. Außerdem war sie, man muss es so sagen, ein Fangirl von Helen. Und sie verdiente Geld mit Helen. Und sie war froh, dass in ihrem mondänen, aufgetakelten Alltag etwas Verruchtes passierte.
»Vielleicht tauchen die anderen Bilder auch noch auf«, sagte sie.
»Ja«, sagte Helen. »Ich kann aber auch einfach neue Bilder malen.«
»Kickt bei dir kein Bedauern rein?«
»Wegen der gestohlenen Bilder?«
»Ja.«
»Kein bisschen.«
»Willst du nicht wissen, von wem die Sendung ist?«
Helen zuckte mit den Schultern. Sie verknüpfte ihr Smartphone mit den Boxen der Galerie und spielte ein Best-of von Lynn Kern. Lächelnd tanzte Helen durch den Raum und forderte Bianca auf, mitzumachen. Bianca schaute ihr zu und sagte, wie einzigartig und schön es wäre, wenn Helen in der Stadt sei. Sie ging zurück in den Verkaufsraum. Helen setzte sich unter ihrer Fahne auf den Boden, steckte ihr Smartphone ans Aufladekabel und spielte weiter das Racinggame. Die schmachtenden Chansons erfüllten das Büro. Dunkelgelbes Licht der untergehenden Sonne kam durch die Fenster. Helen entdeckte einen Parcours, der durch ein überschwemmtes Paris führte. Nachdem das Startsignal gegeben wurde, setzte sie sich auf ihrem hellgrün lackierten Jetski direkt in Führung. Bald kam sie an dem Haus vorbei, in dem die Galerie war. Allerdings stand das Erdgeschoss vollständig unter Wasser. Helen fragte sich: Gibt es überhaupt eingebildete Atemnot? Ist Atemnot nicht immer Atemnot?
Dann näherte sich Bianca und sagte: »Vorne ist ein Mann, der nach dir fragt. Er heißt Batista.«
»Ah«, sagte Helen. »Ich komme gleich. Lass mich kurz zu Ende spielen.«
»Wer ist das?«
»Ein Escort. Ist er so durchtrainiert wie auf den Fotos?«
»Ich weiß nicht, ob er auf den Fotos noch durchtrainierter ist, aber ich denke ja.«
»Puh, zum Glück.«
»Ist das eine gute Idee?«
»Klar. Ich brauche Ablenkung. Du kannst auch mitkommen. Sollen wir ihn teilen?«
»Ich habe ein wichtiges Abendessen.«
»Na gut. Wir sehen uns also morgen.«
»Hast du schon überlegt wegen London?«
»Ja.«
»Und?«
»Ich mache die Ausstellung.«
Helen erhob sich und küsste Bianca auf die Wange. Anschließend verließ sie mit Batista die Galerie. Sie hielt (unsinnigerweise) Ausschau nach der schimmernden Fläche von Normalnull, sie hielt Ausschau nach sich selbst auf einem Jetski, über ihrem Kopf. Aber es war nur ein trockener Sommertag. Helen fragte Batista nach seinem Lieblingshotel. Er nannte das Pullman Montparnasse, zumindest wenn man weit oben residieren würde. Wie du meinst, sagte Helen und orderte ein Taxi.
