Hart Island liegt am westlichen Ende des Long Island Sound. 1654 kaufte der in England geborene Arzt Thomas Pell die 101 Hektar große Insel den dort ansässigen indigenen Siwanoy ab. Während des Bürgerkriegs 1861–1865 wurde die Insel von der Regierung in Besitz genommen. Sie diente als Ausbildungslager für die Soldaten der Nordstaaten. 1868 kaufte die Stadt New York Hart Island und errichtete dort während der Gelbfieberpandemie eine Quarantänestation. Später wurde auf der Insel eine Erziehungsanstalt für männliche Jugendliche gegründet, und während des Zweiten Weltkriegs waren deutsche Kriegsgefangene auf Hart Island untergebracht. Die meisten Gebäude stehen heute leer und sind dem Verfall preisgegeben.
Im Frühjahr 2020 rückte die Insel in den Blick der weltweiten Öffentlichkeit. Die Coronapandemie hatte New York fest im Griff. Alle Verstorbenen, bei denen sich kein Angehöriger innerhalb einer Frist von zwei Wochen meldete, wurden in Massengräbern auf der Insel bestattet. Täglich wurden 2600 Särge mit der Fähre von New York nach Hart Island verschifft. In die Gruben von der Größe eines Tennisfeldes passten bis zu 150 Särge. Die schlichten Holzsärge wurden fein säuberlich nummeriert und in Dreierreihen aufgestapelt. Sollte sich später noch ein Angehöriger melden, erleichterte dies die Exhumierung. Die Kosten für die Bestattung und Exhumierung werden von der Stadt New York übernommen.
Die Bilder der Kiefersärge und der Bulldozer erschütterten die Menschen vor den Fernsehern, dabei werden bereits seit 150 Jahren die Armen und unbekannten Toten der Stadt auf Hart Island begraben. Das Potter’s Field, wie Armenfriedhöfe genannt werden, ist das größte des Landes. Über eine Million Menschen fanden im schlammigen Boden der Insel ihre letzte Ruhe. Unter ihnen Anna Aumüller, eine junge Frau aus der österreich-ungarischen Doppelmonarchie.
Anna Aumüller wurde 1892 in Ödenburg, dem heutigen Sopron, geboren. Über ihre Kindheit und ihr späteres Leben ist nur wenig bekannt. Ihrer Freundin Anna Huttner gegenüber erwähnte sie, als uneheliches Kind zur Welt gekommen zu sein. Ein Makel, unter dem sie ihr ganzen Leben litt. Wann genau Anna Aumüller nach Amerika immigrierte, ist unbekannt, ebenso ob sie allein oder in Begleitung kam. Ihrer Freundin erzählte sie, sie sei bereits als Kind ausgewandert und habe als Teenager ihren Lebensunterhalt mit Kochen und Saubermachen verdient. Das ist nicht ungewöhnlich, viele junge Frauen arbeiteten als Haushaltshilfen, und nicht wenige unter ihnen taten diese bereits ab ihrem zwölften Lebensjahr.
