Am Samstag, den 21. Februar 1914, wird Chin Lem zu Grabe getragen. Es ist ein klarer kalter Wintertag. Von der Mott Street in Manhattans Chinatown macht sich ein Trauerzug auf den Weg nach Brooklyn zum Cypress Hills Cemetery. Die zwölf Kilometer lange Strecke führt zunächst durch die Lower East Side und quert dann die Williamsburg Bridge, die sich über den East River spannt. Von dort geht es weiter nach Bushwick, um schließlich nach fast drei Stunden Fußmarsch am Friedhof anzukommen. Angeführt wird der Trauerzug von einer chinesischen Musikgruppe mit Gongs und traditionellen Streichinstrumenten. Hinter den Musikanten folgt eine Kalesche, gefüllt mit Essenspaketen. Darin ist alles, was dem Verstorbenen bereits zu Lebzeiten mundete: Hühnchen, Wein, Früchte, Chop Suey, Zigarren und Süßigkeiten. Es ist der Proviant für die Seele des Toten auf ihrer Reise ins Paradies. Chin Lem soll auf nichts verzichten müssen. Danach kommt der von Pferden gezogene Leichenwagen. Darauf befindet sich neben dem Sarg ein versiegeltes Gefäß, darin eine Rolle mit feinstem handgeschöpftem Papier, auf dem in chinesischen Schriftzeichen die Lebensgeschichte des Toten

Am nächsten Tag berichtet die New York Tribune in ihrer Sonntagsausgabe ausführlich über die Beerdigung. Der Verstorbene sei mit dem Prunk und der Pracht begraben worden, »die seinem hohen Rang und der vorsichtigen orientalischen Fürsorge geschuldet waren, die man für die Taten eines Mannes, wie Chin einer war, auf seiner langen letzten Reise als nützlich erachtete«. Mit der »vorsichtigen orientalischen Fürsorge« ist der »spirit chaser« gemeint, der Geisterjäger, der sich im ersten Wagen hinter dem Leichnam befand. Den ganzen Weg von der Mott Street bis zum Friedhof hatte dieser in regelmäßigen Abständen kleine Papierschnipsel aus dem Fenster geworfen. Sie sollten den bösen Geist verwirren und ihn ablenken. Nach chinesischem Aberglauben musste der Geist erst alle Schnipsel aufheben und sich durch das kleine, mit einer feinen Nadel in die Mitte des Zettelchens gestochene Loch zwängen, ehe er dem Toten weiter folgen konnte. Der Seele Chin Lems sollte somit ein Vorsprung verschafft werden auf dem langen Weg zu den Toren des Paradieses.

Die Tribune ist nicht die einzige Zeitung, die über den Trauerzug berichtet. Alle Zeitungen New Yorks und New Jerseys schreiben über die Beerdigung. Während der New York Herold sachlich titelt »Chin Lem mit allen Riten beerdigt«, ist die Überschrift der Trenton Times weniger zurückhaltend. Hier heißt es: »Tödlicher Tongman für immer verstummt.«

 

Wenn man auf dem John F. Kennedy International Airport landet und von dort mit einem Taxi oder Uber nach

Vor einigen Jahren, an einem eisigen Januartag, war ich mit einem Team vom Bayerischen Rundfunk für Aufnahmen der Dokumentarfilm-Reihe Lebenslinien vor Ort. Die Idee, auf dem Friedhof zu drehen, war, wenn ich mich richtig erinnere, spontan entstanden, und Regisseurin und Autorin Hilde Bechert hatte keine Zeit mehr, eine Drehgenehmigung einzuholen. Wir drehten daher ohne Erlaubnis, und jedes Mal, wenn eine Person oder ein Fahrzeug vorbeikam, die irgendwie offiziell aussahen, versteckte ich mich im Auto. Ich erinnere mich an verschneite Gräber und vereiste Wege zwischen den zum Teil sehr alten Grabsteinen. Anders als in Deutschland werden Grabstätten auf amerikanischen Friedhöfen nicht nur für die Dauer von zwanzig Jahren gemietet. Wenn man nicht umgebettet wird, hat man ein Recht auf Ruhe bis in alle Ewigkeit oder bis der Grabstein im Erdreich versinkt und der Tote dem Vergessen anheimgegeben wird. Noch heute finden sich hier die Gräber einiger hochrangiger Mitglieder der Tong, die Gräber Bow Kums und ihres Ehemanns Chin Lem sucht man jedoch vergebens.