In der dreißigsten Etage des Hotels ließ sie sich von Batista so oft ficken, bis er keine Erektion mehr bekommen konnte. Zwischendurch bestellten sie verschiedene Essen über den Zimmerservice. Obwohl Batista austrainiert und schön war, zog er Kondome mehrmals falsch herum auf seinen Penis und musste folglich andauernd neue aufmachen. Er lachte dabei. Bald war der Boden voll von nicht genutzten Kondomen und Plastikhüllen. Batistas Schusseligkeit erinnerte Helen an Lenell. Wobei Batista wegen seines Missgeschicks nicht in Selbsthass verfiel, sondern (unsinnigerweise) mehrmals wiederholte, dass er so viele Kondome wie nötig kostenlos von seiner Agentur erhalte. Helen bat ihn, als sie drei Orgasmen gehabt hatte, die Kondome in den Müll zu werfen und sie allein zu lassen. Beruflich, wie er war, nickte er, bedankte sich bei Helen und verließ, nachdem er sich angezogen hatte, das Zimmer. Zwischenzeitlich war es vier Uhr morgens. Helen hockte so auf dem Bett, dass sie über die rötlich glühende Stadt schauen konnte. Sie sah den Eiffelturm. Der Sex hatte den Autotune aus ihrem Körper vertrieben. So konnte sie es aushalten. Zumindest glaubte sie das. Sie sagte sich, dass sie bis zum Sonnenaufgang das Racinggame spielen würde, hier oben, in ihrer ungefährdeten Lage, und dass sie sich so schnell wie möglich Frühstück bringen lassen würde. Wenn der Horizont die ersten blassgelben Strahlen rüberschwappen ließe, würde sie Pancakes, Papayas und Croissants essen. Sie würde Kaffee und Orangensaft trinken. Das könnte ihre Zukunft sein, dachte sie, ihre uneinvernehmliche Zukunft. Sie fühlte sich einsam und glücklich.
Am Sonntag überprüfte Lenell frühmorgens die Messwerte der Verwerfungszone, zu Hause von seinem Computer aus. Keine Auffälligkeiten. Anschließend meditierte er im Wohnzimmer, wobei er, wie er so im Schneidersitz saß, hauptsächlich seinen Bauchansatz spürte, der über den Bund seiner Shorts lappte. Weil ihn das marterte, kam er sich nicht sehr zenhaft vor. Also legte er sein Exoskelett an und meditierte weiter. Die Staubkörner konnten gegen die Brachialität der gelben Morgensonne nichts ausrichten. Jetzt fühlte sich Lenells Bauch stabiler an, weniger zerrend, nicht mehr maßlos. So hatte er es sich gewünscht. Und trotzdem war es anrüchig. Zumindest dachte er das. Dann ermahnte er sich. Eigentlich ging sein Plan auf: Unterstützt vom Exoskelett war seine physische Präsenz entlastet, sodass er sein Hirn kitten konnte. Aber Lenell konnte keine Zuversicht mehr empfinden, auch nicht seinem Hirn gegenüber. Es war zu spät, immer war alles zu spät gewesen. Er wurde wütend. Nur noch Zirkulation, dachte er, mehr bin ich nicht, scheinheiliges Umrunden meiner Urängste. Er kam sich selbst dystopisch vor. Deshalb hatte er Helen darum gebeten, ihm die Depression auszutreiben. Beinahe war Lenell geneigt, ein paar Kampfsportübungen zu machen, um sich auszupowern, aber dann – in einem Anflug von Selbstverachtung – kochte er grünen Tee, zog ein Shirt über und fuhr zum Hafen. Das Fahren im Pick-up beruhigte ihn. Auch die Verrichtungen, um das Boot startklar zu machen, beruhigten ihn. Er nahm die Plane ab und rollte sie sorgfältig ein. Er löste die Taue und manövrierte das Boot entspannt hinaus aufs offene Wasser. Er hörte keine Musik. Hin und wieder trank er grünen Tee aus der Thermoskanne. Auf der anderen Seite des Golfs gab es eine quasi menschenfeindliche Bucht (auch wenn sich die Bucht selbst nicht so bezeichnen würde), die Lenell oft aufsuchte, wenn er allein