Die Stadtbibliothek von Lakeport

20. Februar 2020, 17:08 Uhr

Seymour

Sein erster Schuss verliert sich irgendwo in den Liebesromanen, der zweite trifft den Mann mit den Brauen in die linke Schulter und wirbelt ihn ein Stück zur Seite. Der Mann lässt sich auf ein Knie sinken, stellt den Rucksack auf den Teppich, als wäre es ein großes, zerbrechliches Ei, und kriecht davon weg.

Schnell, sagt eine Stimme in Seymours Kopf. Lauf. Aber seine Beine weigern sich. Schnee treibt an den Fenstern vorbei. Eine leere Patronenhülse liegt drüben bei den Wörterbüchern. Angstmineralien glitzern in der Luft. Jean-Jacques Rousseau sagt in einem grün eingebundenen Buch gleich drüben im Regal, JC179.R: Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört.

Los doch. Lauf.

Er hat sich zwei Löcher in die Windjacke geschossen, das Nylon ist an den Rändern geschmolzen. Er hat die Jacke ruiniert, Bunny wird enttäuscht sein. Der Mann mit den Brauen schleppt sich auf den Fingerspitzen einer Hand in den Gang zwischen Literatur und Sachbuch. Der JanSport-Rucksack wartet auf dem Teppich, der Reißverschluss ist halb offen.

Auf dem Computertisch drehen sich die Spiralen. Im Raum innen in seinem Hörschutz wartet Seymour auf das Dröhnen. Er beobachtet, wie das Wasser durch die verfärbte Deckenplatte tropft und in den halb vollen Abfalleimer platscht. Plitsch, platsch, plitsch.

Zeno

Pistolenschüsse? In der Stadtbibliothek von Lakeport? Unmöglich, dass nicht mit solchen Fragezeichen zu versehen. Vielleicht hat Sharif einen Stapel Bücher fallen lassen, ein uralter Balken im Boden ist gebrochen, oder ein Witzbold hat einen Böller in die Toilette geworfen. Vielleicht hat Marian auch die Tür der Mikrowelle zugeknallt. Zweimal.

Nein, Marian ist zu Crusty’s gegangen, um die Pizzas zu holen. Bin ratzfatz wieder da.

Wo waren die anderen Besucher unten im Erdgeschoss, als er mit den Kindern hereingekommen ist? Beim Schachspiel, lesend in einem der Sessel oder am Computer? Er kann sich nicht erinnern.

Bis auf Marians Subaru war der Parkplatz leer.

Oder?

Rechts von Zeno hat Christopher den Karaokestrahler voll im Griff und beleuchtet nur Rachel, die Magd des Wirts, während Alex, der Aethon spielt, seine Sätze mit seiner klaren, hellen Stimme aus dem Dunkel heraus deklamiert: «Was ist mit mir? Das Fell, das da aus meinen Beinen wächst, oh, das sind keine Federn! Mein Mund, er fühlt sich nicht so wie ein Schnabel an! Und das sind keine Flügel, das sind Hufe! Oh, ich bin keine kluge, kräftige Eule geworden, sondern ein großer, dummer Esel!»

Als Christopher ihn wieder mit ins Licht nimmt, trägt Alex einen Eselskopf aus Papiermaschee, Rachel unterdrückt ein Lachen, als er von der Bühne stolpert, und aus Natalies tragbarem Lautsprecher ertönen Eulenrufe. Olivia, der Bandit, wartet mit ihrer Skimaske und ihrem Folienschwert hinter der Bühne auf ihr Stichwort. Dieses Stück mit diesen Kindern zu schaffen, ist das Beste, was Zeno je in seinem Leben getan hat – und doch stimmt da etwas nicht, diese beiden Fragezeichen fahren ihm durch die Ganglien seines Hirns und überwinden sämtliche Barrikaden, die er ihnen in den Weg zu stellen versucht.

Da sind keine Bücher heruntergefallen. Das war nicht die Mikrowellentür.

Er wirft einen Blick über seine Schulter. Die Wand, die sie in den Eingang zur Kinderbuchabteilung gebaut haben, ist auf der Innenseite nicht bemalt, sondern einfaches, auf Kanthölzer genageltes Sperrholz, nur hier und da schimmern ein paar eingetrocknete Tropfen Goldfarbe. Die kleine Tür in der Mitte ist geschlossen.

«O je», sagt Rachel, die Magd, und lacht noch immer. «Ich muss die Tiegel der Hexe vertauscht haben! Aber keine Sorge, Aethon, ich kenne alle Gegengifte der Hexe. Geh und warte im Stall, und ich bringe dir frische Rosen. Sobald du sie isst, löst sich der Zauber, und du wirst wieder ein Mensch, so schnell, wie du mit dem Schwanz wedeln kannst.»

Aus Natalies Lautsprecher kommt das Geräusch von Grillen in der Nacht. Ein Schauder erfasst Zeno.

