Konstantinopel

Herbst 1452

Anna

Sie wird zwölf, ohne dass jemand ihren Geburtstag erwähnt. Sie läuft nicht länger durch Ruinen, stellt sich nicht länger vor, Odysseus zu sein, wie er sich in den Palast des Alkinoos schleicht: Es ist, als hätte Kalaphates zusammen mit den Seiten von Licinius auch das Königreich der Phäaken zu Asche werden lassen.

Marias Haar ist nachgewachsen, wo Kalaphates es ausgerissen hat, und die Blutergüsse rund um ihre Augen sind schon lange verschwunden, aber tiefere Verletzungen sind geblieben. In der Sonne verzieht sie das Gesicht, vergisst die Namen von Dingen und lässt Sätze unvollendet. Kopfschmerz treibt sie in den Schatten, und eines hellen Morgens, vor dem Mittagsläuten, lässt Maria Nadel und Schere fallen und greift sich an die Augen.

«Anna, ich kann nichts sehen.»

Witwe Theodora runzelt auf ihrem Hocker die Stirn, die anderen Stickerinnen heben den Blick, aber wenden sich gleich wieder ihrer Arbeit zu. Kalaphates ist gerade unten und bewirtet einen Diözesan. Maria wedelt mit den Armen und wischt verschiedene Dinge vom Tisch. Garn entrollt sich zwischen ihren Füßen.

«Ist da Rauch?»

«Nein, da ist kein Rauch, Schwester. Komm.»

Anna führt sie die Steinstufen in ihre Kammer hinunter und betet, heilige Koralia, hilf mir, besser zu werden, die Stiche zu lernen, hilf mir, alles in Ordnung zu bringen. Es dauert eine Stunde, bis Maria wieder die Hand vor ihren Augen sieht. Beim Abendessen versuchen sich die Frauen an verschiedenen Diagnosen. Ein Blasenkrampf? Ein Viertagefieber? Eudokia bietet einen Talisman an. Agata empfiehlt einen Bocksdorn- und Betonientee. Was die Stickerinnen nicht auszusprechen wagen, ist ihr Glaube, dass Licinius’ Manuskript einen dunklen Zauber ausübt – dass es trotz seiner Zerstörung die Schwestern immer noch mit Unglück überzieht.

Was für eine Hexerei ist das?

Du füllst deinen Kopf mit nutzlosen Dingen.

Nach dem Abendgebet kommt Witwe Theodora mit einer Schale voller glimmender Kräuter in ihre Kammer, setzt sich neben Maria und verschränkt ihre langen Beine unter sich. «Vor langer Zeit», sagt sie, «kannte ich einen Kalkbrenner, dem immer wieder das Augenlicht erlosch. Mit der Zeit wurde seine Welt finster wie die Hölle, und kein Arzt nah und fern konnte ihm helfen. Aber seine Frau setzte ihren Glauben in Gott, kratzte an Silber zusammen, so viel sie konnte, und brachte ihn durchs gottgeschützte Tor Silivri zum Schrein der Muttergottes von der lebensspendenden Quelle, wo ihn die Schwestern vom heiligen Wasser trinken ließen. Und als der Kalkbrenner zurückkam …»

Theodora zeichnet ein Kreuz in die Luft, erinnert sich, und der Rauch treibt von Wand zu Wand.

«Was?», flüstert Anna. «Was war mit dem Kalkbrenner, als er zurückkam?»

«Er sah die Möwen am Himmel, die Schiffe auf dem Meer und die Bienen in den Blumen. Und wenn die Leute ihn erblickten, bis ans Ende seiner Tage, redeten sie von diesem Wunder.»

Maria sitzt auf der Pritsche, die Hände im Schoß wie leblose Sperlinge.

Anna fragt: «Wie viel Silber?»

Einen Monat später bleibt sie in einer Gasse unter der Mauer des Klosters St. Theophanu stehen. Sieht sich um, lauscht und klettert in die Höhe. Oben drückt sie sich durch ein Eisengitter und springt hinunter auf das Dach des Vorratsraums, es ist nicht tief. Einen Moment lang rührt sie sich nicht und lauscht wieder.

Rauch steigt aus der Küche auf, leiser Gesang dringt aus der Kapelle herüber. Sie denkt an Maria, die in diesem Moment auf ihrer Pritsche sitzt und mit halb zusammengekniffenen Augen versucht, eine Girlande aufzuknüpfen, die Anna heute zu sticken versucht hat. In der zunehmenden Dunkelheit sieht sie aufs Neue, wie Kalaphates Maria an den Haaren zieht, sie den Korridor hinunterzerrt, wie ihr Kopf an die Stufe schlägt, und als wäre es Annas eigener Kopf, blitzen Funken vor ihren Augen auf.