sein wollte. Es war eigentlich ein gerölliger Steilhang, der vom Land aus nicht zu erreichen war. Und es gab keinen Strand, nur ein paar Felsen. Mitten im Hang wuchs allerdings eine einzelne Kiefer, und auf ihren freiliegenden, festen Wurzeln konnte man sitzen. Mit sicherem Abstand zur Küste warf Lenell den Anker aus. Er schwamm mit seiner Thermoskanne zum Ufer. Er wusste, zwischen welchen Felsen er leicht an Land kam. Sein Exoskelett verrutschte nicht. Mit nassem Shirt kraxelte Lenell den Hang hinauf und hockte sich auf seinen Stammplatz. Er konnte Egio sehen und die Insel, auf der Spechtmensch lebte. Das Meer war noch morgendlich blau und die Thermoskanne zur Hälfte gefüllt. Leben, dachte Lenell, was soll das sein? Aus dem Wasser glitten Fischschwärme glitzernd und Lenell beobachtete sie angestrengt. Er fragte sich, ob es fliegende Fische waren. Vermutlich nicht, aber er konnte es nicht genau erkennen. Er wartete, erfüllt von Traurigkeit, auf ihr Wiedererscheinen. Weder war es diebisch, zu leben, noch war es wichtig. Es passierte eben. Man manifestierte sich, man löste sich auf. Es gab keine Prämissen, nichts Äußeres kümmerte sich um die Herzschläge, denen man während der eigenen Existenz Obhut gewährte. Nur ein paar Atome entschieden sich, für eine Weile aneinander zu haften. Eine fliegende Ameise landete auf Lenells linkem Handgelenk. Er schaute sich um. Auf dem Hang waren heute viele fliegende Ameisen am Arbeiten. Kurz keimte in Lenell ein freundschaftliches Gefühl auf. Wieder trank er grünen Tee. Sein Leben, entschied er, war zuletzt, über Jahre, eine Anhäufung glücklicher Umstände gewesen. Gleichzeitig wusste er: Sein Leben, so wie er es allermeistens empfand, kaprizierte sich auf die Gram. Das Boot schwankte gleichmäßig in den kaum wahrnehmbaren Wellen; sie huschten über die Oberfläche, aber eigentlich, dachte Lenell flüchtig, wirkten sie wie viele kleine Abtreibungen. Er machte es sich in den Wurzelwindungen bequem. Wind kam auf und er döste ein.
Erst mittags erwachte er. Lenell hörte Geraschel. Er lugte unter seinem Arm, den er schützend übers Gesicht gelegt hatte, hervor. Um seinen Lagerplatz hatten sich Hunderte Eidechsen postiert. Ihre Kehlköpfe waren aufgebläht. Sie starrten ihn an.
Der Gipfel des Feigenbergs war umgeben von Wolken, wenn der Himmel auch sonst frei von Verdichtungen blieb. Später würden sich die Wolken vollends auflösen. Dann würden Helen und Lenell oben angekommen sein. Jetzt, es war erst neun Uhr, stiegen sie die Hänge hinauf, im frischen, fast unwahrscheinlichen Nebel, der die Kräuter und Gräser durchwirkte und die Luft in der Nacht angereichert hatte – ihre Kleidung war klamm: Sie hatten den Eindruck, zu schwitzen, aber umgekehrt, als würde der Schweiß von außen auf sie einströmen. Alle paar Schritte zupfte Helen wilde Salbeiblätter am Wegrand und rieb sich die Handflächen ein. Sie kam sich debil vor, konnte aber nicht aufhören. Wenn sie bergauf lief, fühlte sie sich automatisch abgesichert, die Höhenmeter pufferten ihr Verlorenheitsgefühl. Es waren die letzten gemeinsamen Tage mit Lenell. Oder zumindest die letzten Tage in einem Miteinander, in dem sie Übung hatte. Ihr Herz krampfte. Sie wirkte souverän, mal abgesehen von ihrer Salbeipflückerei, aber wenn sie sich in ihre Zukunft imaginierte, geriet sie in Panik, in eine unterdrückte, schwelende Panik, die sie eindämmen konnte, die sie als krampfende Muskelstränge spürte, aber nicht als Knock-out. Auch nicht als Anfall. Sondern als etwas Kommendes, das