Bow Kum, die junge Frau, deren Leben im August 1909 ein gewaltsames Ende fand, wurde 1888 in der Provinz Kanton in Südchina geboren. Sie war die Tochter eines armen Bauern namens Wong Hi. Der Name ihrer

Sing Kum, ein 17-jähriges Mädchen, das ebenfalls von ihren Eltern verkauft worden war und über Umwege in Amerika landete, schrieb: »Mein Vater war Weber, und meine Mutter hatte kleine Füße. Ich hatte eine Schwester und einen Bruder, die jünger waren als ich. Mein Vater war ein fleißiger Mann, aber wir waren sehr arm. Meine Füße wurden nie gebunden; ich bin dankbar, dass das nicht der Fall war. Mein Vater verkaufte mich, als ich etwa sieben Jahre alt war; meine Mutter weinte. Ich hatte Angst und rannte unter das Bett, um mich zu verstecken. Einmal kam mein Vater zu mir und brachte mir etwas Obst; aber meine Herrin sagte mir, ich solle sagen, dass er nicht mein Vater sei. Ich tat es, aber danach tat es mir sehr leid. Er schien sehr traurig zu sein, und als er wegging, gab er mir ein wenig Bargeld und wünschte mir Wohlstand. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.« Auch wenn sich die beiden Frauen nie begegnet sind, ist ihr Schicksal vergleichbar. Anders als Bow Kum, von der nur wenige Aussagen überliefert sind, hat Sing Kum mehrere Briefe verfasst, in denen sie über ihr Leben geschrieben hat. Diese Briefe sind noch heute in der Library of Congress einsehbar. Sing wurde insgesamt vier Mal verkauft, und obwohl Sklavenhandel in den USA verboten war, gelangte sie als Sklavin ins Land. In einem Punkt unterscheiden sich die Schicksale der

Die kleine Bow Kum muss sehr hübsch gewesen sein, denn der Mann, der sie ihrem Vater abkaufte, zahlte den Gegenwert von 300 Dollar, heute um die 10000 Dollar. Eine ungewöhnlich hohe Summe. Bow Kums neuer Besitzer verwendete die nächsten zehn Jahre darauf, das Mädchen nach dem gängigen Schönheitsideal zu formen, um so den Wert seiner Investition zu steigern. Eine chinesische Frau sollte zart und zerbrechlich sein. Bow Kum entsprach diesem Ideal. Sie war gerade einmal 120 Zentimeter groß und wog 30 Kilogramm. Ihr wurden die Füße gebunden, damit sie möglichst klein blieben. Lotusfüße sollten nicht länger als 14 Zentimeter sein. Goldene Lotusfüße, wie Bow Kum sie hatte, maßen gerade einmal 3 Cun, was knapp 10 Zentimetern entspricht. Nur wenige Frauen erreichten dieses Ideal. Dass sie sich damit nur unter Schmerzen fortbewegen konnten, wurde in Kauf genommen. Nichts galt als erotischer als kleine Füße und ein trippelnder Gang. Bow Kums Haut hatte die blasse Farbe von altem Elfenbein. Sie hatte zartrosige Wangen und einen kleinen runden Mund mit rosafarbenen Lippen. Ihre Augen waren wie polierter Onyx und ihre »Haare so schwarz wie Krähenflügel«, so zumindest wird sie später von dem Journalisten Alfred Henry Lewis beschrieben. Er beruft sich dabei auf die Aussage von Lou Fook, einem der Präsidenten der On Leong Tong, der Bow Kum gekannt hat. Das Mädchen bekam Unterricht in Musik, Kalligraphie und Poesie. Alles Dinge, die für ihr späteres Leben als Konkubine reicher chinesischer Männer wichtig waren,