Sie lässt sich vom Dach herunter, schleicht in den Stall und packt eine Henne. Das Tier protestiert kurz, aber Anna bricht ihr das Genick und schiebt sie sich unter das Kleid. Zurück geht es aufs Dach des Vorratsraums, zurück durch das Eisengitter und am Efeu hinunter in die Gasse.

Während der letzten Wochen hat sie auf dem Markt vier gestohlene Hühner verkauft, für sechs Kupfermünzen, was jedoch kaum ausreicht, um ihrer Schwester einen Segen im Heiligtum der Muttergottes von der lebensspendenden Quelle zu kaufen. Kaum, dass ihre Füße den Boden berühren, eilt sie die Gasse hinunter, die Klostermauer links neben sich, zurück zur Straße, auf der ein stetiger Strom Männer und Tiere im Dämmerlicht unterwegs ist. Den Kopf gesenkt, einen Arm über der Henne, läuft sie zum Markt, unsichtbar wie ein Schatten. Dann legt sich eine Hand auf ihren Rücken.

Es ist ein Junge, nicht älter als sie. Glubschaugen, große Hände, barfuß und so mager, dass er nur aus Augen zu bestehen scheint. Sie kennt ihn: Er ist der Neffe eines Fischers und heißt Himerius. Er ist von der Sorte, über die Chryse, die Köchin, sagen würde, schlimmer als ein eiternder Zahn und zu nichts nutze, da kann man genauso gut einem toten Gaul Psalmen vorsingen. Ein dicker Haarwuschel liegt ihm auf der Stirn, aus dem Bund seiner knielangen Hose ragt der Griff eines Messers hervor, und er lächelt das Lächeln von einem, der die Oberhand hat.

«Du bestiehlst die Dienerinnen Gottes?»

Ihr Herz klopft so laut, dass sie sich wundert, dass die Passanten es nicht hören können. Das Tor zum Kloster St. Theophanu ist noch zu sehen. Er könnte sie dort hinzerren, sie anschwärzen, sie dazu zwingen zu zeigen, was sie unter dem Kleid hat. Sie hat schon Diebe am Galgen hängen sehen: Im letzten Herbst erst haben sie drei wie Metzen angezogen und rückwärts auf einem Esel sitzend zu den Galgen auf dem Amastrianum gebracht. Der Jüngste von ihnen kann nicht viel älter als Anna gewesen sein.

Würde man sie aufhängen, weil sie ein Huhn gestohlen hat? Der Junge sieht zur Gasse hinüber, aus der sie gerade gekommen ist, und überlegt. «Kennst du die Propstei auf dem Felsen?»

Sie nickt argwöhnisch. Die Propstei ist eine Ruine am Rand der Stadt, in der Nähe des Hafens von Sophia, ein verbotener Ort, der an drei Seiten von Wasser umgeben ist. Vor Jahrhunderten war sie womöglich einmal ein einladendes Kloster, mittlerweile jedoch ist sie ein furchterregendes verlassenes Überbleibsel aus einer alten Zeit. Die Jungen vom Vierten Hügel sagen, dass dort Seelen fressende Gespenster umgehen, die ihren Meister auf einem Thron aus Knochen von Raum zu Raum tragen.

Zwei in Brokat und reichlich Parfüm gehüllte Kastilier reiten vorbei, und der Junge verbeugt sich leicht, während er ihnen Platz macht. «Ich habe gehört», sagt er, «dass es in der Propstei viele sehr alte Dinge gibt: Elfenbeinbecher, saphirbesetzte Handschuhe und Löwenfelle. Ich habe gehört, der Patriarch besaß leuchtende Splitter des Heiligen Geistes in goldenen Gefäßen.» Die Glocken von einem Dutzend Basiliken beginnen zu läuten, und er blickt über ihren Kopf hinweg und hat ein Glänzen in den Augen, als sähe er Edelsteine dort oben in der Nacht funkeln. «Es sind Fremde in der Stadt, die viel zahlen für alte Dinge. Ich rudere uns zur Propstei, du kletterst hinein, füllst einen Sack, und wir verkaufen, was immer du findest. Triff mich beim Turm des Belasarius, wenn das nächste Mal am Abend Rauch vom Meer heraufzieht. Oder ich sage den heiligen Schwestern, welcher Fuchs ihre Hühner stiehlt.»