«Was für ein Albtraum!», ruft Alex, der Esel. «Ich versuche zu sprechen, und heraus kommt nichts als ein Schreien und Iahen! Wird sich mein Schicksal je wieder wenden?»

Im Schatten hinter der Bühne tritt Christopher zu Olivia und setzt ebenfalls seine Skimaske auf. Zeno reibt sich die Hände. Warum ist ihm kalt? Es ist ein Sommerabend, oder? Nein, nein, es ist Februar in Lakeport, er trägt einen Mantel und zwei Paar Wollsocken – nur im Theaterstück der Kinder ist Sommer, Sommer in Thessalien, dem Land der Magie, und gleich werden Banditen den Gasthof überfallen, den zum Esel gewordenen Aethon mit Taschen voller gestohlener Dinge beladen und ihn aus der Stadt treiben.

Es gibt sicher eine harmlose Erklärung für das Knallen, natürlich gibt es die. Aber er sollte nachsehen. Nur um sicherzugehen.

«Oh, ich hätte mich nie in dieser Hexerei versuchen sollen», sagt Alex. «Ich hoffe, die Magd kommt bald mit den Rosen.»

Seymour

Draußen vor den Fenstern der Bibliothek, jenseits von Lakeport, jenseits des Schneesturms schluckt der Horizont die Sonne. Der angeschossene Mann mit den Brauen hat sich bis unten an die Treppe geschleppt und da zusammengerollt. Blut tränkt die obere Ecke seines T-Shirts und lässt das BIG von I LIKE BIG BOOKS unkenntlich werden, färbt Hals und Schulter leuchtend rot. Es macht Seymour Angst, dass der Körper solch eine übertriebene Farbe enthält. Er wollte doch nur ein Stück aus dem Immobilienbüro Eden’s Gate heraussprengen. Ein Zeichen setzen. Die Leute aufwecken. Ein Krieger sein. Und was hat er jetzt getan?

Der angeschossene Mann bewegt die rechte Hand, der Heizkörper links von Seymour zischt, und endlich löst sich seine Starre. Er nimmt den Rucksack und stellt ihn zurück in die Sachbuchecke, versteckt ihn etwas höher im Regal, läuft zum Eingang und späht am auf die Scheibe geklebten Schild vorbei.

Durch den fallenden Schnee kann er hinter den Wacholderbüschen die Buchrückgabekiste, den leeren Bürgersteig und gegenüber den Umriss des unter zwanzig Zentimetern Schnee begrabenen Pontiac sehen, als wäre er gefangen in einer Schneekugel. Auf der anderen Seite der Kreuzung taucht eine Gestalt in einem kirschroten Parka mit einem Stapel Pizzakartons auf und nähert sich der Bibliothek.

Marian.

Er schiebt den Riegel vor, macht das Licht aus, läuft an den Nachschlagewerken vorbei, vorbei an dem angeschossenen Mann und hin zum Ausgang am hinteren Ende der Bibliothek. NOTAUSGANG, steht über der Tür. ÖFFNEN LÖST EINEN ALARM AUS.

Er zögert. Als er den Hörschutz anhebt, dringt Lärm auf ihn ein. Das Ächzen der Heizung, das Platschen der Tropfen, ein fernes, ungleichmäßiges Geräusch wie das Zirpen von Grillen, dann Polizeisirenen: noch einige Straßen entfernt, aber schnell näher kommend.

Sirenen? So schnell?

Er setzt den Hörschutz wieder auf und legt beide Hände auf die Öffnungsbügel der Tür. Der elektronische Alarm schrillt auf, als er den Kopf hinaus in den Schnee reckt. Zuckende blaue und rote Lichter rasen heran.

Er zieht den Kopf zurück, die Tür schließt sich, und der Alarm bricht ab. Als er wieder am Eingang ist, sieht er, wie ein Polizei-SUV auf den Gehsteig fährt und fast die Buchrückgabekiste rammt. Die Fahrertür fliegt auf, eine Gestalt springt heraus, und Marian lässt ihre Pizzakartons fallen.

Ein Scheinwerfer richtet sich auf die Vorderseite der Bibliothek.

Seymour sinkt zu Boden. Sie werden die Bibliothek stürmen, werden ihn erschießen, und dann ist es vorbei. Er läuft hinter die Empfangstheke, schiebt sie vor über die Eingangsmatte und verbarrikadiert die Tür. Als Nächstes packt er das Regal mit den Hörbüchern. Kassetten und CDs fallen heraus, und er zerrt es vorn vors Fenster, hockt sich mit dem Rücken dagegen und versucht zu Atem zu kommen.

Wie können sie so schnell hier sein? Ist es möglich, dass sie die beiden Schüsse fünf Straßen entfernt im Revier gehört haben?