Im Dezember 1910, Anna Aumüller ist seit mindestens fünf Jahren in New York, tritt sie eine Stelle als Hausmädchen in der Pfarrei St Boniface in Harlem an. Die kleine katholische Kirche wurde 1858 gegründet und wird überwiegend von deutschen Einwanderern besucht, die im Viertel Turtle Bay leben. Neben der Kirche gibt es eine kleine Schule, in der Englisch und Deutsch unterrichtet wird. Im Pfarrhaus leben neben Aumüller der Pfarrer Father Brown, dessen Schwester Magdalena und Anna Hirt, eine weitere Haushaltshilfe. Anna Aumüller fühlt sich nicht besonders wohl in ihrer neuen Stellung. Die Schwester des Pfarrers ist eine strenggläubige Frau. Aumüller schreibt an Huttner: »Manchmal fühle ich mich sehr einsam, weil ich es satthabe, für andere zu arbeiten, und weil man nie der eigene Chef ist. Mir kommt es so vor, als wäre ich im Gefängnis. Das andere Mädchen hier kommt aus New York. Sie sagt, wir sehen aus wie Häftlinge, weil vor den Küchenfenstern Eisenstangen sind, und wir nennen die Küche darum Sing Sing.«
Um diese Zeit tritt auch ein junger Priester seine Stelle in der Gemeinde an: Hans Schmidt. Wie Anna ist auch er aus Deutschland in die USA ausgewandert. Schmidt wird als gut aussehend und charmant beschrieben. Zu diesem Zeitpunkt ist er 29 und sie 19 Jahre alt. Als er kurze Zeit später erkrankt, ist es Anna, die ihn pflegt und versorgt. Die beiden kommen sich näher und beginnen ein Verhältnis. Hirt, die wie Aumüller in der Pfarrei arbeitet, sagt später vor Gericht, Anna habe von Schmidt nie als ihrem Verlobten gesprochen. Wenn sie dennoch, was selten vorkam, über ihre Treffen sprach, so sagte sie: »Gestern Nacht war ich mit dem Baron aus.«
Im Dezember 1911 ist Anna zum ersten Mal schwanger. Die illegale Abtreibung wird von einem Arzt in der Bronx durchgeführt. Im Mai 1912 wechselt Schmidt von St Boniface nach St Joseph, es war zu Meinungsverschiedenheiten mit Father Brown gekommen. Dieser war mit der saloppen Art, wie Schmidt die Messen hielt, nicht einverstanden. Zudem hatte er den Verdacht, dass Schmidt sich nicht an das Zölibat hielt.
Von nun an ist Schmidt in der 125th Street in Harlem als Priester tätig, am Verhältnis zwischen ihm und Anna ändert dies jedoch nichts. Bald ist Anna erneut schwanger, dieses Mal verlässt sie das Land, um die Abtreibung in Wien vornehmen zu lassen. Schmidt bezahlt die Überfahrt und den Eingriff. Anna bleibt knapp sechs Monate in Europa, am 27. Oktober 1912 geht sie in Hamburg an Bord der Pretoria, und nach zwei Wochen kommt sie am 10. November 1912 in New York an. Auf dieser Fahrt lernt sie Anna Huttner aus Cincinnati, Ohio, kennen. Wie Aumülller war auch Huttner als junges Mädchen in die Staaten immigriert. In der um wenige Jahre älteren Huttner findet Aumüller eine Freundin und Vertraute. Zwischen den beiden gibt es keine Geheimnisse. Die Frauen bleiben in Kontakt. »Ich habe fast geweint, als ich las, dass ich Ihnen vertrauen konnte, so glücklich war ich darüber. Es muss von Gott geplant gewesen sein, dass wir uns in Hamburg treffen sollten.« Die Freundin weiß von dem schwierigen Verhältnis zwischen Anna und Schmidt. Anna bittet sie, keine Namen zu nennen, sie hat Angst, die Schwester des Pfarrers würde die Postkarten und Briefe lesen. Anna erzählt ihrer Freundin, dass sie hofft, mit Schmidt ein normales Leben führen zu können. Angeblich habe er ihr gegenüber schon mehrfach angedeutet, dass er gar nicht wisse, wie er überhaupt durch das Priesterseminar gekommen sei. »Eines Tages werde ich meine Soutane an einen hohen Haken hängen«, habe er ihr gesagt.