Rauch vom Meer: Er meint Nebel. Jeden Nachmittag sieht sie aus dem Fenster des Arbeitsraums, doch das Herbstwetter hält, der Himmel ist frisch, herzzerreißend blau, die Luft ist klar genug, sagt Chryse, um Jesus ins Schlafzimmer zu gucken. Aus den schmalen Gassen zwischen den Häusern erhascht Anna manchmal einen Blick auf die ferne Propstei, ihren eingefallenen Turm, die hohen Mauern, die zugemauerten Fenster. Es ist eine Ruine. Saphirbesetzte Handschuhe, Löwenfelle – Himerius ist ein Narr, und nur eine Närrin würde ihm glauben. Aber unter allen Ängsten regt sich auch etwas Hoffnung. Als wünschte etwas in ihr, dass der Nebel bald käme.

Eines Nachmittags ist es so weit: Eine riesige Masse Weiß wälzt sich in der Dämmerung über die Propontis heran, dicht, kühl, stumm, und erfüllt die Stadt. Aus dem Fenster sieht sie, wie die Kuppel der Apostelkirche verschwindet, dann die Mauer von St. Theophanu, dann der Hof unten.

Nach Einbruch der Dunkelheit, nach dem Abendgebet, kriecht sie unter der Decke hervor, die sie sich mit Maria teilt, und schlüpft zur Tür.

«Gehst du weg?»

«Nur zur Toilette. Schlaf, Schwester.»

Den Korridor hinunter, seitlich über den Hof, um den Wachmann zu umgehen, und ins Netz der Straßen. Der Nebel löst Mauern auf, mischt Geräusche neu und macht Menschen zu Schatten. Sie beeilt sich und versucht, nicht an die nächtlichen Schrecken zu denken, vor denen sie gewarnt worden ist: umherziehende Hexen, durch die Luft treibende Krankheiten, gefährlichen Atem, Schurken und Banditen, die Hunde der Nacht, die in den Schatten lauern. Sie hastet an den Häusern von Metallbauern, Fellhändlern und Schuhmachern vorbei, alle eingenistet hinter Gittertüren, alle ihrem Gott gehorchend. Sie läuft die steilen Wege zum Turm hinunter, wartet und zittert. Mondlicht ergießt sich wie Milch in den Nebel.

Erleichtert und enttäuscht zugleich denkt sie, dass Himerius seinen Plan aufgegeben haben muss, doch da tritt er aus den Schatten. Über der rechten Schulter trägt er ein Seil, in der rechten Hand einen Sack und führt sie ohne ein Wort zu einem Tor für die Fischer, über den Kiesstrand und vorbei an einem Dutzend umgedrehter Boote zu einem auf die Steine heraufgezogenen Ruderboot.

Es ist so oft geflickt worden, das Holz sieht so vermodert aus, dass man es kaum ein Boot nennen kann. Himerius legt Seil und Sack hinein und zieht das Boot ins Wasser, das ihm fast bis an die Knie reicht.

«Das geht nicht unter?»

Er wirkt beleidigt. Sie klettert hinein, er schiebt das Boot weiter, bis es frei ist, und schwingt sich gekonnt mit hinein. Himerius schiebt die Ruder in die Halterungen und wartet einen Moment, es tropft und tropft von den Ruderblättern, ein Kormoran fliegt über die beiden hinweg – Junge und Mädchen sehen ihn aus dem Nebel auftauchen und wieder in ihm verschwinden.

Sie gräbt die Fingernägel in das Brett, auf dem sie sitzt, während er hinaus in den Hafen rudert. Ein vor Anker liegender Segler taucht plötzlich sehr nah bei ihnen aus dem Nebel auf, schmutzig, voller Muscheln und riesig, die Reling ist unmöglich hoch, schwarzes Wasser leckt an seinem Rumpf und der mit Tang und Gräsern bedeckten Ankerkette. Sie hatte sich so ein Schiff immer flink und majestätisch vorgestellt, so aus der Nähe sorgt es dafür, dass ihr die Haare zu Berge stehen.

Sie rechnet damit, dass sie jeden Moment jemand stoppt, aber nein. Sie erreichen die Mole, Himerius zieht die Ruder ein und hängt zwei Schnüre über das Heck. «Wenn jemand fragt», flüstert er, «angeln wir», und er ruckt an einer der Schnüre, als wollte er es beweisen.

