Sie zog ihre Schultern hoch und holte tief Luft mit der puren Freude, am Leben zu sein, und genau in diesem Moment geschah es. Connie blickte auf ein Gesicht, das nur wenige Meter von ihrem entfernt war. Es war ein Junge mit struppigen schwarzen Haaren in einem goldfarben bemalten Cabriolet. Er starrte sie an, und dann weiteten sich seine Lippen zu einem Grinsen. Connie blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an und wandte sich ab, doch sie konnte nicht umhin, zurückzublicken, und da war er, er beobachtete sie immer noch. Er wedelte mit dem Finger, lachte und sagte: »Ich kriege dich, Baby.«
Joyce Carol Oates, »Where Are You Going, Where Have You Been?«
Joyce Carol Oates schrieb die Kurzgeschichte »Where Are You Going, Where Have You Been?« im Jahr 1966. Sie erzählt darin von Connie, einem 15-jährigen Mädchen, das sich von ihren Eltern missverstanden fühlt. Connie will raus aus der familiären Enge, raus aus der spießigen kleinen Stadt, in der sie lebt. Sie hasst die Barbecues mit ihren Eltern und deren Freunden. Die identisch aussehenden aufgeräumten Häuser mit ihren Vorgärten. Die Leben, die sich bis aufs Haar zu gleichen scheinen. Connie glaubt, umgeben von dieser Uniformiertheit vor Langeweile zu sterben, dabei will sie doch nur eins: das Leben oder das, was sie dafür hält, spüren. Wie Connie geht es vielen Teenagern, damals wie heute. Sie fühlen sich ungeliebt und missverstanden. Connie wächst in einer Stadt irgendwo in den USA auf. Einer Stadt, wie es viele gibt. Einer Stadt wie Tucson, Arizona.
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist Tucson von 85000 Einwohnern auf mehr als 300000 angewachsen. Die Stadt platzt aus allen Nähten. In den Schulen wird zeitweilig in zwei Schichten unterrichtet, da durch die ständig neu hinzugezogenen Familien nicht alle Schüler gleichzeitig Platz finden. Tucson hat wenig für Jugendliche zu bieten, und so bleibt nach Schulschluss meist nur trostlose Leere und Langeweile. Man trifft sich in Teenager-Clubs wie dem Hi Ho, auch »pick-up palace« genannt. Hier steigt man in die Autos von Freunden, um den Rest des Abends gemeinsam durch die Stadt zu cruisen. Die Wagen sind vollgepackt mit Teenagern, durch die geöffneten Fenster dringen die Musik und ihr Lachen nach draußen. Es geht die schnurgeraden Straßen entlang, vorbei an den Tankstellen, den Motels, den Bars. Immer wieder, auf und ab. Mit einer gefälschten ID, die für 2,50 Dollar auf jedem Highschool-Pausenhof zu haben ist, kann man an Alkohol kommen, der dann etwas außerhalb der Stadt in der Wüste getrunken wird. In Tucson nennt man die Jugendlichen »boondockers«. Sie lassen sich mit billigem Alkohol volllaufen oder haben auf den Rücksitzen der Autos Sex. Ein Teenager zu sein, ist an sich schon schwierig, dies dann auch noch an einem Ort mitten in der Wüste, in dem gefühlt nichts passiert, macht das Leben nicht einfacher. Wer abhauen kann, tut es: Jeden Monat werden den Polizeibehörden fünfzig jugendliche Ausreißer gemeldet. Manche von ihnen kehren nach ein paar Wochen oder Monaten nach Hause zurück, andere bleiben verschwunden.