sie unter Normalnull ziehen würde. So sehr dieses Wissen Horror in Helen verursachte, entschied sie, dass sie diesen Horror würde bewältigen können. Sie redete es sich zumindest ein. Und bislang funktionierte es. In euphorischen Momenten empfand sie ihre Zukunft ohne Lenell als Befreiung, aber die Euphorie hielt nicht an, sondern verflüchtigte sich in ein Spektrum an Gefühlen, das zwielichtiger war. Und sie musste erkennen, dass sich die Eindeutigkeit, nach der sie sich sehnte, nicht einstellen würde. Euphorie war ein Teil dieses Spektrums, aber ein labiler, borderlinehafter Teil, und sie hatte insgesamt den Eindruck, es sei besser, der Euphorie zu misstrauen. Beziehungsweise: Sie wusste, dass sie hinabgezogen werden würde, unter Normalnull, und dass sie mit Euphorie nichts ausrichten könnte. Sie würde hinabtreiben, in sich selbst würde sie vermutlich hinabtreiben, äußerlich würde sie souverän ihr Leben fortführen, Erklärungen finden, vielleicht würde sie es hinkriegen, alles kausal erklären zu können, ihre Selbstlosigkeit, Lenells neues Leben, ihr eigenes neues Leben – sie stoppte sich, denn Lenell war krank und es waren die Umstände, die Zwang ausübten. Nichts war dagegen zu tun, als diesem Zwang zu folgen, es hinzunehmen wie den von außen auf sie eindringenden Schweiß. Lenell wollte sie nicht benutzen, er war einfach suizidal. Und er sollte nicht mehr suizidal sein. Helen weinte kurz vor sich hin, während Lenell voranschritt, mit nassem Shirt, das an seinem Körper klebte. Helen betrachtete ihn. Leicht zeichnete sich das Exoskelett ab. Aber auch Lenell wirkte souverän, auch in ihm war Tumult. Sie waren nur zwei Menschen, die eine Wanderung machten. Die Feigen waren noch nicht reif. Aus dem Geröll, über das sie stapften, erhob sich Staub. Eidechsen und Blindschleichen entkamen ins Gestrüpp. Ziegen standen zwischen Olivenbäumen. Die Feuchtigkeit zerfiel. Nur in schattigen Kurven, in denen die Sonnenstrahlen von hohen, dunkelgrünen Sträuchern abgehalten wurden, hielt sich das Nachtklima weiter. Zunehmend liefen sie durch Salbeistauden und Minzpflanzen. Die Sonne kam näher. Es roch nach Wildnis, nach Trockenheit. So veränderte sich die Anstrengung, so brüteten Helen und Lenell vor sich hin. Seit sie die Entscheidung getroffen hatten, sprachen sie wenig miteinander. Einfach weil es nichts ändern würde. Zumal eine Gegenläufigkeit in ihren Emotionen passierte: Helen ahnte Normalnull und Lenell einen Aufbruch. Hätten sie gesprochen, wäre schlechtes Gewissen entstanden, weil sie voneinander wegdrifteten. Und seit ihrem Kennenlernen waren sie immer nur aufeinander zugedriftet.
Wie viel Traurigkeit soll man einem anderen Menschen zumuten?, fragten sich beide insgeheim. Wenig, antworteten sie sich selbst und sprachen noch immer nicht miteinander. Naturgemäß entstand aufgrund der Tatsache, dass sie nicht miteinander sprachen, eine andere Traurigkeit.
Die Bäume wurden weniger. Vorsichtig kletterten sie von Felsbrocken zu Felsbrocken, sie hielten sich an Stahlseilen fest. Sie waren schon viele Male auf den Feigenberg gestiegen, aber nie zum letzten Mal. Wenn sie innehielten und sich umdrehten, blendete das Meer. Kurz nickten sie sich mit schiefem Grinsen zu und setzten den Aufstieg fort.
Am Nachmittag waren sie zurück beim Parkplatz. Eine karamellfarbene Katze schlief auf der warmen Kühlerhaube des Pick-ups. Helen weckte sie sanft. Die Katze miaute und drehte sich auf den Rücken. Helen hatte Angst vor ihren Krallen und streichelte sie nur am Kopf.