Das Boot wackelt, und die Luft riecht nach Meeresfrüchten. Auf der anderen Seite der Mole schlagen Wellen gegen die Felsen. Weiter war sie noch nie von zu Hause entfernt.

Zwischendurch beugt sich der Junge immer wieder vor, um mit einem Krug Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Hinter ihnen verlieren sich die hohen Türme des Portus Palatii im Nebel, und dann sind da nur noch das Rauschen der Wellen und das Knarzen der Ruder, die sich in ihre Angst und ihr Hochgefühl mischen.

Als sie zur Öffnung in der Mole kommen, deutet der Junge mit dem Kinn auf die wogende Schwärze draußen. «Je nach den Gezeiten gibt es hier eine Strömung, die dich geradewegs hinaus aufs Meer trägt.» Sie rudern noch ein Stück weiter, und er dreht die Ruderblätter und gibt ihr den Sack und das Seil. Der Nebel ist so dicht, dass sie die Mauer erst nicht sieht, als sie dann aber endlich auftaucht, scheint sie das älteste, müdeste Gemäuer dieser Welt zu sein.

Das Boot hebt und senkt sich mit jeder Welle, und irgendwo in der Stadt, am anderen Ende der Welt, schlägt eine Glocke. Aus den Katakomben ihres Geistes sickern Schreckensbilder: blinde Gespenster, ein Dämonenmeister auf seinem Knochenthron, die Lippen dunkel wie Kinderblut.

«Da, fast ganz oben», flüstert Himerius, «kannst du die Wasserspeier sehen?»

Sie sieht nur ein hoch aufragendes, brüchiges Gemäuer, das da, wo es aus dem Wasser wächst, verfärbt ist, voller Algen, Tang und was immer und so hoch in den Nebel hinaufreicht, als nähme es kein Ende.

«Wenn du einen von ihnen erreichst, solltest du hineinkriechen können.»

«Und dann?»

In der Dunkelheit scheinen seine enorm großen Augäpfel zu leuchten.

«Füllst du den Sack und lässt ihn zu mir herunter.»

Himerius hält den Bug so nahe an der Mauer wie nur möglich. Anna sieht in die Höhe und zittert.

«Es ist ein gutes Seil», sagt er, als wäre das ihr Bedenken. Eine einzelne Fledermaus zieht einen Kreis über dem Boot und verschwindet. Ohne sie hätte Maria gesunde Augen. Maria könnte Witwe Theodoras fähigste Stickerin sein, und Gott würde mit einem Lächeln auf sie herabsehen. Es ist Anna, die nicht still sitzen kann, die nichts lernt, die alles so schlimm gemacht hat. Sie blickt auf das dunkle, glasige Wasser und stellt sich vor, wie es sich über ihrem Kopf schließt. Und hätte sie es nicht verdient?

Sie hängt sich Seil und Sack um den Hals und kratzt Buchstaben in die Tafel ihrer Vorstellung: A ist ἄλφα, Β ist βῆτα, Ω ist ὦμέγα. Alpha, Beta, Omega. Ἄστεα sind Städte, νόον heißt Verstand, ἔγνω gelernt. Als sie aufsteht, schaukelt das Boot gefährlich. Indem er erst mit dem einen, dann mit dem anderen Ruder drückt, hält Himerius sie an der Mauer, beim Absenken kratzt es, beim Aufsteigen rumpelt es. Anna packt mit der rechten Hand ein aus einer Spalte wachsendes Büschel Tang und findet einen kleinen Mauervorsprung, um sich auch mit der linken Hand festzuhalten, schwingt einen Fuß aus dem Boot und bringt ihren Körper an die Mauer. Das Boot sinkt unter ihr weg.

Sie klammert sich an die Steine, während Himerius mit dem Boot auf Abstand geht. Unter ihr ist nur noch das schwarze Wasser, und die heilige Koralia allein weiß, wie tief und kalt es ist und was für Schrecken darin lauern. Es gibt für sie nur den Weg nach oben.

Die Maurer und die Zeit haben hier und da Backsteine hervortreten lassen, und es ist nicht schwierig, Halt zu finden. Trotz ihrer Angst geht Anna bald schon im Rhythmus des Kletterns auf. Ein Halt für die eine Hand, einer für die andere, einer für den einen Fuß, einer für den anderen. Schnell löscht der Nebel Himerius und das Wasser unter ihr aus, und es ist, als kletterte sie eine Leiter in die Wolken hinauf. Zu wenig Angst, und du passt nicht genug auf, zu viel Angst, und du erstarrst. Sich strecken, festhalten, die Füße hoch, sich hochdrücken, strecken. Da ist kein Platz im Kopf für etwas anderes.

