Lakeport, Idaho

1941–1950

Zeno

Unten trampeln Erwachsene mit ihren schweren Schuhen durch Mrs Boydstuns Wohnzimmer. Fünf Playwood-Plastiksoldaten klettern aus ihrer Blechdose. Soldat 401 schleicht mit seinem Gewehr zum Kopfende, 410 zerrt seine Panzerfaust über eine Falte in der Decke, 413 gerät zu nahe an die Heizung, und sein Gesicht schmilzt.

Pastor White kämpft sich mit einem Teller Schinken und Crackern die Treppe herauf und setzt sich keuchend auf das kleine Messingbett. Er nimmt Soldat 404, der sich das Gewehr über den Kopf hält, und sagt, er sollte das Zeno eigentlich nicht erzählen, aber an dem Tag, als Zenos Papa gestorben ist, da hat er selbst noch vier Japse zur Hölle geschickt.

Unten an der Treppe sagt jemand: «Guadalcanal, wo liegt die noch wieder?», und ein anderer: «Für mich sind die alle gleich.» Schneeflocken treiben vorm Fenster her. Im Bruchteil einer Sekunde segelt Zenos Mutter in einem goldenen Boot vom Himmel herab, und während alle staunend zusehen, klettern Athene und er an Bord, und sie bringt sie in die Himmlische Stadt, wo die Wellen eines türkisen Meeres gegen schwarze Felsen branden und an allen Bäumen sonnengewärmte Zitronen hängen.

Dann ist er zurück in seinem Messingbett, und Pastor White lässt Soldat 404 über die Decke hüpfen. Er stinkt nach Haarwasser, und Papa wird nie mehr zurückkommen.

«Ein echter Held», sagt der Pastor. «Das war dein Vater.»

Später schleicht Zeno mit dem Teller die Treppe hinunter und schlüpft durch die Hintertür nach draußen. Athene humpelt aus den Holunderbüschen, steif vor Kälte, er gibt ihr den Schinken und die Cracker, und sie sieht ihn voller reiner Dankbarkeit an.

Der Schnee fällt in dicken, verschmolzenen Flocken. Eine Stimme in seinem Kopf flüstert: Du bist allein, und es ist wahrscheinlich dein Fehler. Und das Tageslicht schwindet. In einer Art Trance verlässt er Mrs Boydstuns Garten, geht die Mission Street zur Kreuzung mit der Lake Street hinunter, klettert über die Böschung und kämpft sich durch die Schneewehen. Der Schnee dringt ihm in die Beerdigungsschuhe, und dann erreicht er den See.

Es sind die letzten Märztage, und in der Mitte des Sees, etwa einen knappen Kilometer weit draußen, zeigen sich die ersten dunklen Tauwetterflecken. Die Gelbkiefern am Ufer links von ihm bilden eine mächtige wabernde Wand.

Zeno tritt aufs Eis, wo die Schneedecke dünner wird, gefriergetrocknet und vom Wind verweht. Mit jedem Schritt, der ihn weiter vom Ufer führt, wächst das Gefühl für die große, dunkle Wassermasse unter seinen Füßen. Dreißig Schritte, vierzig. Als er sich umdreht, kann er die Sägewerke und die Stadt nicht mehr sehen, nicht mal mehr die Bäume am Ufer. Seine Spur wird von Wind und Schnee verwischt. Er ist in einem Universum aus Weiß gefangen.

Sechs Schritte weiter. Sieben, acht. Halt.

In jeder Richtung nur Nichts. Ein reinweißes Puzzle mit durch die Luft fliegenden Teilen. Er spürt, wie er am Rand von etwas schwankt. Hinter ihm liegen Lakeport, das zugige Schulhaus, die vermatschten Straßen, die Bibliothek, Mrs Boydstun mit ihrem Petroleumatem und ihren Porzellankindern. Hinter ihm liegen der Olivenpflücker, der Schafficker Zero, ein zu klein geratener Waisenjunge mit Ausländerblut und einem komischen Namen. Vor ihm liegt was?

Ein fast schon nicht mehr hörbares, dumpfes Krachen, vom Schnee gedämpft, fährt hinein ins Weiß. Blitzt da hinter den Schneeflocken das Königshaus der Phäaken auf? Sind da die bronzenen Mauern und silbernen Säulen, die Weinberge, Birnbäume und kristallklaren Quellen zu sehen? Er strengt die Augen an, aber irgendwie scheint sich ihre Sehkraft umgekehrt zu haben. Es ist, als sähen sie nach innen, in eine weiß wirbelnde Höhlung in seinem Kopf. «Was immer von uns verlangt wird», sagt die Frau des Präsidenten, «ich bin sicher, wir werden es schaffen.» Aber was wird denn verlangt, und wie soll er es ohne Papa schaffen?

Nur noch ein wenig weiter. Er schiebt einen Fuß einen halben Schritt weiter vor, und ein zweiter Riss krächzt durch das Eis des Sees, scheint aus dessen Mitte zu kommen und direkt zwischen seinen Beinen hindurch zur Stadt hinüber zu schießen. Dann spürt er, wie etwas an seiner Hose zieht, als hätte er das Ende einer Halteleine erreicht, die ihn zurückholen will, und er dreht sich um, und Athene hat ihn beim Gürtel gefasst.