Am 1. Juni 1964 meldet Norma Rowe ihre 15-jährige Tochter Alleen vermisst. Norma arbeitet als Krankenschwester im Tucson Hospital. Sie lebt seit der Scheidung allein mit ihrer Tochter. Die beiden haben ein enges Verhältnis. Alleen ist eine gute Schülerin, sie träumt davon, nach der Highschool auf ein College zu gehen, um Ozeanographie zu studieren. Sie ist ein ruhiges, eher introvertiertes Mädchen. Sie gehört nicht zur Gruppe der coolen girls in ihrer Klasse, ist aber auch keine Außenseiterin. Alleen ist irgendwo in der Mitte. Gleich hinter dem Haus, in dem sie wohnt, beginnt die Wüste, und Alleen liebt es, abends dort allein spazieren zu gehen und den Sternenhimmel zu betrachten. In jüngster Zeit hat ihre Mutter eine Veränderung an ihrer Tochter festgestellt. Alleen macht sich plötzlich Gedanken über den Tod, etwas, das vorher nie zur Sprache gekommen ist. Sie sagt ihrer Mutter, sie glaube an Reinkarnation und würde in einem neuen Leben gerne als Katze wiedergeboren werden.
Der 31. Mai 1964 ist ein Sonntag. Alleen will an diesem Abend zeitig zu Bett gehen. Sie muss am nächsten Morgen um 6 Uhr in der Schule sein. Gemeinsam mit ihrer Mutter hat sie sich einen Auftritt der Beatles im Fernseher angesehen. Danach hat Alleen versucht, Norma den neuesten Modetanz, den Fug, beizubringen. Sie lachen viel. Es ist ein unbeschwerter Abend. Danach hat Alleen geduscht und einen zweiteiligen Badeanzug angezogen. Orange mit schwarzem Blumenmuster. Ihr normales Outfit für zu Hause. Sie hat sich Lockenwickler ins Haar gedreht und ist kurz darauf ins Bett gegangen. Als Norma gegen zweiundzwanzig Uhr das Haus verlässt, um zur Nachtschicht zu gehen, sieht sie noch einmal nach ihrer Tochter. Alleen schläft.
Seit Kurzem verbringt Alleen viel Zeit mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft: Mary French. Die beiden Teenager rauchen heimlich im Garten, kichern viel und reden über alles, was man in diesem Alter so bespricht. Norma ist von der neuen Freundin ihrer Tochter nicht begeistert, aber es ist weniger Mary, mit der sie nicht einverstanden ist, es sind Marys Freunde, die ihr nicht gefallen. Der eine heißt John Saunders. Ein großer, schlaksiger Junge von 19 Jahren. Saunders hat die Schule abgebrochen und hängt mit Charles Schmid ab. Schmid ist noch weniger als Saunders jemand, den sich Norma als Umgang für ihre 15-jährige Tochter wünscht. Wie sein Kumpel Saunders ist er ein Schulabbrecher, er scheint nicht zu arbeiten, und trotzdem verfügt er über genügend Geld, um sich ein eigenes Auto leisten zu können. Norma hat gesehen, wie Schmid in seinem goldfarbenen Wagen die Straße auf und ab raste. Als er einmal Alleen besuchen wollte und feststellte, dass sie nicht zu Hause war, hat er Norma so durchdringend und drohend angestarrt, dass ihr fast Angst wurde. Norma hat nach diesem Vorfall mit ihrer Tochter über Schmid gesprochen. Auch sie fände ihn manchmal seltsam, hat sie ihrer Mutter gesagt, aber Mary sei ganz vernarrt in ihn, und Alleen mochte ihre Freundin. Sie sagte ihrer Mutter, dass Schmid auch eine andere Seite habe, er sei hilfsbereit, und wenn eines der Mädchen krank war, erkundigte er sich nach ihr und brachte Blumen mit. Alleen sagte: »Wenn er will, kann er sehr nett sein.« Norma ließ es darauf beruhen.