Seil und Sack um den Hals, steigt Anna durch die Formationen des verwitternden Steins, vom ersten Kaiser bis zum letzten, dann kommen die Wasserspeier, von denen Himerius gesprochen hat, Löwenköpfe allesamt, jeder so groß wie sie selbst. Sie schafft es, sich zu einem hochzuziehen und durch sein offenes Maul zu schieben. Kaum, dass sie Halt unter den Knien spürt, dreht sie die Schultern und kriecht durch eine Wanne voll Matsch.

Nass und verdreckt lässt sie sich in einen Raum hinab, der einmal ein Festsaal gewesen sein mag. Irgendwo vor ihr scharren Ratten im Dunkel.

Bleib stehen. Lausche. Viel von der Holzdecke ist eingefallen, und im nebelverhangenen Mondlicht kann sie einen mit allerlei Trümmern bedeckten Tisch ausmachen, der so lang ist wie Kalaphates’ Werkstatt, mitten durch den Raum führt und einen ganzen Farngarten auf sich trägt. An einer Wand hängt ein vom Regen verdorbener Teppich, und als sie ihn berührt, flattern unsichtbare Dinge dahinter tiefer in den Schatten. Ihre Finger stoßen auf eine eiserne Halterung in der Wand, die stark verkrustet ist. Könnte die was wert sein? Himerius hat Visionen von vergessenen Schätzen beschworen und Anna dazu gebracht, sich in ihrer Fantasie den Palast des tapferen Alkinoos auszumalen, aber das hier ist kaum eine Schatzkammer. Alles scheint vom Wetter und von der Zeit zerfressen. Es ist ein Reich der Ratten, und was für ein Meister hier auch jemals herumgetragen worden ist, er muss seit dreihundert Jahren tot sein.

Rechts von Anna scheint es steil in die Tiefe zu gehen, doch dann sieht sie, dass es eine Treppe ist. Sie tastet sich an der Wand entlang, Stufe um Stufe weiter nach oben. Die Treppe ändert die Richtung, gabelt sich und gabelt sich wieder. Sie betritt einen dritten Gang und findet links und rechts kleine Räume wie Mönchszellen. Da liegt ein Haufen, es könnten Knochen sein, getrocknetes Laub raschelt, ein Spalt im Boden wartet darauf, sie zu verschlucken.

Sie dreht sich um, stolpert voran, und im geisterhaften Licht vermischen sich Raum und Zeit. Wie weit ist sie vom Saal mit dem langen Tisch entfernt? Wie lange ist sie schon hier? Ist Maria eingeschlafen, oder liegt sie wach, sorgt sich und wartet darauf, dass Anna von der Toilette zurückkommt? Wartet Himerius noch, ist sein Seil lang genug, oder sind er und sein altersschwaches Boot längst vom Meer verschlungen worden?

Ihre Kraft lässt nach. Sie riskiert hier alles für nichts. Bald werden die Hähne krähen, die Frühandachten beginnen, und Witwe Theodora macht die Augen auf, greift nach ihrem Rosenkranz und senkt die Knie auf den kalten Steinfußboden.

Anna tastet sich zur Treppe zurück und stößt auf eine kleine hölzerne Tür. Sie drückt sie auf und gelangt in einen runden Raum. Durch ein Loch in der Decke kann sie den Himmel sehen, es riecht nach nasser Erde, nach Moos und Zeit. Und noch nach etwas anderem.

Pergament.

Der intakte Teil der Decke ist glatt und ungeschmückt, und es ist, als wäre sie in die Hirnöffnung eines großen durchstochenen Schädels gelangt. An den Wänden der Kammer und im nebelverhangenen Mondlicht kaum sichtbar, reichen türlose Schränke vom Boden bis zur Decke. Einige sind voller Schmutz und Moos, aber andere stehen voller Bücher.

Ihr stockt der Atem. Da liegt ein Haufen verrottendes Papier, da eine zerfallende Schriftrolle, da ein Stapel regennasser Kodizes. Sie hört die Stimme von Licinius: Aber auch Bücher sterben, wie Menschen.

Sie füllt ihren Sack mit einem Dutzend Manuskripte, so viele, wie hineinpassen, schleppt ihn zurück zur Treppe, den Gang hinunter und hofft, die richtigen Abzweigungen zu nehmen. Als sie in den Saal mit dem Wandteppich zurückkommt, bindet sie den Sack mit dem Seilende zu, klettert auf einen Schutthaufen und kriecht durch einen der Wasserspeier, ihre Beute vor sich her schiebend.