In den Briefen an ihre Freundin schreibt Anna über ihre Wünsche und Sehnsüchte: »Liebes Fräulein Anna (Huttner), ich sehne mich nach Reisen. Ich möchte als Stewardess auf einem Schiff die ganze Welt bereisen. Ich hoffe, dass wir die Reise in die alte Heimat noch einmal gemeinsam machen können.« Sie berichtet von Ausflügen nach Coney Island und zum Palisades Amusement Park, die sie gemeinsam mit ihrem Geliebten unternimmt. Schmidt trägt auch hier immer einen Kollar und ist für jeden als Geistlicher erkennbar. Ein Umstand, der Anna sehr unangenehm ist. Ihr wäre es lieber, wenn sie sich nicht von den anderen Paaren unterschieden. Wenig später schreibt sie in einem ihrer Briefe an Huttner von einer erneuten Schwangerschaft. Sie hofft, das Kind dieses Mal behalten zu können. Heimlich beginnt sie damit, Kleidung für den Säugling zu nähen. Sie weiß, dass die Schwangerschaft nicht ewig verborgen bleiben kann. In ihrem letzten Brief an Huttner schreibt Anna, dass sie aus St Boniface fortgehen wird: »Ich weiß meine neue Anschrift noch nicht. Ich verlasse das Refektorium am 1. September.« Magdalena findet schließlich alles heraus, und es kommt zum Eklat. Anna muss sofort gehen. Hirt, die mit ihr gemeinsam in der Küche und im Haushalt gearbeitet hat, hilft beim Packen. Nach dem Streit verlässt Anna das Haus einen Tag früher als geplant, sie geht bereits am 31. August.
Am 5. September 1913 gegen 10 Uhr morgens entdeckt die 18-jährige Mary Bann einen verdächtigen Gegenstand nahe Cliffside Park, New Jersey, im Hudson River. Gemeinsam mit ihrem elfjährigen Bruder Albert steigt sie die Böschung hinunter zum Fluss. Der Gegenstand, der in Ufernähe treibt, sieht nach einem Kissenbezug aus. Neugierig geworden, ziehen sie ihn gemeinsam aus dem Wasser. Als sie ihn öffnen, entdecken sie einen weiblichen Torso. Wenige Tage später wird etwas flussabwärts bei Weehawken, ebenfalls auf der New-Jersey-Seite des Hudson, ein weiteres Paket aus dem Wasser gefischt. Bei den gefundenen Leichenteilen finden sich keinerlei persönliche Gegenstände. Nichts deutet auf die Identität der Toten hin. Der Kopf der Frau bleibt verschwunden.
Der Gerichtsmediziner vermutet, die Unbekannte lag noch nicht lange im Wasser. In seinem Bericht hält er fest, sie sei frühestens am 2. September ums Leben gekommen. Das Alter der Toten schätzt er auf ungefähr 25 Jahre. Zur Todesursache kann er keine Angaben machen, da nicht alle Teile der Leiche gefunden wurden.
Die Ermittler haben nur einen einzigen Anhaltspunkt: Im Kissenbezug findet sich ein Label mit dem Namen des Herstellers – Robinson-Boders, Newark, New Jersey. Mit diesem mageren Hinweis beginnen die polizeilichen Untersuchungen.
Robinson-Boders hat die Bezüge für Sachs Furniture in Manhattan gefertigt. Der Inhaber Georg Sachs gibt an, die Bezüge zweimal verkauft zu haben. Die erste Kundin scheidet nach kurzen Ermittlungen aus, zum zweiten Käufer kann Sachs zunächst keine Angaben machen. Daraufhin werden von den Ermittlern alle Rechnungen der letzten sechs Monate durchgesehen. Eine Rechnung vom 26. August 1913 fällt auf. Laut ihr wurde an diesem Tag ein Boxspringbett mit Matratze und Kissen für einundzwanzig Dollar und achtundsechzig Cent verkauft. Die gekauften Gegenstände sind bis auf die Kissen aus zweiter Hand. Es stellt sich heraus: Sachs hat einen Fehler begangen und anstatt der billigeren Kissenbezüge auf der Rechnung die teureren zu 95 Cent geliefert. Der Kunde hatte die Ware in bar bezahlt. Dem Ladeninhaber fällt nun auch wieder ein, dass es sich bei dem Käufer um einen Mann mit starkem deutschen Akzent gehandelt habe. Der Unbekannte habe sich als A. Van Dyke vorgestellt. Seine Frau und er seien neu in der Stadt, habe er gesagt, und ob es möglich wäre, alles noch am selben Tag zu bekommen. Geliefert wurden die Möbel und auch die Bezüge in eine Wohnung im zweiten Stock der 68 Bradhurst Avenue, nur einen Katzensprung vom Geschäft entfernt.