»Einmal werde ich eine Katze haben«, sagte Helen.
Lenell schwieg. Wieder war die Zukunft aufgetaucht. Die Zukunft, für die sie keine gemeinsame Sprache entwickeln konnten. Helen gab der Katze einen kleinen Schubser, was dazu führte, dass sie von der Kühlerhaube sprang und sich unter einem Wohnwagen verschanzte. Lenell öffnete die Fahrertür und stieg ein. Helen drehte sich im Kreis, versuchte, die Gerüche und Eindrücke aufzunehmen, um sie in sich zu speichern, im Wissen, dass das nicht möglich war, dass Erinnerung anders funktionierte, dass Flüchtigkeit nicht beizukommen ist, und sie setzte sich neben Lenell.
»Meinst du, es wird mal einen Duftbaum geben, der nach Koräen riecht?«, fragte Lenell, während er den Rückspiegel nachjustierte.
»Meinst du, es wird überhaupt mal Koräen geben?«, fragte Helen.
»Es gibt Koräen«, sagte Lenell.
Auf Sex verzichteten sie weitestgehend, ohne es gesondert zu thematisieren. Sie drifteten auseinander, was sie nicht abhielt, sich komplizenhaft zu fühlen, aber ihre Verbundenheit konzentrierte sich auf die partikulare Tatsache, dass Helen ihre telekinetischen Kräfte bei Lenell anwenden würde. Jeder Gedanke an die Vergangenheit, an all das gemeinsam Erlebte erzeugte Unbehagen. Also praktizierten sie ein Leben, das fast außerhalb der Zeit passierte, das sich nichtsdestotrotz nur als Aufschub entfaltete, inmitten ihres Lebens innerhalb der Zeit. Sie drifteten auseinander, aber wo war die Energie, die entsteht, wenn man sich außerhalb der Zeit bewegt? Das fragte sich Lenell. Aber er dachte auch, dass die Trauer außerhalb der Zeit stattfand und dass die Trauer keine Energie gab, sie ermöglichte es nur, nicht zu vaporisieren. Und vielleicht war es das, was sie gerade brauchten: nicht vaporisieren, alle beide. Aber diesen Gedanken konnte Lenell nicht weiterdenken, denn er vermied es, sich mit Helen zu beschäftigen, weil er sich sonst als untragbar für Mitmenschen vorkam. Und was er von Helen verlangte, empfand er eigentlich als unverlangbar. Wenngleich Helen hätte ablehnen können, dachte Lenell. Allerdings dachte er auch: Welcher Mensch hätte seine Bitte ernsthaft ablehnen können? Wer würde Liebe über Leben stellen? Wie sollte man das erklären? Lenell überlegte, Helen einen Brief zu schreiben, einen Brief, der gelten würde über alle Geschehnisse hinaus. Nur die Depression, das Tavor ließen ihn nichts fühlen jenseits der Gewohnheit. Und dass er sich an Helen gewöhnt hatte, war zwar schön, reichte aber nicht aus für ein Bekenntnis, das Helen später heranziehen könnte, sollten ihr nachträglich Zweifel an der Lauterkeit ihrer Beziehung kommen. Er musste darauf hoffen, dass Helen für sich Umgänge finden würde: Erlösungen aus dem Trouble, den er anrichtete, den sie anrichtete.