Bei ihrer Vermisstenanzeige am Tag nach Alleens Verschwinden erwähnt Norma auch Mary French, John Saunders und Charles Schmid. Sie sagt den Polizisten, dass sie ein ungutes Gefühl habe. Die Beamten statten den Jugendlichen einen kurzen Besuch ab, danach setzen sie Alleens Namen auf die monatliche Vermisstenliste. Norma lässt ihr Gefühl nicht los, die drei könnten etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun haben. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten stellt Norma Schmid nach. Sie beobachtet und verfolgt ihn, wann immer sie Zeit dazu findet. Wiederholt geht sie zur Polizei. Doch je öfter sie dort vorstellig wird, umso weniger werden ihren Bedenken ernst genommen. In den Augen der Beamten wird sie zur »seltsamen Mutter«, die einfach nicht verstehen kann oder will, dass sie alle mit ihrem Verhalten nervt. Kein Wunder, dass es die Tochter in so einem Haus nicht ausgehalten hat und bei der ersten Gelegenheit davongelaufen ist. Je länger Alleen verschwunden bleibt, umso fester ist Norma der Überzeugung, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein muss und dass Mary und ihre Freunde mehr wissen. Aber sosehr sie auch versucht, etwas herauszufinden: Es gelingt ihr nicht.
Ein Jahr später, am 17. August 1965, meldet Dr. James Fritz, ein bekannter Herzchirurg, seine beide Töchter Gretchen, 17, und Wendy, 13, vermisst. Die Mädchen wollten am Tag zuvor in ein Drive-in-Kino gehen und sich dort den neuesten Film mit Elvis Presley ansehen.
Wendy ist ein schüchterner Teenager. Ihre große Schwester ist ihr Idol. Gretchen gilt als troublemaker. Einer ihrer Lehrer bezeichnet sie als sprunghaft, subversiv und als pathologische Lügnerin. Ihre vermögenden Eltern haben sie auf ein privates Mädcheninternat geschickt. Dort schockiert Gretchen ihre Mitschülerinnen mit Aussagen wie der, dass sie schön dumm wären, mit Jungs auszugehen, ohne sich dafür bezahlen zu lassen. Gretchen liebt es, zu provozieren und sich unbeliebt zu machen. Sie schwänzt den Unterricht, taucht auf einer Tanzveranstaltung mit einer Gruppe Beatniks auf, und in den Sommerferien der elften Klasse wird sie bei dem Versuch erwischt, mit anderen Jugendlichen Alkohol aus einem liquor store zu stehlen. Der Vorfall ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Mädchen wird von der Schule suspendiert, und der Direktor empfiehlt den Eltern, ihre Tochter aufgrund ihres auffälligen Verhaltens einer psychiatrischen Behandlung unterziehen zu lassen.
Im Sommer 1964 lernt Gretchen Charles Schmid im Schwimmbad in Tucson kennen. Das schlanke blonde Mädchen ist ihm aufgefallen, und er ist ihr nach Hause gefolgt. Dort hat er an ihrer Tür geklopft, und als sie öffnete, hat er gefragt: »Kenn ich dich von irgendwoher?« Schmid färbt seine hellbraunen Haare blauschwarz, um auszusehen wie sein Idol Elvis Presley. Er trägt Make-up und schminkt sich die Wimpern dick mit schwarzer Mascara. Seine blauen Augen wirken dadurch noch strahlender. Mit seiner Jeans und den schwarzen Cowboystiefeln sieht er aus wie ein Rebell. Schmid ist anders als die anderen Jungs, und das gefällt Gretchen von Anfang an. Sie ist von ihm so angetan, dass sie und Charles ab diesem Zeitpunkt unzertrennlich sind. Sehr zum Missfallen ihrer Eltern.
Nach Gretchens und Wendys Verschwinden wird Schmid von der Polizei befragt. Er gibt an, Gretchen habe immer wieder Ärger mit ihren Eltern gehabt. Ihm gegenüber habe sie erwähnt, sich mit Wendy eine Weile nach Kalifornien absetzen zu wollen. Damit ist auch dieser Fall für die örtliche Polizei erledigt. Wie bei Alleen Rowe glauben die zuständigen Beamten, die beiden Mädchen hätten sich unverstanden gefühlt und seien von zu Hause ausgerissen.