In der Bradhurst Avenue stellt sich heraus, dass die Wohnung tatsächlich erst vor Kurzem gemietet worden war. Der Name des Mieters ist jedoch nicht Van Dyke, sondern Schmidt. Laut dem Hausmeister wollte der Mann die Wohnung noch am selben Tag beziehen. Die Frau habe er nicht zu Gesicht bekommen. Seit dem Einzug vor wenigen Tagen waren weder der Mann noch die Frau gesehen worden. Die Ermittler lassen daraufhin die Wohnung öffnen. Auf den ersten Blick wirkt alles aufgeräumt und sauber. Die Rechnung auf dem Büfett in der Küche ist auf dem Namen Van Dyke ausgestellt und bestätigt den Kauf sowie die Lieferung der Möbel. Im Schlafzimmer sind verwischte Blutspuren. In der Wohnung finden die Ermittler Briefe mehrerer Frauen, die meisten von einer Anna Aumüller. Alle an H. Schmidt adressiert. Als Absender ist die Anschrift der Pfarrei St Boniface angegeben.
In der Pfarrei stellt sich heraus, dass Anna Aumüller ihre Stelle vor wenigen Tagen wegen ihres nicht mit den moralischen Grundsätzen der Gemeinde übereinstimmenden Lebenswandels verlassen musste. Hirt bestätigt, dass die Kleidung, die bei der Toten gefunden wurde, mit der übereinstimmt, die Anna beim Verlassen der Pfarrei getragen hat. Der Ermittler will wissen, ob in der Pfarrei ein Mann namens H. Schmidt bekannt sei. Father Brown gibt an, dieser habe ebenfalls wegen Unstimmigkeiten die Pfarrei verlassen und sei nun als Priester in St Joseph tätig.
In St Joseph bekennt sich Schmidt sofort schuldig. Anna sei bei einer illegalen Abtreibung zu Tode gekommen, sagt er den Ermittlern, und in seiner Verzweiflung habe er sich nicht zu helfen gewusst, ihren Körper zerstückelt und im Hudson versenkt. Außerdem gibt er an, mit Anna verheiratet gewesen zu sein. Der Standesbeamte wird später zu Protokoll geben, dass Schmidt ihm gegenüber gesagt habe, er sei Arzt, auf seinen Kollar angesprochen, habe Schmidt unwirsch reagiert.
Schmidt sagt außerdem aus, er habe, nachdem er Anna in den Fluss geworfen hat, wie gewöhnlich die Messe in St Joseph gelesen. Nach seinem Geständnis lässt er sich widerstandslos festnehmen.
Die Nachricht vom Priester, der seine Geliebte zerstückelt in den Hudson geworfen hat, macht im ganzen Land Schlagzeilen. In Richmond, Virginia, schreibt die Times-Dispatch, Schmidt habe bei seiner Festnahme gesagt, dass er Anna getötet habe, weil er sie so sehr liebe. »Sie war so schön, so gut … Ich hatte mich entschieden, wir beide konnten nicht zusammenleben. Ich bin Priester und muss in meiner Kirche bleiben. Ich konnte sie nicht fortgehen lassen.«
Hans Schmidt wurde am 15. Juli 1881 in Aschaffenburg geboren. Er war das sechste von zehn Kindern und der Liebling seiner tiefreligiösen Mutter. Als sie beim sechsjährigen Hans ein Mal auf der Brust entdeckte, glaubte sie darin ein Zeichen Gottes zu sehen. Dem Kind erklärte sie, dass das Mal genau an der Stelle sei, an der die Brust des gekreuzigten Jesus mit der Lanze durchstoßen worden war. Mit der Mutter besuchte Hans täglich den Gottesdienst, und Abend für Abend beteten sie bis spät in die Nacht den Rosenkranz. Der Haushalt und die Geschwister waren meist sich selbst überlassen. Die Mutter war damit beschäftigt, dem nun Achtjährigen mehrere Messgewänder zu nähen, damit dieser vor einem eigens für ihn errichteten Hausaltar die Messe in Latein lesen konnte. Schmidts Vater arbeitete bei der Eisenbahn und war ständig unterwegs. Er konnte mit der Religiosität seiner Frau wenig anfangen. Die Stimmung zu Hause war oft angespannt, frustriert schlug er Frau und Kinder. Über seinen Sohn sagte er später, er sei ein guter Junge gewesen, ein guter Sohn, und dass seine Frau es mit der Religion übertrieben habe.