Fook erzählt Lewis auch von einem Vorfall, der sich zwischen Bow Kum und ihrem Besitzer abgespielt hatte. Unter dem Einfluss von Opium schlug er sie mit einem Bambusstab nieder. Der Mann gab an, er habe ihre »sternengleiche Schönheit« und den Gedanken, sie nicht besitzen zu können, nicht ertragen, zu groß war die Versuchung und das Verlangen nach ihr. »Das machte ihm Angst; denn er sah, dass er sie wegen ihrer Schönheit töten würde, wenn er sie behalten würde. Da er sich selbst kannte und ihre Schönheit fürchtete, schickte er die kleine Bow Kum nach San Francisco und sah sie nie wieder.«

Die junge Frau war eine luxuriöse Ware, und sie behielt ihren Wert nur, wenn sie unversehrt war. Für 3000 Dollar, was heute knapp 105000 Dollar entspricht, wurde Bow Kum nach Kalifornien verkauft. Zum Vergleich: Der Monatslohn eines Wäschereiarbeiters lag bei maximal 56 Dollar. Was in Bow Kum vorging, ob sie Angst hatte oder hoffte, in der Fremde ein glücklicheres Leben führen zu können, wissen wir nicht. Bow Kum bleibt in vielen Dingen ein Geheimnis.

Für Chinesen war es fast unmöglich, in die USA einzureisen, nachdem am 6. Mai 1882 der Chinese Exclusion Act in Kraft getreten war, die erste gesetzliche Verordnung zur Zurückweisung von Immigranten in den USA. Um die Arbeitsplätze der eigenen Minenarbeiter zu schützen, wurde Arbeitern aus China die Einreise verboten. Chinesen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Land befanden, aber keine US-Staatsbürger

In San Franciscos Chinatown lebten damals 21000 Chinesen. Auf zwanzig Männer kam in der Regel eine Frau. Im Rest des Landes war es nicht anders. Chinatowns waren Gesellschaften von Junggesellen. In den Vierteln waren Glücksspiel, Drogen und Prostitution zu Hause. Die meisten Prostituierten in Chinatown waren weiß. Kaum eine der wenigen chinesischen Prostituierten, die es ins Land geschafft hatten, überlebte hier mehr

Low Hee Tong, der die 15-jährige Bow Kum gekauft und in die USA geholt hatte, war einer der führenden Mitglieder der Four Brothers Tong. Er brachte das Mädchen in seinem Haus in der Ross Alley unter. Bow Kum war keine normale Prostituierte, ihr Kundenkreis bestand aus einflussreichen und wohlhabenden Chinesen, die ihre Erziehung und Bildung zu schätzen wussten. Sie war eine Kurtisane, ein Luxuscallgirl, das sich nicht jeder leisten konnte. Bow Kum wurde von ihrem Besitzer und ihrer ausgewählten Kundschaft mit Geschenken wie Schmuck und seidenen Kleidern bedacht. Über ihre Zeit in der Ross Alley ist wenig bekannt, nur dass sie fast vier Jahre dort blieb, bis zu dem Tag, an dem Low Hee Tong mit der Polizei in Schwierigkeiten geriet. Er hatte es womöglich versäumt, die zuständigen Polizisten mit

Das Leben in der Mission war streng. Die Frauen wurden als Saisonarbeiterinnen in die Landwirtschaft vermittelt, und es wurde von ihnen erwartet, dass sie sich zum christlichen Glauben bekehrten. Sechs Monate blieb Bow Kum in der Mission. Das strenge puritanische Leben war nichts für sie, ebenso wenig konnte sie sich mit dem christlichen Glauben anfreunden. Alles war ihr fremd. Bow Kum war ein Leben in Luxus gewohnt. Sie wollte nicht auf trockenen Feldern in der Sommerhitze schuften. Sie war nicht dankbar, gerettet worden zu sein. Bereits in der Ross Alley hatte sie einen Fuhrunternehmer namens Chin Lem aus Stockton kennengelernt. Es war derselbe Chin Lem, der wenige Jahre später mit Prunk und Pomp in New York zu Grabe getragen wurde. Und er war derjenige, der Bow Kum das Tor raus aus der Mission öffnen sollte. Sie bat Cameron, Chin Lem einen Brief zu schreiben und ihn zu fragen, ob er sie nicht in der Mission besuchen könnte. Chin Lem stimmte zu, und die beiden trafen sich bewacht