Dr. James Fritz gibt sich damit nicht zufrieden. Gretchen ist manchmal schwierig, aber sie würde nicht einfach so mit ihrer Schwester durchbrennen. Sie liebt Wendy, und ihrer kleinen Schwester gegenüber hat sie sich immer verantwortungsvoll verhalten. Gretchens und Wendys Eltern heuern einen Privatdetektiv an. Dieser findet kurz darauf Gretchens Auto. Der rote Wagen parkt mitten in Tucson hinter einem Motel. Neben ihrer Tasche und den Schlüsseln findet sich auch noch der Geldbeutel mit 200 Dollar im Wagen. Von den beiden Mädchen fehlt jedoch jede Spur. Auch nach diesem Fund zeigt sich die Polizei weiterhin wenig beeindruckt.
Dies ändert sich erst im November 1965. Richard Bruns, ein 19-Jähriger aus Tucson, hat seiner Großmutter in stark angetrunkenem Zustand eine Geschichte erzählt, die diese zunächst für eine wirre Phantasterei ihres Enkels hält. Erst nach und nach ergibt das ganze Sinn, so viel, dass sie ihn am nächsten Tag zur Polizei schickt. Dort erzählt Bruns noch einmal alles der Reihe nach.
Auch Richard »Richie« Bruns gehört zum Freundeskreis um Charles Schmid. Nachdem John Saunders sich zur Armee gemeldet hat, ist er in der Clique zu Schmids engstem Freund aufgestiegen. Für Bruns eine Ehre, denn fast jeder Teenager in Tucson hat von Schmid gehört oder kennt ihn. In den Augen der jungen Leute ist er ohne Frage der krasseste Typ der Stadt. Seltsam … ja. Unheimlich … manchmal.
Schmid kam am 8. Juli 1942 zur Welt. Über seine leiblichen Eltern gibt es kaum Informationen. Er behauptete viele Jahre später, bei dem Versuch, als junger Erwachsener mit seiner biologischen Mutter Kontakt aufzunehmen, hätte die ihm mit den Worten, er solle sich »nie wieder blicken lassen« die Tür vor der Nase zugeschlagen. Seinen Freunden erzählte er, sein eigentlicher Name wäre Angel Rodriguez. Außer dieser, seiner eigenen Behauptung gibt es keinerlei Unterlagen darüber. Tatsache ist: Bereits einen Tag nach seiner Geburt wurde er von Charles und Katherine Schmid adoptiert. Die Schmids waren kinderlos und vermögend. Sie betrieben ein privates Seniorenheim in Tucson. Katherine liebte ihren Sohn und verwöhnte ihn. Er hatte im Großen und Ganzen eine glückliche Kindheit, ohne jede Auffälligkeit. Er war intelligent, gehörte aber nie zu den eifrigen Schülern seiner Klasse. Er machte gerade so viel, um durchzukommen. Er wurde weder gehänselt, noch war er ein Außenseiter, ganz im Gegenteil. Er war bei seinen Mitschülern beliebt. Die Schwierigkeiten begannen in der Pubertät. Mit seinem Vater kam es zu Reibereien. Er warf seinem Sohn vor, sich nicht genug in der Schule einzubringen, nicht diszipliniert genug zu sein. Seine Eltern schickten ihn auf eine Militärschule in San Diego, Kalifornien. Der Drill war nichts für ihn, und seine Mutter vermisste ihr einziges Kind. Nach ein paar Monaten war er wieder zurück an seiner alten Highschool. Seine schulischen Leistungen wurden zwar nicht besser, aber Schmid hatte den Sport für sich entdeckt. In der elften Klasse gewann er die Arizona State Championship in Gymnastik. Doch der Sport langweilte ihn bald. Im Jahr darauf, kurz vor seinem Abschluss, wurde er dabei erwischt, wie er Werkzeug aus der schuleigenen Werkstatt stahl. Die Schule suspendierte ihn für ein paar Wochen. Schmid hätte eigentlich zurückkommen können, um seinen Abschluss zu erhalten, er verzichtete jedoch darauf. Das Kapitel Schule war ein für alle Mal beendet.
