Lakeport, Idaho

1941–1950

Zeno

Er ist sieben, als sein Vater beauftragt wird, eine neue Schlitzsäge in der Ansley Tie & Lumber Company zu installieren. Es ist Januar, als sie ankommen, und die einzigen Schneeflocken, die Zeno bisher gesehen hat, sind die Asbestfäden, die ein Drogist in Nordkalifornien über eine Weihnachtsdekoration streute. Der Junge berührt das Eis auf einer Pfütze auf dem Bahnsteig und zieht die Finger zurück, als hätte er sich verbrannt. Papa lässt sich in eine Schneeverwehung fallen, bedeckt seinen Mantel mit dem weißen Pulver und taumelt auf ihn zu: «Schau! Sieh mich an! Ich bin ein großer Schneemann!»

Zeno bricht in Tränen aus.

Die Firma quartiert sie in einer schlecht isolierten Zwei-Zimmer-Hütte anderthalb Kilometer vor der Stadt am Rand einer blendend weißen Ebene ein, die, wie der Junge erst später begreift, ein zugefrorener See ist. Am Abend öffnet Papa eine große Dose Armour-&-Company-Spaghetti mit Fleischbällchen und stellt sie auf den Holzofen. An der unteren Hälfte verbrennt sich Zeno die Zunge, die obere ist Matsch.

«Großartig hier, oder, mein Kleiner? Kolossal!»

Die ganze Nacht sickert Kälte durch die tausend Lücken in den Wänden, und dem Jungen wird nicht warm. Eine Stunde vor Sonnenaufgang durch die frei geschaufelte Schlucht zum Außenklo zu gehen, ist so entsetzlich, dass er betet, nie wieder pinkeln zu müssen. Früh am Morgen geht Papa mit ihm die anderthalb Kilometer in die Stadt und kauft ihm acht Paar dicke Wollsocken, Utah-Woolen-Mills-Socken, die besten, die sie haben. Sie setzen sich auf den Boden neben die Kasse, und Papa zieht Zeno je zwei über seine Füße.

«Denk immer daran, Junge», sagt er. «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.»

Die Hälfte der Kinder in der Schule sind Finnen, der Rest sind Schweden, und Zeno hat dunkle Wimpern, nussbraune Augen und eine Haut wie Milchkaffee. Dazu der Name. Olivenpflücker, Schafficker, Itaker, Zero – selbst wenn er die Bezeichnungen nicht versteht, ist doch klar, was sie ausdrücken: Riech nicht, atme nicht, zittre nicht, hör auf, anders zu sein. Nach der Schule wandert er durch die Innenstadt von Lakeport, ein Labyrinth aus weggepflügtem Schnee. Anderthalb Meter liegen oben auf der Tankstelle, knapp zwei auf dem Dach von Eisenwaren M. S. Morris. In der Konditorei Cadwell’s kauen ältere Jungs Kaugummi und reden von Trotteln, Schwuchteln und alten Karren. Sie verstummen, als sie ihn sehen, und sagen: «Geister hier nicht so rum.»

Acht Tage, nachdem sie in Lakeport angekommen sind, bleibt er vor einem hellblauen, zweistöckigen viktorianischen Haus an der Ecke von Lake und Park Street stehen. Eiszapfen hängen wie Fangzähne vom Dach herunter. Auf dem Schild davor steht, halb im Schnee begraben:

Er linst durchs Fenster, worauf ihn zwei identische Frauen in hochgeschlossenen Hauskleidern hereinbitten.

«Oh», sagt die eine, «du siehst aus, als wäre dir kalt.»

«Wo», sagt die andere, «ist deine Mutter?»

Schwanenhalslampen erleuchten Lesetische. Auf einer Stickerei an der Wand steht: Hier beantworten wir eure Fragen.

«Mama», sagt er, «lebt in der Himmelsstadt. Wo niemand Sorgen hat und niemandem etwas fehlt.»

Die Bibliothekarinnen neigen die Köpfe im genau gleichen Winkel. Eine setzt ihn auf einen Stuhl mit durchbrochener hölzerner Rücklehne vor den offenen Kamin, während die andere zwischen den Regalen verschwindet und mit einem gebundenen Buch in einem zitronengelben Umschlag zurückkommt.

«Ah», sagt die erste Schwester, «eine gute Wahl», und dann setzen sie sich links und rechts neben ihn, und die, die das Buch geholt hat, sagt: «An einem Tag wie diesem, wenn es kalt und nass ist und dir nicht warm werden will, brauchst du manchmal nur die Griechen», sie zeigt ihm eine eng mit Versen beschriebene Seite, «um rund um die Welt an einen warmen, steinigen, hellen Ort zu fliegen.»