Chin Lem war daran nicht interessiert. Warum sollte er für etwas bezahlen, das er auch so bekommen konnte? Er verkaufte sein Geschäft in Stockton, heiratete Bow Kum in einer kleinen privaten Zeremonie in der Mission und machte sich auf den Weg Richtung Ostküste. Um Low Hee Tong abzulenken, ließ er sich für kurze Zeit in Chicago nieder, danach reiste er weiter nach New York. In der Mission hatte er genügend Geld zurückgelassen, damit seine Frau ihm mit dem Zug nachfolgen konnte. Einen Monat nach ihrer Eheschließung trafen beide schließlich in New York ein und ließen sich in der von den On Leong Tong kontrollierten Mott Street in Chinatown nieder.

Das Leben hätte nun seinen gewohnten Gang gehen

Obwohl jede Person in Chinatown von der Kriegserklärung wusste und alles schwarz auf weiß in den Wandzeitungen zu lesen war, blieb die New Yorker Polizei ahnungslos. Sie hatte auch keinen Schimmer davon, dass die Tong eilig ihre Auftragskiller, die Hatchet-Men, in die Stadt holten. Chinesische Auftragsmörder kamen niemals aus der eigenen Stadt. Sie wurden, wie bereits im ersten Tong War, aus Chicago, Boston, Pittsburgh oder

Der 14. August 1909 soll ein gewöhnlicher Tag gewesen sein. Bow Kum und er hatten wie jeden Tag Schwalbennestersuppe gegessen, gefolgt von Chop Suey und Haifischflossen. Danach ist er über die Straße zu seinen Freunden Karten spielen gegangen. Bow Kum blieb wie meist allein in ihrem Zimmer. Sie sei ein wenig besorgt gewesen, aber er habe sie beruhigen können, wird Chin Lem später sagen, waren sie doch im Herzen des von On Leong Tong kontrollierten Gebietes. Das Hauptquartier war nicht einmal einen Steinwurf entfernt, und die ersten Hatchet-Men zu ihrem Schutz waren bereits im Viertel eingetroffen.

Wie die New York Times später berichtete, ließ sich nicht mehr genau feststellen, wann Bow Kum ermordet worden war. Die Polizei ging von kurz nach Mitternacht aus. Der Samstagabend in Chinatown hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht. Viele New Yorker waren zum Essen und Feiern gekommen. Die Restaurants, Spielhöhlen und Opium-Dens waren voll. Aus den Chop-Suey-

Woran Chin Lem 1914 starb, geht aus den Zeitungsartikeln nicht hervor. Andeutungen legen nahe, dass es sich um keinen natürlichen Tod gehandelt haben könnte. Auch der Verbleib der letzten Ruhestätten von Chin Lem und Bow Kum ist ungeklärt. In den Unterlagen des Cypress Hills Cemetery sucht man ihre Namen heute vergeblich. Es ist möglich, dass ihre sterblichen Überreste exhumiert und nach China überführt wurden, eine Praxis, die bei chinesischen Einwanderern und ihren Angehörigen sehr beliebt war. Viele von ihnen wollten in der heimatlichen Erde zur letzten Ruhe gebettet werden. Bow Kum und Chin Lems Geschichte verliert sich somit im Dunkeln. Es wäre Bow Kum zu wünschen, dass sie das Rennen zum Tor des Paradieses gewonnen und einen schönen, friedvollen Platz gefunden hat. Mit oder ohne Unterstützung eines Geisterjägers.