Von seinen Eltern bekam er das eigentlich als Geschenk zum Schulabschluss gedachte goldfarbene Auto und ein monatliches Taschengeld von 300 Dollar, was einem heutigen Kaufwert von über 3000 Dollar entsprechen würde. Einen Job suchte er sich sehr zum Missfallen seines Vaters nicht. Auch im Seniorenheim wollte er nicht mitarbeiten. Zu Hause kam es deswegen zu Spannungen, und er zog in ein eigenes kleines Cottage auf dem Grundstück seiner Eltern. Mietfrei und möbliert. In seiner neuen Bleibe feierte er Wochenende für Wochenende ausgelassene Partys. Am nächsten Tag kam seine Mutter und räumte auf.
Schmid umgab sich gerne mit Jugendlichen, die ein paar Jahre jünger waren als er. Die störten sich weder an seinen gefärbten Haaren noch an seinem Make-up, welches er immer dicker auftrug, bis es aussah, als würde es aus seinem Gesicht bröseln, oder an dem schwarzen aufgemalten Schönheitsfleck auf seiner Wange, der den Durchmesser einer Vierteldollarmünze hatte. Schmid war so, wie er war, ein Unikat. Er hatte den Mut, auf die Konventionen der Erwachsenen zu pfeifen. Er machte sich seine eigenen Regeln. Er wird als hilfsbereit und nett beschrieben. Er hatte gute Manieren und wusste sich zu benehmen, um Eindruck zu schinden, trotz seines bizarren Aussehens.
Schmid war von kleiner und stämmiger Statur. Auch wenn er sich nach außen sehr selbstbewusst gab, hatte er ein Problem damit. Irgendwann schickte er seinen Vertrauten Bruns los, um ihm ein paar Cowboystiefel zu kaufen. Er wollte die größte Größe, die im Laden zu haben war. Selbst in den Laden zu gehen, kam für ihn nicht infrage, die Verkäufer hätten ihn fragen können, warum er die Schuhe nicht in seiner Größe kaufen wollte. Er stopfte sie mit alten Lumpen und zerdrückten Getränkedosen voll. Auch wenn sein Gang nun hölzern und watschelnd war, hatte er erreicht, was er wollte: Aus seinen 161 cm waren 170 cm geworden. Dass er sich mit den Stiefeln fast nicht auf den Beinen halten konnte, nahm er in Kauf.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der Maskerade kam er bei den Mädchen in Tucson gut an. Schmid prahlte mit seiner Potenz, er behauptete, mehr als hundert Arten zu kennen, mit Frauen zu schlafen und sie zum Orgasmus zu bringen. Er pflegte das Image des bad boy, und nicht wenige der weiblichen Teenager, darunter auch Gretchen Fritz, fanden das anziehend.
Bruns, der Schmids Verhältnis zu Gretchen aus nächster Nähe mitbekam, beschrieb es als eine Hassliebe. Die beiden konnten nicht mit-, aber auch nicht ohneeinander. Gretchen wird von Bruns als übergriffig und besitzergreifend beschrieben. Waren sie nicht zusammen, wollte sie von Schmid wissen, mit wem er wo und wann gewesen war. Rief sie ihn an und er ging nicht sofort ans Telefon, machte sie ihm eine Szene. Die beiden stritten sich bis aufs Messer, nur um sich wenige Minuten später wieder küssend in den Armen zu liegen. Gretchen beschmierte sein ganzes Auto mit Lippenstift. Schmid schrieb anonyme Briefe an Gretchen Eltern und an die örtliche Gesundheitsbehörde, in denen er sie bezichtigte, mit jedem ins Bett zu gehen und Geschlechtskrankheiten zu verbreiten. Gretchen verlangte von ihm, sich von anderen Mädchen fernzuhalten, und stahl sein Tagebuch, um nachzusehen, ob er auch die Wahrheit sprach. Mehr als einmal sagte Schmid zu Bruns, dass er sie gerne loswerden würde, dass er sie tot sehen will, nur um gleich darauf zu versichern, dass er noch nie so geliebt habe.