Mit zehn Jahren machte Schmidt erste sexuelle Erfahrungen mit einem Jungen aus der Nachbarschaft. Die Kinder zogen sich aus, berührten sich gegenseitig. Die Spiele und das damit verbundene »Geheimnis« empfand er als erotisierend. Wenig später stellte er fest, dass der Anblick von Blut ihn sexuell erregte. Oft besuchte er das örtliche Schlachthaus und sah zu, wie die Tiere ausgeweidet und zerlegt wurden. Einmal schlug er den Gänsen seiner Mutter die Köpfe ab und trug sie in seiner Hosentasche mit sich herum. Nachdem der Vater es entdeckte, verprügelte er den Jungen. Zu seinen Geschwistern hielt das Kind Abstand, nur mit seiner älteren Schwester Gertrud fühlte er sich verbunden.
1895 zog die Familie von Aschaffenburg nach Mainz. Hier besuchte Schmidt das Gymnasium und später das Priesterseminar. Auch dort blieb er ein Sonderling und Einzelgänger. Erste Zweifel an seiner mentalen und moralischen Eignung zum Priesteramt entstanden. Schmidt führte Selbstgespräche, war sprunghaft, fand keinen Kontakt zu seinen Kommilitonen. Nachts schlich er sich aus dem Seminar fort, um in zweifelhaften Spelunken Violine zu spielen. Das Geld verschenkte er am nächsten Tag. Gleich darauf jammerte er, er habe keinen Pfennig, um sich Essen zu kaufen. Er wurde gesehen, wie er nur in Unterwäsche Fahrrad fuhr.
Trotzdem wurde er am 23. Dezember 1904 von Bischof Georg Heinrich Kirstein zum Priester geweiht. Das behauptete zumindest Hans Schmidt. Die Weihe habe er abseits der anderen allein empfangen. In der Nacht zuvor war ihm die heilige Elisabeth erschienen. Sie, so sagte Schmidt, habe ihn zum Priesteramt auserkoren, und durch sie habe er die Priesterweihe erhalten. Von Mainz ging er nach München.
Er behauptete, hier Medizin studiert zu haben, und untermauerte dies mit gefälschten Zeugnissen. Als Doktor Zantor bot er Studenten an, sie gegen Geld mithilfe der Telepathie bei ihrem Examen zu unterstützen. Sollte dies nichts bringen, könnte er ihnen gefälschte Examenszeugnisse ausstellen. 1908 wurde er in München wegen Urkundenfälschung festgenommen. Der Vater bestellte einen Rechtsanwalt, dem es gelang, den Richter von der Unzurechnungsfähigkeit seines Mandanten zu überzeugen. Schmidt wurde in die Obhut seines Vaters entlassen, mit der Auflage, sich in ein Sanatorium einweisen zu lassen. Vom Bistum München wurde Schmidt 1909 seines Priesteramts enthoben. Seine Existenz lag in Scherben. Doch wenn er von zu Hause wegginge? Auf der anderen Seite des Atlantiks würde ihn niemand kennen.