Er hat einen Mann angeschossen, die Bomben noch nicht hochgehen lassen, Eden’s Gate ist unversehrt. Er hat es komplett versaut. Die Augen des Mannes am Fuß der Treppe blinzeln zu ihm herüber, er verfolgt jede seiner Bewegungen. Selbst im dämmrigen, schneeverhangenen Licht kann Seymour sehen, dass der Blutfleck auf seinem Hemd größer geworden ist. Die lindgrünen Stöpsel in seinen Ohren: Sie müssen mit einem Telefon verbunden sein.

Zeno

Christopher und Olivia mit ihren Skimasken stopfen ihre Beute in die Satteltaschen auf dem Rücken von Aethon, dem günstigerweise verfügbaren Esel. Alex sagt: «Au, die sind schwer, au, au, hört auf, bitte, ich bin kein Tier, sondern ein Mensch, ein einfacher Hirte aus Arkadien», und Christopher, der Bandit Nummer eins, sagt: «Warum macht der Esel so einen verflixten Lärm?» Olivia, Bandit Nummer zwei, sagt: «Wenn er keine Ruhe gibt, erwischen sie uns», und versetzt Alex einen Schlag mit ihrem Schwert. Unten geht ein Alarm los und hört wieder auf.

Alle fünf Kinder blicken zu Zeno in der ersten Reihe hinüber und beschließen offensichtlich, dass es ein Test sein muss. Die maskierten Banditen machen mit ihrem Raub weiter.

Als er aufsteht, dringt ein vertrauter Schmerz aus Zenos Hüfte. Er reckt den Daumen in Richtung seiner Schauspieler, humpelt nach hinten und öffnet vorsichtig die kleine runde Tür. Das Licht auf der Treppe ist aus.

Vielleicht hat Marian die Bibliothek wegen des Schneesturms vorzeitig geschlossen?

Von unten klingt ein Scheppern und Krachen herauf, als fiele etwas aus einem Regal. Dann wird es wieder ruhig.

Das rote Licht des AUSGANG-Zeichens macht aus dem Gold der Sperrholzwand ein giftiges Grün. Eine Sirene ist zu hören, und am unteren Teil der Treppe züngelt abwechselnd ein Rot und ein Blau.

Erinnerungen rauschen durch die Dunkelheit: Korea, eine zerborstene Windschutzscheibe, die Umrisse von Soldaten, die einen schneebedeckten Hang herunterschwärmen. Er findet das Geländer, geht zwei Stufen hinunter und sieht unten vor der Treppe eine zusammengekrümmte Gestalt liegen.

Sharif blickt hoch. Sein Gesicht wirkt angespannt. Auf seiner linken Schulter liegt ein Schatten, etwas Feuchtes, oder schlimmer noch. Er hebt einen Zeigefinder an die Lippen.

Zeno zögert.

Zurück, winkt Sharif.

Er dreht sich um, versucht kein Geräusch auf der Treppe zu machen, die goldene Wand ragt vor ihm auf …

Ὦ ξένε, ὅστις εἶ, ἄνοιξον, ἵνα μάθῃς ἃ θαυμάζεις

… und das Gewicht des Altgriechischen wirkt mit einem Mal fremd und schaurig. Einen Moment lang kommt sich Zeno wie Diogenes vor, als er die Inschrift auf einer jahrhundertealten Truhe las, wie ein Fremder aus der Zukunft, der kurz davor steht, in eine unverständliche, völlig fremde Vergangenheit einzudringen. Fremder, wer immer du bist … So zu tun, als hätte er irgendeine Ahnung, was diese Worte bedeuten, ist absurd.

Er duckt sich zurück durch die kleine, runde Tür und schließt sie hinter sich. Auf der Bühne treiben die Banditen Aethon, den Esel, einen steinigen Pfad hinunter, hinaus aus Thessalien. Christopher sagt: «Nun, das muss der nutzloseste Esel sein, den ich je gesehen habe! Er beschwert sich bei jedem Schritt», und Olivia: «Wir sollten ihm, sobald wir unser Versteck erreicht und unsere Beute abgeladen haben, die Kehle durchschneiden und ihn von der Klippe werfen», und Alex nimmt den Eselskopf herunter und kratzt sich die Stirn.

«Mr Ninis?»

Der Karaokestrahler ist blendend hell. Zeno greift nach einem der Klappstühle, um sein Gleichgewicht zu halten.

Christopher sagt durch seine Skimaske: «Es tut mir leid, dass ich mich eben mit dem Text verhaspelt habe.»

«Nein, nein», sagt Zeno und versucht seine Stimme ruhig zu halten. «Ihr macht das wunderbar. Ihr alle. Es ist sehr lustig. Es ist toll. Alle werden es mögen.» Die Zikaden und Grillen dröhnen aus dem Lautsprecher, und die Pappwolken drehen sich an ihren Schnüren. Alle fünf Kinder sehen ihn an. Was soll er tun?

«Also», sagt Olivia, der Bandit, und fuchtelt mit ihrem Schwert herum, «machen wir jetzt weiter?»