Erst jetzt überkommt ihn die Angst, tausend Schlangen scheinen sich unter seiner Haut zu winden. Er stolpert, hält die Luft an und versucht, sich so leicht wie möglich zu machen, während der Collie ihn zurückbringt, Schritt für Schritt über das Eis in Richtung Stadt. Er erreicht das Ufer, wankt durch die Schneewehen und überquert die Lake Street. Er hört sein Herz dumpf in den Ohren pochen, zittert, und Athene leckt ihm die Hände. Im erleuchteten Wohnzimmer von Mrs Boydstuns Haus stehen Erwachsene und bewegen die Münder wie lebensgroße Nussknackerpuppen.

Teenager der Kirchengemeinde räumen den Bürgersteig. Der Metzger versorgt sie mit Wurstenden und kleinen Leckereien. Die Cunningham-Schwestern beginnen mit griechischen Komödien, wollen etwas leichtere Kost für ihn und sagen, der Stückeschreiber Aristophanes habe mit die besten Welten überhaupt erfunden. Sie lesen Die Wolken, Die Weibervolksversammlung und Die Vögel, die von zwei alten Männern handeln, die die irdische Schlechtigkeit leid sind und zu den Vögeln in eine Stadt am Himmel ziehen, wo sie allerdings herausfinden, dass ihnen ihr Kummer auch dorthin folgt. Athene döst vor dem Wörterbuchregal. Abends trinkt Mrs Boydstun Old Forester, raucht eine Camel nach der anderen, und sie spielen Cribbage und treiben ihre Stifte über das Brett. Zeno sitzt aufrecht da, die Karten ordentlich in der Hand aufgefächert, und denkt, ich bin noch in dieser Welt, aber es gibt auch noch eine andere, direkt da draußen.

Die vierte Klasse, die fünfte Klasse, der Krieg findet ein Ende. Urlauber kommen aus niedrigeren Höhenlagen, um mit Booten über den See zu segeln, die für Zeno voller glücklicher Familien zu sein scheinen, Moms, Dads und ihren Kindern. Die Stadt setzt Papas Namen auf ein Denkmal, jemand drückt Zeno ein Fähnchen in die Hand, und ein anderer spricht von Helden dies und Helden das, und hinterher sitzt Pastor White beim Essen am Kopf von Mrs Boydstuns Tisch und wedelt mit einem Truthahnbein.

«Alma, Alma, wie nennst du einen Schwulen, der auf dem Ofen sitzt?»

Mrs Boydstun hält mitten im Kauen inne, Petersilie klebt auf ihren Zähnen.

«Einen warmen Bruder!»

Sie kichert. Pastor White grinst in sein Glas. Auf den Regalen um sie herum sehen zweihundert pummelige Porzellankinder Zeno mit großen Augen an.

Er ist zwölf, als ihn die Cunningham-Zwillinge an den Ausgabeschalter rufen und ihm ein Buch geben: Die Meermänner von Atlantis, achtundachtzig vierfarbige Seiten. «Wir haben es für dich bestellt», sagt die erste Schwester, und die Haut um ihre Augen kräuselt sich. Die zweite Schwester stempelt den Abgabetermin hinten ins Buch, und Zeno trägt es nach Hause und setzt sich damit auf das kleine Messingbett. Gleich auf der ersten Seite wird eine Prinzessin von fremden Männern in bronzener Rüstung von einem Strand entführt. Als sie aufwacht, findet sie sich unter einer großen Glaskuppel in einer Unterwasserstadt wieder. Unter ihrer Bronzerüstung sind die Männer der Stadt Wesen mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen, sie tragen goldene Armbänder um die kräftigen Oberarme, haben spitze Ohren und Kiemenschlitze seitlich am Hals. Wo ihre muskulösen Beine zusammentreffen, sieht man Ausbuchtungen, die es in Zenos Bauch summen lassen.

Die seltsamen, schönen Männer können unter Wasser atmen. Sie sind sehr geschäftig. Ihre Stadt hat zerbrechliche Türme aus Kristall und hoch aufgewölbte Brücken, unter denen lange, schimmernde Unterseeboote durchfahren. Auf Seite zehn entbrennt ein Krieg zwischen den Unterwasser-Männern und den unbeholfeneren Überwasser-Männern, die ihre Prinzessin zurückwollen. Die Überwasser-Männer kämpfen mit Harpunen und Musketen, die Unterwasser-Männer mit Dreizacken, und ihre Muskeln sind glatt und schön, und Zeno, in dessen Körper sich eine ungekannte Hitze ausbreitet, kann den Blick nicht von den Kiemenschlitzen in ihren Hälsen und den langen, muskulösen Gliedern wenden. Auf den letzten Seiten wird der Kampf immer wilder, und als erste Risse in der Kuppel über der Stadt erscheinen, die alle in Gefahr bringen, steht da nur noch: Fortsetzung folgt …