Im Juli 1965 verbrachte Gretchen mit ihrer Familie ein paar Ferienwochen in Kalifornien. Als sie zurückkam, beichtete sie Schmid, dass sie dort einen anderen Jungen kennengelernt habe. Sie habe ihn geküsst, aber mehr sei nicht gelaufen. Schmid war rasend vor Eifersucht. Sie stritten sich, danach war die Sache für Gretchen beendet. Nicht aber für Schmid. Sein Ego war angekratzt. Und was noch schlimmer war: Er hatte ihr während ihrer Beziehung Dinge gebeichtet, die ihm nun gefährlich werden konnten. Schmid hatte vor ihr geprahlt, dass er einen Jungen umgebracht und dessen Hände abgehakt habe, um die Identifizierung zu erschweren. Und er hatte ihr auch den Mord an Alleen Rowe gestanden. Gretchen war nicht die Einzige, die von dem Mord wusste. Schmid hatte auch vor anderen damit angegeben, aber ob sie die Geschichte tatsächlich glaubten oder nur für eine seiner abgefahrenen Storys hielten, ist schwer zu beurteilen. Gretchen hatte sein Tagebuch, und darin stand alles schwarz auf weiß. Schmid hatte niedergeschrieben, dass er den Wunsch habe, einen Menschen zu töten. Es war zu lesen, dass er ein Mädchen vergewaltigen und umbringen wollte. Wenn Gretchen das Tagebuch zur Polizei brachte, war er erledigt.
Im Tagebuch stand, dass er gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Mary French eine Liste mit den Namen dreier Mädchen erstellt hatte. Es war schwierig gewesen, an die ersten beiden heranzukommen. Alleen war die Letzte auf der Liste gewesen. Wenn ihre Mutter zum Dienst ging, war sie nachts allein.
Mary, Saunders und Schmid hatten das Mädchen in jener Nacht aus dem Haus gelockt. Es sei ganz einfach gewesen, da Alleen Mary blind vertraut habe. Zu viert seien sie in die Wüste gefahren, Alleen nur mit einem leichten Bademantel über dem Badeanzug und Lockenwicklern im Haar. In der Wüste haben Saunders und er das Mädchen vergewaltigt und anschließend mit einem Stein erschlagen. Mary saß die ganze Zeit im Auto und hörte Musik, als würde nichts geschehen. Nach der Tat ist Schmid zu ihr zum Auto zurück und sagte: »Wir haben sie umgebracht. Ich liebe dich.« Dann küsste er sie. Die drei verscharrten Alleens Leiche und setzten danach ihr Leben fort, als wäre nichts gewesen.
Nun, nachdem Gretchen nichts mehr von ihm wissen wollte, hatte Schmid ein Problem. Er konnte nicht einschätzen, ob sie ihm gegenüber weiter loyal sein würde. Vielleicht nagte auch einfach die Schmach, von ihr verlassen worden zu sein, an ihm. Er musste wieder an das Tagebuch gelangen. Er musste etwas tun.