Wann anders außerhalb der Zeit besuchten sie ein Fest in der Lagune. Der Sonnenuntergang war lila und orange, oder zumindest sein Widerschein, der auf den Palmen und Flamingos und Wasseroberflächen und Hauswänden und Bergen zu sehen war. Zwischen den Kiosken und Bars waren Lichterketten gespannt, brennende Fackeln steckten im Sand, Foodtrucks parkten vor Farnen. Auf der Bühne befanden sich ein Gitarrist und eine Flamenco-Sängerin. Was an Lenell sonst womöglich souverän und überlegt gewirkt hätte, wirkte heute grimmig. Seine Gesichtszüge waren fast bedrohlich; gleichzeitig schien er aufgebracht und abgepanzert. Er trottete davon, um Birnensodas zu organisieren. Er kam zurück und kriegte es nicht hin, zu lächeln. Helen widmete sich wieder dem Konzert, während eine schimmernde Fläche um sie herum aufstieg. Wie kann eine solche Diskrepanz zwischen Menschen einschlagen?, fragte sie sich, während ihr Astralkörper und der Astralkörper von Lenell in verschiedene Richtungen davondrifteten. Sie trank Birnensoda. Es schmeckte nach ihrem Leben innerhalb der Zeit. Was sie am meisten verzweifeln ließ, war, dass die Flamenco-Sängerin so schaurig und so schön immer wieder davon sang, wie die Liebe alles ermöglichen würde, wie die Liebe alles überkommen würde, dabei betrachtete sich Helen als Beweis dafür, dass dem nicht so war. Aber sie wollte der Flamenco-Sängerin glauben, sie wollte den Liedtexten glauben. Sie stand im Publikum, planetenfern von Lenell, die Nacht wurde nachtiger, die Lichter lichteriger, die Musik zerschmetterte ihr Herz. Nach drei Songs sagte Lenell, er fühle sich nicht gut, er werde nach Hause gehen. Ob Helen mitkomme, wollte er wissen. Nein, sagte Helen, sie bleibe noch ein bisschen. Lenell hielt ihr die Pfandmarken (kleine weiße Plastikkreuze) hin, stellte seinen leeren Becher auf den Boden und verschwand. Helen hob den Becher auf, steckte die Pfandmarken in ihre Hosentasche und suchte sich einen Liegestuhl. Da saß sie, weinend, an ihrem Birnensoda nippend, sie verweilte in der Musik, sie realisierte kaum mehr ihre Umgebung. Wenn sich Menschen an ihr vorbeischoben oder in ihrer Nähe lachten, erschrak sie. Wenn sie ihren Blick von der Bühne abwendete, verstand sie nichts. Da wurde ihr klar, dass sie es nicht länger vor sich herschieben durfte, die Therapeutïnnen zu kontaktieren, die ihr empfohlen worden waren. Weder punktuelle Euphorie noch vorgegebene Souveränität würden sie in die Lage versetzen, zu werden, was sie sein wollte, aber nicht war: nämlich angstfreier. Sie gönnte Lenell die Befreiung von der Depression auf rationaler Basis, aber trotzdem hatte sie Angst vor ihrer eigenen Zukunft. Wie ihr Kopf so unaufhörlich verklebte, dachte sie, dass in Krisen die ganze Welt um einen herum zusammenfällt ins Private. Jede womöglich hehre Idee, über sich selbst hinauszuwirken, Einfluss zu erkämpfen, mehr zu sein als Reproduktion der bestehenden Unzulänglichkeiten, wurde lächerlich. In Krisen wird ein Mensch zu dem Versagen, das er zeitlebens abwehren wollte.