Im Juni des gleichen Jahres schiffte er sich von Bremen in die USA ein. Mit echten und gefälschten Empfehlungsschreiben landete er schließlich in Louisville, Kentucky. In der Pfarrei St John wurde er als Priester angenommen. Doch schon bald kam es zu einem Zerwürfnis mit dem Pfarrer der Gemeinde. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Pfarrei St Francis in Trenton, New Jersey, gelangte er schließlich in die Pfarrei St Boniface. Hier lernte er Anna Aumüller kennen. Die junge Frau wies anfangs die Zuneigungsbekundungen Schmidts zurück. Doch er ließ sich nicht abweisen. Als sie das erste Mal miteinander schliefen, hatte der Akt etwas Gewaltsames. Anna wollte es nicht. Sie wollte nichts Unrechtes tun, und das Verhältnis mit einem Priester ist Sünde. Sie ließ sich einreden, die Schuld für seine Versuchung liege allein bei ihr. Immer wieder gab sie seinem Drängen nach. Sie wollte, dass er sich für sie und gegen das Priesteramt entschied. Er vertröstete sie. Nach seinem Wechsel zu St Joseph ging ihr Verhältnis weiter. Als sie ihn in seiner neuen Stelle besuchte, vollzog er mit ihr den Beischlaft auf dem Altar der Kirche. Anna wehrte sich, wieder wollte sie das nicht, und wieder ignorierte er sie.
Später wird er sagen, dass ihm hier zum ersten Mal von Gott der Befehl erteilt wurde, Anna zu opfern. Während er mit ihr schlief und dabei zum Tabernakel blickte, vernahm er die Stimme des Herrn. Laut und deutlich.
Anna sei das Wichtigste in seinem Leben gewesen, es verwundere ihn daher nicht, dass Gott ihm diese Prüfung auferlege. Diese Geschichte wird er jedoch erst erzählen, nachdem es in der ersten Verhandlung zu einer »hung jury« und somit zu keinem Urteil kommt. Die Verhandlung muss wiederholt werden. Im zweiten Prozess ist von seinem Verteidiger alles auf eine Verurteilung mit verminderter Zurechnungsfähigkeit hin ausgerichtet. Gutachter werden bestellt, und sein Vater reist mitsamt seiner Schwester Gertrud aus Deutschland an, um Schmidt beizustehen. Immer mehr Einzelheiten kommen ans Licht. Immer mehr bröckelt das Bild des charismatischen und charmanten Priesters, zum Vorschein kommt eine skrupellose, hinterlistige und instabile Person.
Father Huntman aus der Pfarrei St Joseph berichtet von mehreren unerfreulichen Zwischenfällen. So hat Schmidt einem anderen Priester, der in der Pfarrei zu Gast war, Geld gestohlen. Auch an den Spendengeldern der Gläubigen hielt er sich schadlos. Vier Wochen vor Anna Aumüllers Tod habe eine Freundin Schmidts sich als Anna ausgegeben und eine Lebensversicherung über 5000 Dollar, ungefähr 150000 Dollar heutiger Kaufkraft, abgeschlossen. Der Begünstigte ist kein anderer als Schmidt.
Der Priester hat mindestens vier Wohnungen unter verschiedenen Namen in Manhattan angemietet. In einer davon wird eine Fälscherwerkstatt entdeckt. Mit einem Freund, der zugleich sein Geliebter ist, produziert er hier Falschgeld. Auch ist er angeblich nicht allein in die Staaten immigriert. Mehrere Zeugen bestätigten unabhängig voneinander, dass er sich bei seiner Überfahrt in Begleitung einer jungen Frau befunden haben soll. Diese habe sich als seine Ehefrau ausgegeben. Ihre Identität konnte nie ermittelt werden. Bei den von der Polizei in der Bradhurst Avenue gefundenen Briefen fand sich einer, der vermuten lässt, dass sie vielleicht noch mit ihm in Louisville war, danach verlor sich jede Spur.