An den Tagen nach Gretchens Verschwinden fiel Bruns auf, dass sein Freund viel entspannter war. Er zuckte nicht bei jedem Klingeln des Telefons zusammen, und auch sonst wirkte er ausgeglichener. Bei einem gemeinsamen Trinkgelage in seinem Cottage erzählte Schmid Bruns, dass er Gretchen und Wendy umgebracht habe. Er erzählte ihm in aller Ausführlichkeit, dass er die Schwestern hier, in dem Raum, in dem sie jetzt saßen, erwürgt habe. Zuerst Gretchen, dann Wendy. Danach habe er ihre leblosen Körper an einem der Teenagertreffpunkte entsorgt. Er habe sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie im Wüstensand zu verscharren. Auch den Grund, warum er sie getötet hatte, ihr Wissen um den Mord an Alleen, verriet er Bruns. Der sollte nun mit ihm mitkommen und die beiden Mädchen, die seit fast zwei Wochen in der Wüste lagen, vergraben. Gemeinsam fuhren sie hinaus in die Wüste. Mit den mitgebrachten Schaufeln hoben sie die Gruben aus. Bruns sagte später, dass der Boden hart wie Beton war und sie fast die ganze Nacht graben mussten. Schmid hatte Bruns aufgefordert, einen der Schuhe vom Boden aufzuheben und mit ins Grab zu legen. Bruns machte, was Schmid von ihm verlangte. Auf dem Weg zurück zum Auto habe Schmid zu ihm gesagt: »Deine Fingerabdrücke sind jetzt auf dem Schuh. Du steckst genauso in der Sache wie ich selbst.« Wie Saunders und Mary French vor ihm, tat auch er zunächst so, als wäre nichts passiert.
In den Wochen danach kam es Bruns vor, als würde Schmid nach und nach den Verstand verlieren. Er verwüstete sein Cottage, schlug mit den Fäusten gegen die Wände und schrie immer wieder, Gott würde ihn bestrafen. Bruns selbst war in keiner besseren Verfassung. Er hatte sich in Kathy Morath verliebt, ein 16-jähriges Mädchen aus der Highschool. Kathy gehörte auch zu der Gruppe um Schmid, er soll sie sogar eine Zeitlang gleichzeitig mit Mary French gedatet haben. Doch anders als Mary war Kathy nicht bereit, sich Schmid völlig unterzuordnen. Ihre Beziehung zerbrach, und Bruns freundete sich mit ihr an. Kathy fand ihn anfangs nett, je näher sie ihn kannte, desto weniger war sie an Bruns interessiert, sie fand ihn sonderbar. Kathy beendete die Beziehung. Bruns war am Boden zerstört. In den nachfolgenden Wochen steigerte er sich immer mehr in den Gedanken hinein, dass Kathy das nächste Opfer Schmids werden würde. Er wollte ihr seine Liebe zeigen, indem er sie vor Schmid beschützen würde. Von nun an trieb er sich Tag und Nacht in der Nähe ihres Hauses herum. Als er von Kathys Vater aufgefordert wurde, zu verschwinden, kam er mit seinem Hund zurück und führte ihn stundenlang in den Straßen um das Haus herum spazieren, bis die Anwohner schließlich die Polizei riefen. Bruns bekam eine gerichtliche Verwarnung und die Anordnung, sich eine Zeit in die Obhut seiner Großmutter in Ohio zu begeben. Dort kam es dann zum absoluten Zusammenbruch. Bruns war außer sich vor Sorge um Kathy. In seiner Verzweiflung betrank er sich sinnlos und erzählte seiner Großmutter alles.
1966 wird Charles Schmid des Mordes an Gretchen, Wendy und Alleen für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. John Saunders bekommt für den Mord an Alleen Rowe lebenslänglich, und Mary French wird wegen Beihilfe zu vier Jahren verurteilt.
Die Leichen der Fritz-Schwestern können geborgen werden, Bruns hat die Beamten zu dem Platz geführt, an dem er und Schmid sie vergraben haben. Doch Alleen Rowes Leiche bleibt weiter verschwunden. An dem von Mary und Saunders angegebenen Ort werden nur die Lockenwickler gefunden. Der Körper muss ausgegraben und an einer anderen Stelle erneut verscharrt worden sein. Doch Schmid schweigt beharrlich.