Bei besseren Gelegenheiten verbrachten Helen und Lenell die Abende am Hafen. Es war nämlich so, dass Lenell sich weiterhin um die Verwerfungszone sorgte. Da unabsehbar war, was Helens Kräfte bewirken würden, entwickelte Lenell Notfallpläne, sollte er sich nicht mehr um seine seismologischen Verpflichtungen kümmern können. Aber die Notfallpläne waren ihm nicht genug. Er inspizierte in kürzester Zeit noch einmal fast alle Seismografen im Umkreis, updatete Programme, ordnete sein Archiv: Er war verwundert über seinen Arbeitseifer. Und er hatte Helen gebeten, ihm zu assistieren, indem sie ihre eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten nutzte, um die Verwerfungszone auf bevorstehende Ausbrüche hin zu untersuchen. Außerdem wollte er, dass Helen die Verwerfung besänftigte, sofern ihr das möglich war. Und so hatten sie eine gemeinsame Arbeit, die ihr Zusammenleben strukturierte, zumindest in der Dämmerung. Lenell ging, gestärkt durch sein Exoskelett, auf und ab. Er beschäftigte sich auf seinem Tablet mit Livedaten. Und Helen saß an der Ufermauer. Sie hielt die Hände gestreckt, wie ein Orakel, und erkundete in ihrem Kopf das Relief, die Reibung. Sie wusste nicht, ob ihre Kräfte ausreichten, um tektonische Verschiebungen aufzuhalten (eher nicht, vermutete sie), aber sie versuchte, die Spannungen, die sie erspüren konnte, aufzulösen, so gut es ging. Im Permafrost wusste sie um ihre Wirkung. Hier war es anders. Aber Lenell behauptete, die seismografische Tätigkeit sei zurückgegangen. Das beruhigte ihn. Wenn Helen ihre Kräfte aufgebraucht hatte, schauten sie noch eine Weile nach Sternschnuppen. Sie lagen auf dem warmen Asphalt und berührten sich maximal an den Händen. Dann machten sie sich auf den Heimweg. Helen war so erschöpft, dass sie schnell schlief, während Lenell weiter an seinen Forschungen rumtüftelte.
Manchmal, wenn Lenell tagsüber mit seinem Motorboot umherfuhr, schloss sich Helen an. Sie trug eine Sonnenbrille und machte es sich auf der Rückbank bequem. Sie nahm sich Bücher mit und las. Wenn ihr schlecht wurde, was bei stärkerem Wellengang passierte, ließ sie das Lesen sein und schaute umher. Sie mochte das Gefühl, als blinde Passagierin in Lenells Leben stattzufinden, und sofort fragte sie sich, ob sie jemals wieder eine blinde Passagierin sein würde. Sie hatte auch vor Lenell Beziehungen geführt, aber es hatte sich keine vergleichbare Selbstverständlichkeit oder Vertrautheit eingestellt, sodass sie vor der Begegnung mit Lenell nie den Eindruck gehabt hatte, an ihren eigenen Beziehungen wirklich teilzuhaben. Sie war verliebt gewesen, sie war verbindlich gewesen, sie war zugewandt gewesen, aber gleichzeitig war sie sich vorgekommen, als würde sie nur performen, zumindest teilweise, weil es sich schickte, oder weil es notwendig war, um nicht allein zu bleiben. Erst in der Begegnung mit Lenell hatte sie sich des Performens entledigt. Das macht einen Menschen auf vierunddreißig Jahre, dachte sie. Daraus schloss sie, dass es unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich war, im Lauf ihres Lebens einem weiteren Menschen zu begegnen, mit dem sie sich so zugehörig fühlen würde, dass sie zu einer blinden Passagierin werden konnte. Aber Helen schwor sich, wie sie von Lenell durch den Golf chauffiert wurde, dass sie zukünftig keine Beziehungen mehr eingehen würde, die auf Performance gründeten. Dann lieber allein bleiben und Affären. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, was mit dem Bungalow passieren sollte. Überhaupt, meinte Helen, hatten sie wenig Absprachen getroffen, wenig vorausschauend gedacht. Zumal Lenell Egio nicht verlassen konnte, außer er würde sich ein neues Forschungsfeld suchen. Helen überlegte, ob es besser wäre, zurück nach Paris oder in eine andere Metropole zu ziehen. Nur wie froh war sie gewesen, den Metropolen endlich entkommen zu sein. Sie dachte: Man kann den Metropolen nur miteinander entkommen. Auf sich gestellt wird man den Metropolen immer zugeführt werden, unausweichlich wird man in die Metropolen ziehen, wenn man allein ist, vor allem, wenn man nirgends hingehört. Warum hatten sie nicht vorausschauend gedacht? Weil Helens Gehirn aussetzte, wenn sie sich vorstellte, den gemeinsam angesammelten Hausrat aufzuteilen, ihr Atelier zu räumen, zu überlegen, wer welche Bücher behalten würde etc. Sie wusste, dass es letztlich nur ein paar Stunden dauern würde. Sie wusste, dass sie sich ein Umzugsunternehmen würde leisten können. Aber es gab für sie kaum eine Möglichkeit, anzuerkennen, dass sie ein neues Leben beginnen würde. Und natürlich fragte sie sich ständig, ob sie übertrieb. Ein neues Leben? Obwohl sie weiterhin malen würde? Obwohl sie ihre Karriere fortführen würde? Obwohl sie gesund war? Sie unterbrach sich, indem sie im Motorenlärm vor sich hin murmelte: Anti-Trauer, Anti-Trauer, Anti-Trauer.