In dem Haus, das er als A. Van Dyke gemietet hat, stellte er der Hausmeisterin einen circa fünfjährigen Jungen als seinen Sohn vor. Die Frau sagt aus, das Kind habe ihm wie aus dem Gesicht geschnitten geähnelt. Sie habe auch kurz mit dem Jungen gesprochen und ihn nach seinem Namen gefragt. »August Van Dyke«, habe er ihr geantwortet. Es war das einzige Mal, dass sie das Kind zu Gesicht bekam. Die Ehefrau des Mieters habe sie nie gesehen.
Die Polizei sucht zudem nach einer weiteren Frau, ihr Name ist Helen Green, zumindest ging man davon aus, da Briefe unter diesem Namen gefunden wurden. Green hatte seit Januar 1913 in der 201 West 119th Street gewohnt, nur wenige Blocks von der Wohnung entfernt, die Schmidt unter dem Namen Van Dyke angemietet hatte und in dessen Treppenhaus er mit dem Kind gesehen worden war. Green und Schmidt hatten sich vermutlich während Anna Aumüllers Abwesenheit im November oder Dezember 1912 kennengelernt. Beide wurden häufiger gesehen. Sie besuchten gemeinsam verschiedene Broadway-Shows. Bekannte der beiden sagten später aus, Schmidt habe sich ihnen als Baron vorgestellt. Er sei der Sohn einer deutschen Adelsfamilie. Kurze Zeit später erzählte Green, sie würden New York verlassen und nach Chicago gehen. Das war ungefähr zu der Zeit, als Anna Aumüller aus Europa zurückkam. Alle Briefe, die von ihr geschrieben wurden, waren in New York abgeschickt worden, kein einziger kam aus Chicago oder einem anderen Ort in den USA. Auch Greens Spur verliert sich im Nichts, wie die der unbekannten Ehefrau.
Am 5. Februar 1914, nach einer nur drei Stunden dauernden Beratung, wird Schmidt für den Mord an Anna Aumüller schuldig gesprochen. Nachdem ihm das Todesurteil verkündet worden ist, sagt er: »Ich bin zufrieden mit dem Urteil. Ich würde lieber heute als morgen sterben.« Später scheint er sich dessen nicht mehr so sicher zu sein. Er unternimmt mehrere Versuche, in Revision zu gehen. Nicht er, sondern sein Geliebter hätte Anna Aumüller ermordet. Sie selbst hätte die Abtreibung vorgenommen und sei dabei ums Leben gekommen. Er sei unzurechnungsfähig und könne darum nicht für die Tat verurteilt werden. All dies hilft ihm nichts, er wird in das Gefängnis Sing Sing in Ossining, New York, eingeliefert und wartet im Todestrakt auf seine Hinrichtung.
Und dann gibt es noch den Mord an der achtjährigen Alma Kellner aus Louisville in Kentucky. Am 8. Dezember 1909 sahen mehrere Zeugen die kleine Alma, wie sie die kurze Strecke von ihrem Elternhaus zur St-John-Kirche ging. Eine Apothekerin erinnert sich daran, dass Alma vor der Auslage anhielt, um sich die Katze anzusehen, die im Fenster schlief. Der Briefträger erinnert sich, dass sie ihn im Vorübergehen gegrüßt hat.
Einige Gläubige, die ebenfalls auf dem Weg zur Kirche waren, sagten aus, sie hätten ein kleines Mädchen mit einem schwarz-weiß karierten Mantel mit Samtkragen und einem roten pilzförmigen Hut gesehen. Alma hatte genauso einen Mantel und Hut an diesem Tag getragen. Aber nach dem Gebet sah niemand Alma jemals wieder. Zunächst wurde an eine Entführung gedacht. Almas Familie gehörte eine erfolgreiche Brauerei. Ihr millionenschwerer Onkel Frank Fehr lobte eine Belohnung aus, aber niemand forderte das Geld ein. Die Zeit verging. Alma blieb verschwunden.