Bis zum Morgen des 24. Juni 1967. An dem Tag eröffnet Schmid seinem Bewährungshelfer Daniel Sakall, er sei bereit, die zuständigen Behörden an den Ort zu führen, an dem Alleens Leiche liegt. Er täte dies, um zu beweisen, dass er zu Unrecht verurteilt wurde. Mit der Leiche könne er zeigen, dass er Alleen nicht erschlagen habe und dass alles ein Komplott seiner Mitangeklagten gegen ihn sei.
Als die Fahrzeuge der örtlichen Polizei die Harrison Road am östlichen Stadtrand von Tucson erreichen, lässt Schmid die Autos anhalten. Nachdem alle ausgestiegen sind, blickt sich Schmid kurz um, danach führt er sie den Hügel hinab zu einem Palo-Verde-Baum. Im Schatten des Baumes beginnen die Männer des Sheriffdepartments zu graben. Schmid, der in Handschellen dabeisteht, kniet sich nieder und fängt an, mit bloßen Händen zu buddeln. Wieder sagt er, er tue dies, um allen zu zeigen, dass Alleens Schädel nicht gebrochen und er somit unschuldig sei. Er betont mehrfach, wie fragil die Knochen mittlerweile seien. Er wolle um jeden Preis verhindern, dass sie durch die Grabungen zerstört werden. Während er gemeinsam mit dem Gerichtsmediziner gräbt, versichert er diesem, dass er, sobald sie den Schädel gefunden haben, sofort erkennen könnte, dass es keinen Bruch gebe und er unschuldig sei. Sheriff Burr sagt später über Schmid, dass dieser während des Grabens vor Aufregung ganz aus dem Häuschen gewesen sei. In den Zeitungen wird am nächsten Tag ein Bild abgelichtet, auf dem man sehen kann, wie Schmids Hände in Handschellen den Schädel seines Opfers berühren.
Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung wird eindeutig festgestellt, dass Alleen mit einem Schlag auf dem Kopf getötet wurde. Auch den Stein, mit dem dies geschehen ist, findet man bei dem Skelett. Schmid hat aber dennoch bekommen, was er wollte: Er konnte die Tat noch einmal in seiner Phantasie durchleben, während sie Alleen ausgruben.
1971, als in Arizona die Todesstrafe zeitweilig außer Kraft gesetzt wird, wird seine Todesstrafe in fünfzig Jahre bis lebenslänglich umgewandelt. Am 20. März 1975 wird er im Gefängnis von zwei Mithäftlingen im Streit erstochen.
Schmids Mutter Katherine steht auch nach seiner Verurteilung weiterhin zu ihrem Sohn, sie investiert ihr gesamtes Geld in Anwalts- und Gerichtskosten. Er wird auf dem Gefängnisfriedhof beerdigt, da seine Mutter befürchtet, sein Grab könnte auf einem anderen Friedhof geschändet werden. Ob es den Mord an dem Jungen, dem Schmid angeblich die Hände abgehackt hat, je gegeben hat, wird nie geklärt. Ebenso wenig, warum so viele der Jugendlichen, die über die Tötung Alleens durch Schmid Bescheid wussten, sich nie bei der Polizei gemeldet haben. Noch während der Prozess gegen ihn läuft, bekommt er von den Medien den Beinamen »der Rattenfänger von Tuscon« verpasst. Wie im Märchen der Gebrüder Grimm hat er es geschafft, die Jugendlichen um sich zu scharren. Sie folgten ihm, wollten mit ihm befreundet sein und deckten seine Taten. Sie verschlossen die Augen vor der Tatsache, dass ihr Held ein Scharlatan und Mörder war. Sie hielten an einem Trugbild fest, koste es, was es wolle.
Ein 1966 im Life Magazine publizierter Artikel inspiriert Joyce Carol Oates zu ihrer Kurzgeschichte »Where Are You Going, Where Have You Been?«. In Oates’ Geschichte wird aus Charles Schmid Arnold Friend. Wenn man den Buchstaben »r« im Namen streicht, wird daraus »an old fiend« – ein alter Teufel.