Das Feuer flackert, die Messinggriffe an den Schubladen des Kartenkatalogs schimmern im Licht, und Zeno schiebt sich die Hände unter die Schenkel, während die zweite Schwester zu lesen beginnt. In der Geschichte fährt ein einsamer Seemann, der einsamste Mann der Welt, auf einem Floß achtzehn Tage übers Meer, bis er in einen fürchterlichen Sturm gerät. Sein Floß wird zertrümmert, und er wird nackt auf die Felsen einer Insel gespült. Aber eine Göttin namens Athene verkleidet sich als kleines Mädchen, bringt ihm einen Krug Wasser und begleitet ihn in eine verwunschene Stadt.

«Und es bestaunte Odysseus die Häfen und schwebenden Schiffe», liest sie.

Und die Märkte der Edlen selbst und die Mauern, die langen,

Hochgebauten, mit Pfählen gefügten, ein Wunder zu schauen.

Zeno sitzt gebannt da. Er hört die Wellen gegen die Schiffsrümpfe schlagen, riecht das Salz des Meeres, sieht die erhabenen Mauern in der Sonne leuchten. Ist die Insel der Phäaken die Himmelsstadt und musste seine Mutter achtzehn Tage allein auf einem Floß fahren, um dort hinzugelangen?

Die Göttin sagt dem einsamen Seemann, er solle keine Angst haben und dass es besser sei, seinen Mut zu bewahren, und er betritt einen Palast, der leuchtet wie der nächtliche Mond, und der König und die Königin schenken ihm honigsüßen Wein ein, setzen ihn auf einen Stuhl aus Silber und bitten ihn, von seiner Reise zu erzählen. Zeno möchte unbedingt mehr hören, aber die Wärme des Feuers, der Geruch des alten Papiers und die Stimme der Bibliothekarin verzaubern ihn, und er schläft ein.

Papa verspricht, die Hütte besser gegen die Kälte zu dämmen, verspricht fließendes Wasser, und dass er direkt bei Montgomery Ward einen neuen elektrischen Thermador-Heizofen bestellen wird, aber wenn er abends aus dem Sägewerk kommt, ist er meist zu müde, um sich auch nur die Schuhe aufzuschnüren. Er stellt eine Dose Rindfleisch mit Nudeln auf den Herd, raucht eine Zigarette und schläft am Küchentisch ein. Eine Pfütze Schmelzwasser bildet sich um seine Füße, ganz so, als taute er im Schlaf ein bisschen auf, bevor er bei Tagesanbruch zurück nach draußen muss und wieder einfriert.

Jeden Tag nach der Schule geht Zeno in die Bibliothek, und die Bibliothekarinnen, beide heißen Miss Cunningham, lesen ihm die Odyssee vor, dann Das Goldene Vlies und die Helden, die vor Achilleus lebten, nehmen ihn mit nach Ogygia und Erytheia, nach Hesperia und Hyperborea, Orte, die die Schwestern mythisch nennen, was heißt, dass es keine wirklichen Inseln und Länder sind und Zeno sie nur in seiner Fantasie besuchen kann, obwohl die beiden Bibliothekarinnen meinen, dass die alten Mythen manchmal wahrer sein können als die Wahrheit selbst, also sind es vielleicht doch wirkliche Orte? Die Tage werden länger, es tropft vom Dach der Bibliothek, und von den großen Gelbkiefern bei der Hütte rutscht mit dumpfem Krachen der Schnee. Für den Jungen hört es sich so an, als landete dort Hermes mit seinen goldenen Sandalen auf der Erde, um einen Auftrag der Götter zu erfüllen.

Im April bringt Papa eine gescheckte Colliehündin von der Arbeit mit, und auch wenn sie wie ein Sumpf riecht und regelmäßig einen Haufen hinter den Ofen setzt, legt sie sich nachts zu Zeno auf die Decke und drückt sich an ihn, und sein Glück treibt ihm Tränen in die Augen. Er nennt sie Athene, und wenn er nachmittags aus der Schule kommt, wartet der Hund schon schwanzwedelnd draußen vor dem Lattenzaun, und sie gehen gemeinsam zur Bibliothek. Die Cunningham-Schwestern lassen Athene auf dem kleinen Teppich vor dem Kamin schlafen, während sie Zeno Geschichten von Hektor und Kassandra und den hundert Kindern von König Priamos vorlesen. Aus dem Mai wird Juni, der See färbt sich saphirblau, der Lärm von Sägen hallt durch die Wälder, und beim Sägewerk türmen sich die Stämme hoch wie hölzerne Städte. Papa kauft Zeno einen drei Nummern zu großen Overall mit einem auf die Brusttasche genähten Blitz.