Im Mai 1910 steht der Keller der an die Kirche anschließenden Pfarrschule unter Wasser. Eine Sanitärfirma wird beauftragt, das Wasser abzupumpen und den schlammigen Boden zu reinigen. Der Arbeiter hat gerade begonnen, den Boden freizulegen, als er einen Kinderschuh entdeckt. Nach weiterem Graben kommt ein Fuß zum Vorschein und schließlich ein in einen Teppich gehülltes Skelett eines Kindes.
Bei der anschließenden Untersuchung durch den Gerichtsmediziner wird festgestellt, dass der Versuch unternommen worden war, den Leichnam zu zerstückeln und zu verbrennen. Teile des Körpers fehlen, und es wird eine schwere Verletzung am Kopf festgestellt. Durch die zahnärztlichen Unterlagen kann die Tote als Alma Kellner identifiziert werden.
Schnell steht fest, dass nur jemand, der mit dem Grundriss des Kirchengeländes vertraut ist, wissen kann, wie man in den Keller gelangt. Es gibt nur einen einzigen Zugang, und der liegt versteckt unter einer Falltür. Der Täter muss die Tat geplant haben, hat er doch für sein Opfer ein kleines Loch in den Boden gegraben. Wäre der Keller nicht geflutet worden, wäre die Leiche nie gefunden worden.
Der Verdacht fällt auf den Hausmeister Joseph Wendling, einen französischen Einwanderer. Kurz nachdem Alma vermisst gemeldet wurde, ist auch er verschwunden. Erst nach einer landesweiten Suche wird er in New Orleans gefasst. Er bestreitet die Tat. Auf die Frage, warum er fortgegangen ist, sagt er, er habe sich mit seiner Frau nicht mehr verstanden. Sie sei wesentlich älter als er, und der 27-Jährige fühle sich in seinem Leben mit ihr eingesperrt. Die kleine Alma kenne er vom Sehen, aber er habe sie nicht getötet. Obwohl Wendling die Tat bestreitet, wird er verurteilt und Jahre später nach Frankreich abgeschoben. Zeit seines Lebens behauptet er, unschuldig zu sein.
Schmidt war von Sommer 1909 bis zum Frühjahr 1910 als Priester in der Pfarrei St John angestellt. In der Todeszelle einsitzend, sagt er, er würde die Schuld für die Tat auf sich nehmen, wenn Wendling aus dem Gefängnis entlassen werden würde. Für ihn spiele es keine Rolle mehr, er könne nur einmal hingerichtet werden. Schmidt kann es nicht lassen, er will sich als Märtyrer inszenieren. Dabei entsprechen Tat und Vorgehensweise durchaus dem bei Anna Aumüller ausgeführten Muster.
Am Freitag, den 18. Februar 1916, geht Schmidt ruhig und vom Gefängnisgeistlichen begleitet zu seiner Hinrichtung. Die Nacht hat er mit dem Geistlichen im Gebet verbracht. Eine Henkersmahlzeit lehnt er ab. Nur eine Tasse Kaffee nimmt er am Morgen zu sich. Als er den Todestrakt verlässt, verabschiedet er sich von den anderen Gefangenen, an deren Zellen er vorübergeführt wird. Als er den Hinrichtungsraum betritt, will ihn einer der Wärter zum Stuhl führen, aber Schmidt lehnt ab. Seine letzten Worte richtet er an seine Mutter in Deutschland, von ihr verabschiedet er sich. Dann setzt er sich auf den elektrischen Stuhl. Lässt sich anschnallen und zur Hinrichtung vorbereiten. Bei alldem bleibt er ruhig. Drei Mal wird der Strom durch seinen Körper gejagt. Um 5:58 Uhr wird er für tot erklärt.
Schmidts Familie will den Leichnam nach Deutschland überführen lassen. Durch den Kriegseintritt der USA wird dies unmöglich.