Drei Tage lang bewahrt er Die Meermänner von Atlantis in seiner Schublade auf, wo sie wie etwas Gefährliches glühen und selbst in der Schule durch seine Gedanken pulsieren: radioaktiv, unerlaubt. Und erst, als er sicher ist, dass Mrs Boydstun schläft, und es vollkommen still ist im Haus, riskiert er weiterzulesen. Die wütenden Seeleute bearbeiten die schützende Kuppel mit ihren Harpunen, und die eleganten Unterwasserkrieger in ihren burgunderroten Anzügen schwimmen mit Dreizacken und muskulösen Schenkeln durchs Wasser. In seinen Träumen klopfen sie an sein Schlafzimmerfenster, aber wenn er den Mund aufmacht, um etwas zu sagen, füllt der sich mit Wasser, und er wacht mit dem Gefühl auf, durch das Eis des Sees gebrochen zu sein.

Wir haben es für dich bestellt.

In der vierten Nacht trägt Zeno Die Meermänner von Atlantis mit zitternden Händen die knarzende Treppe hinunter, vorbei an den maulbeerfarbenen Vorhängen, den Seidenläufern und der widerlichen Duftschale, schiebt die Tür vorm Kamin auf und wirft das Buch hinein.

Scham, Unsicherheit, Angst – er ist das Gegenteil seines Vaters. Nur selten wagt er sich in die Stadt, tut alles, um der Bibliothek auszuweichen. Sieht er eine der Cunningham-Schwestern am See oder in einem Laden, macht er gleich kehrt, duckt sich, versteckt sich. Sie wissen, dass er das Buch nicht zurückgebracht hat, dass er öffentliches Eigentum zerstört hat. Sie werden erraten, warum.

Im Spiegel scheinen seine Beine zu kurz, ist sein Kinn zu weich. Er schämt sich seiner Füße. Vielleicht würde er in eine ferne, glitzernde Stadt passen. Vielleicht könnte er an einem jener Orte, frisch und neu, zu dem Mann werden, der er gerne sein würde.

Manchmal auf dem Weg zur Schule, oder einfach schon beim Aufstehen, erfasst ihn plötzlich das Gefühl, von Leuten angestarrt zu werden, Leuten mit blutgetränkten Hemden, deren Gesichter eine einzige Anklage sind. Es kommt wie ein Schlag in den Magen. Tunte, sagen sie und richten die Finger auf ihn. Schwuchtel. Warmer Bruder.

Zeno ist sechzehn und Teilzeitlehrling im Maschinensaal von Ansley Tie & Lumber, als fünfundsiebzigtausend Soldaten der nordkoreanischen Volksarmee den 38. Breitengrad überschreiten und den Koreakrieg entfesseln. Es wird August, und die Kirchenmänner, die sich allsonntäglich um Mrs Boydstuns Tisch versammeln, beklagen die Unzulänglichkeit der neuen Generation amerikanischer Soldaten: Wie verwöhnt sie sind, geschwächt durch eine Kultur des Überflusses, infiziert mit dem Aufgebervirus, und die glühenden Enden ihrer Zigaretten beschreiben orange Kreise über den Hühnerknochen.

«Bist nicht so ein Held wie dein Vater», sagt Pastor White und klopft Zeno demonstrativ auf die Schulter, und der hört, wie irgendwo in der Ferne eine Tür aufgeschoben wird.

Korea, ein kleiner, grüner Daumen auf dem Schulglobus. Es scheint so weit von Idaho entfernt zu liegen wie nur irgend möglich.

Jeden Abend nach seiner Schicht im Sägewerk joggt er ein Stück um den See. Fünf Kilometer zur Abzweigung an der West Side Road, fünf Kilometer zurück durch den Regen, Athene mit ergrauter Schnauze, löwenherzig, hinter ihm herhechelnd. An manchen Abenden laufen die schlanken, strahlenden Krieger aus Atlantis gleichauf mit ihm mit, wie von glühenden Drähten gezogen, und er läuft schneller und versucht sie hinter sich zu lassen.

An seinem siebzehnten Geburtstag fragt er Mrs Boydstun, ob er mit dem Buick nach Boise fahren darf. Sie steckt sich eine neue Zigarette an der alten an. Die Kuckucksuhr tickt, ihre Kinder stehen in den Regalen, und drei verschiedene Jesusse starren von drei verschiedenen Kreuzen auf sie herab. Hinter ihrer Schulter, durchs Küchenfenster zu sehen, liegt Athene zusammengerollt unter der Hecke. Fast zwei Kilometer entfernt dösen Mäuse in der Hütte, in der er und Papa ihren ersten Winter in Lakeport verbracht haben. Herzen heilen, doch es bleiben Narben.

In den Serpentinen, die hinunter in den Canyon führen, muss er sich zweimal übergeben. Im Rekrutierungsbüro drückt ihm ein Mediziner das kalte Rund eines Stethoskops auf das Brustbein, leckt über das Ende seines Bleistifts und setzt ein Häkchen in die Kästchen des Formulars. Fünfzehn Minuten später ist er der Rekrut Zeno Ninis.