Helen fragte Lenell, ob er mit ihr Tokyo Drifter schauen wolle, um einen Abschluss zu finden, eine Endmarkierung. Sie saßen unter dem Maulbeerbaum und tranken Kaffee. Sofort ploppte in Lenells Kopf die Titelmelodie des Films auf. Er bekam Angst. Er wollte keinen Abschluss, er wollte einen Übergang. Er spürte, dass er die Konsequenzen seines Wunsches, die Depression loszuwerden, nicht vollständig akzeptieren konnte. Er konnte die Konsequenzen für sich selbst akzeptieren, aber er wollte Helen nicht aufgeben. Beziehungsweise: Er wollte Helen aufgeben, aber er war nicht bereit dafür. Er wollte nicht Tokyo Drifter schauen. Oder noch nicht. Er würde den Film allein schauen, später einmal.
»Ich kann nicht«, sagte er mit Ingrimm im Gesicht.
»Okay«, antwortete Helen.
Die Situation war folgende: Lenell lag auf einer lilafarbenen Isomatte im Garten. Er hatte eine schwarze Boxershorts und sein Exoskelett an. Sein Haaransatz zeigte bereits eine gräuliche Schicht unter den blonden Stoppeln. Er schaute hinauf in den Maulbeerbaum. Helen kniete neben seiner Schulter. Sie trug eine rosa Bikinihose und ein weißes Unterhemd. In ihren Ohrläppchen hingen goldene Ringe.
»Na gut«, sagte Lenell und schaute Helen kurz an.
Sie nickte.
Helen hob die Arme und hielt ihre Handflächen auf Lenells Körper gerichtet. Sie begab sich in sein Energiefeld. Sie versuchte herauszufinden, an welcher Stelle die Auflösung gestoppt werden konnte, wo der Zerfall aufhören, wo die Umkehr des Zerfransens einsetzen müsste, damit Lenell wieder zu sich selbst würde. Sie erschrak, als sie in Lenells Bewusstsein eindrang und die Verwerfungen spürte, die Zerstörtheit – sie musste an den Tempel denken, von dem Seijun Suzuki gesprochen hatte, und verstand, dass es notwendig war, Lenell zu befreien. In diesen Sekunden konnte sie ablassen von ihrer Eigensucht, von ihrem Beleidigtsein, von ihrem Kleinmut. Obwohl sie Besitzansprüche verabscheute, hatte sie welche gehabt. Tja. Sie meinte, Lenells Bewusstsein um sich zu haben, sein wundes Bewusstsein, sein fast vollständig zerstörtes Bewusstsein. Sie richtete ihre gesamte Kraft darauf, ihm zu helfen. Ihre Hände vibrierten. Lenell zitterte. Helen verausgabte sich, aber sie machte weiter. Sie wollte nichts weiter, als Lenell zu helfen. Schließlich wurde sie ohnmächtig. Lenell richtete sich auf, er hatte Migräne, wie er nie Migräne gehabt hatte. Er sah Helen auf dem Boden liegen und schüttelte sie leicht, bis sie zu sich kam. Er half ihr hoch. Er stützte sie. Sie gingen ins Schlafzimmer und legten sich aufs Bett. Helen schlief sofort ein. Lenell wusste nicht, was er gegen die Migräne tun sollte. Ratlos dachte er nach. Doch dann nahm er ein bisschen Tavor und schlief ebenfalls.