Im Juli kommt Zeno an einem Haus an der Ecke von Mission und Forest Street vorbei. Es hat einen gemauerten Kamin, zwei Stockwerke, in der Einfahrt steht ein hellblauer ’57er Buick. Eine Frau tritt aus der Tür und winkt ihn hoch auf die Veranda.

«Ich beiß schon nicht», sagt sie. «Aber lass den Hund unten.»

Drinnen sperren maulbeerfarbene Vorhänge das Licht aus. Ihr Name, sagt sie, ist Mrs Boydstun und ihr Mann ist vor ein paar Jahren bei einem Unfall im Sägewerk gestorben. Sie hat gelbes Haar, blaue Augen und Muttermale auf dem Hals, die wie beim Krabbeln erstarrte Käfer aussehen. Auf einem Teller im Esszimmer liegt eine Pyramide sternförmiger Plätzchen mit glänzender Glasur.

«Greif nur zu», sagt sie und steckt sich eine Zigarette an. Von der Wand hinter ihr blickt ein unterarmgroßer, am Kreuz hängender Jesus finster auf ihn herab. «Ich werfe sie sonst nur weg.»

Zeno nimmt sich eines: Zucker, Butter, köstlich.

Auf den Regalen ringsum im Zimmer stehen Hunderte rosawangiger Porzellankinder mit roten Kappen und roten Jacken, einige mit Holzschuhen, einige mit Heugabeln, andere küssen einander, und wieder andere blicken in einen Wunschbrunnen.

«Ich habe dich», sagt sie, «durch die Stadt laufen sehen. Und wie du mit den Hexen in der Bibliothek geredet hast.»

Er weiß nicht, was er darauf antworten soll, die Porzellankinder geben ihm ein ungutes Gefühl, und im Übrigen hat er den Mund voll.

«Nimm noch eines.»

Das Zweite ist sogar noch besser als das Erste. Wer würde einen Teller Plätzchen backen, um sie dann wegzuwerfen?

«Dein Vater ist der Neue, oder? Im Sägewerk? Der mit den Schultern.»

Er schafft es zu nicken. Jesus sieht ihn an, ohne zu blinzeln. Mrs Boydstun zieht an ihrer Zigarette und atmet den Rauch tief ein. Sie gibt sich locker, scheint aber äußerst angespannt, und er muss an Argos Panoptes denken, Heras Wächter, der überall auf dem Kopf Augen hatte, selbst noch an den Fingerspitzen hatte er welche. Es waren so viele, dass er, wenn er fünfzig zum Schlafengehen schloss, immer noch fünfzig offen hielt, um Wache zu halten.

Er nimmt sich ein drittes Plätzchen.

«Und deine Mutter? Ist sie auch hier?»

Zeno schüttelt den Kopf und glaubt plötzlich, keine Luft mehr zu bekommen. Die Plätzchen werden zu Steinen in seinem Bauch. Er hört Athene auf der Veranda jaulen, wird von Schuldgefühlen und Verwirrung übermannt, weicht vom Tisch zurück und läuft, ohne Danke zu sagen, hinaus.

Am folgenden Sonntag gehen Papa und er zusammen mit Mrs Boydstun in die Kirche, wo ein Pastor mit nassen Flecken unter den Achseln die Gemeinde davor warnt, dass sich dunkle Kräfte sammeln. Danach spazieren sie zu dritt zurück zu Mrs Boydstuns Haus, und sie schüttet etwas, das Old Forester heißt, in zwei passende blaue Gläser. Papa schaltet das Zenith-Radio ein, schickt Big-Band-Musik in die dunklen, drückenden Räume, und Mrs Boydstun lässt lachend ihre großen Zähne sehen und streicht Papa mit den Fingernägeln über die Unterarme. Zeno hofft, dass sie noch einen Teller mit Plätzchen hat, aber Papa sagt: «Geh hinaus spielen, Junge.»

Athene und er gehen die Straße zum See hinunter, und er baut ein Königreich der Phäaken in den Sand, komplett mit hohen Mauern, Obstgärten aus kleinen Ästchen und einer Flotte aus Kiefernzapfen. Athene sammelt Stöcke links und rechts am Ufer und bringt sie Zeno, damit er sie ins Wasser wirft. Vor zwei Monaten hätte er sich so darüber gefreut, in einem richtigen Haus mit einem richtigen Kamin und einem ’57er Buick in der Einfahrt sein zu können, aber jetzt will er nur mit Papa zurück in die kleine Hütte und sich mit ihm Dosennudeln auf dem Ofen warm machen.

Athene bringt immer größere Stöcke, bis sie ein ganzes ausgerissenes Bäumchen durch den Sand zerrt. Das Sonnenlicht glitzert auf dem See, und die mächtigen Kiefern schütteln und wiegen sich und lassen Nadeln auf sein Königreich fallen. Zeno schließt die Augen und spürt, wie er ganz klein wird, klein genug, um in den königlichen Palast in der Mitte seiner Sandinsel zu treten, wo ihn Diener in einen warmen Mantel hüllen, einen von Fackeln erleuchteten Gang entlangführen und alle außer sich vor Freude sind, dass er da ist, und er geht in den Thronsaal zu Odysseus und seiner Mutter und dem gut aussehenden, mächtigen Alkinoos, und sie bringen Zeus, dem höchsten Gott, der den Reisenden den Weg weist, ein Trinkopfer.

Am Ende läuft er zurück zum Haus von Mrs Boydstun und ruft nach Papa, und Papa ruft aus einem Zimmer hinten: «Einen Moment noch, mein Kleiner!», und Zeno und Athene setzen sich, von Mücken umschwirrt, auf die Veranda.

Der September verdrängt den August, und der Oktober streut den Bergen den ersten Schnee auf die Schultern. Sie verbringen fast jeden Sonntag bei Mrs Boydstun, und auch viele Abende in der Woche, und im November hat Papa immer noch keine Toilette in die Hütte gebaut, und es ist auch noch kein Thermador-Heizofen bei Montgomery Ward bestellt worden. Am ersten Sonntag im Dezember kommen sie aus der Messe zurück zu Mrs Boydstun, und Papa schaltet das Radio ein. Der Nachrichtensprecher sagt, dass dreihundertdreiundfünfzig japanische Bomber eine amerikanische Marinebasis irgendwo auf einer Insel namens Oahu angegriffen haben.

Mrs Boydstun steht in der Küche und lässt eine Tüte Mehl auf den Boden fallen. Zeno sagt: «Was heißt ‹alles Hilfspersonal›?» Er bekommt keine Antwort. Athene bellt auf der Veranda, und der Sprecher im Radio sagt, dass womöglich Tausende Seeleute getötet worden seien. An Papas Schläfe kann man eine Ader pulsieren sehen.

Draußen auf der Mission Street sind die Schneewehen bereits so groß wie Zeno. Athene gräbt einen Tunnel in den Schnee. Es kommen keine Autos vorbei, am Himmel sind keine Flugzeuge zu sehen, und alle Kinder bleiben bei sich zu Hause. Die Welt scheint verstummt zu sein. Als Zeno Stunden später wieder ins Haus kommt, dreht sein Vater Kreise um das Radio, lässt die Fingerknöchel knacken, und Mrs Boydstun steht mit einem Glas Old Forester am Fenster. Niemand hat das Mehl aufgekehrt.

Im Radio sagt eine Frau: «Guten Abend, meine Damen und Herren», und räuspert sich. «Ich wende mich heute Abend in einem sehr ernsten Moment in unserer Geschichte an Sie.»

Papa hebt einen Finger. «Das ist die Frau des Präsidenten.»

Athene winselt durch die Tür.

«Seit Monaten nun», sagt die Frau des Präsidenten, «schwebt das Wissen, dass so etwas passieren könnte, drohend über uns, und doch schien es unvorstellbar.»

Athene bellt, und Mrs Boydstun sagt: «Kannst du das Vieh nicht endlich zur Ruhe bringen?»

Zeno sagt: «Können wir nach Hause gehen, Papa?»

«Was immer von uns verlangt wird», fährt die Frau des Präsidenten fort, «ich bin sicher, wir werden es schaffen.»

Papa schüttelt den Kopf. «Den Jungs werden die Gesichter beim Frühstück weggeblasen. Sie verbrennen bei lebendigem Leibe.»

Athene bellt wieder, Mrs Boydstun drückt sich die zitternden Hände gegen die Schläfen, und die zahllosen sich bei den Händen haltenden, Seil springenden, Eimer tragenden Porzellankinder auf ihren Regalen scheinen mit einem Mal von einer fürchterlichen Kraft erfüllt.

«Wir kehren jetzt», sagt das Radio, «zu unserem geplanten Abendprogramm zurück.»

Papa sagt: «Wir werden es diesen verwichsten Japsen zeigen. Oh, Mann, und wie wir’s denen zeigen werden.»

Fünf Tage darauf fahren er und vier andere Männer aus dem Sägewerk nach Boise, wo man ihre Zähne zählt und den Brustumfang misst. Und am Tag nach Weihnachten geht es in etwas, das sich ein Ausbildungslager nennt, irgendwo an einem Ort, der Massachusetts heißt, und Zeno zieht zu Mrs Boydstun.