Das stramm gespannte Seil macht ein knarrendes Geräusch, als sie den Sack an der Mauer herunterlässt. Und als sie schon denkt, er ist weg, er lässt mich hier sterben, taucht Himerius mit seinem Boot unten an der Mauer auf, in Nebel gehüllt und viel kleiner, als sie es erwartet hat. Das Seil entspannt sich, das Gewicht ist weg, und sie lässt ihr Ende nach unten fallen.

Jetzt der Abstieg. Nach unten und an ihren Füßen vorbeizusehen, droht ihr den Magen umzudrehen, und so blickt sie vornehmlich auf ihre Hände, dann die Zehen und arbeitet sich durch Efeu, Kapern und Büschel wilden Thymians, und dann berührt ihr linker Fuß die Ruderbank, der rechte, und sie ist zurück im Boot.

Ihre Fingerspitzen sind zerkratzt, ihr Kleid ist verdreckt, sie ist mit den Nerven am Ende. «Du warst zu lange weg», zischt Himerius. «War da Gold? Was hast du gefunden?»

Der Saum der Nacht lüftet sich bereits, als sie durch die Öffnung der Mole in den Hafen kommen. Himerius reißt so fest an den Rudern, dass sie Angst hat, sie könnten brechen, und sie holt ein erstes Manuskript aus dem Sack. Es ist groß und aufgeschwemmt und sie reißt beim Versuch, es aufzublättern, gleich die erste Seite ein. Sie scheint voller kleiner gerader Krakel zu sein. Die nächste sieht genauso aus, Spalte um Spalte voller Striche. Das ganze Buch scheint aus nichts anderem zu bestehen. Quittungen? Eine Art Register? Sie nimmt das zweite Buch, das kleiner ist, aber auch das scheint voller Spalten mit gleichförmigen Zeichen zu sein. Dazu kommen Wasserflecken, und es ist womöglich auch etwas verkohlt.

Was für eine Enttäuschung.

In den Nebel fließt blasses, lavendelfarbenes Licht, und Himerius zieht für einen Moment die Ruder ins Boot, nimmt ihr den zweiten Kodex ab, riecht daran und zieht die Brauen zusammen.

«Was ist das?»

Er hat mit Leopardenfellen gerechnet. Elfenbeinbechern mit eingearbeiteten Edelsteinen. Sie forscht in ihrem Gedächtnis und stößt erneut auf Licinius, seine Lippen sind wie helle Würmer im Nest seines Bartes. «Selbst wenn das, was in ihnen steht, nichts wert ist, die Seiten selbst sind es. Sie können gereinigt und neu verwendet werden …»

Himerius lässt den Kodex zurück in den Sack fallen und tritt mit dem Fuß dagegen. Er ist gereizt und rudert weiter. Der große, vor Anker liegende Segler scheint auf einem Spiegel zu treiben, Himerius zieht das Boot auf den Strand, dreht es um, legt sich das Seil über die eine Schulter, nimmt den Sack über die andere und geht los, Anna hinter sich, wie ein Oger aus einem Kinderreim mit seiner Sklavin.

Sie gehen durch das genuesische Viertel mit seinen schönen großen Häusern, viele mit Glasfenstern, und einige Fassaden sind mit Mosaiken geschmückt. Reich verzierte Sonnenbalkone sehen über die Stadtmauern aufs Goldene Horn hinaus. Am Eingang des venezianischen Viertels stehen gähnend bewaffnete Männer, sie lassen die Kinder vorbeiziehen, ohne ihnen auch nur einen Blick zu schenken.

Sie passieren ein paar Werkstätten und bleiben vor einem Tor stehen. «Wenn du etwas sagst», flüstert Himerius, «nenn mich Bruder. Aber sag besser nichts.»

Ein Diener mit einem Klumpfuß führt sie in einen Hof, wo ein einsamer Feigenbaum um Licht kämpft. Sie lehnen an einer Mauer, Hähne krähen, Hunde bellen, und Anna stellt sich vor, wie die Glöckner hinauf in den Nebel steigen und nach den Seilen greifen, um die Stadt aufzuwecken, wie Wollhändler ihre Türen öffnen, Taschendiebe nach Hause schleichen, Mönche sich den ersten Rutenhieb des Tages verpassen, Krabben unter Booten dösen, Seeschwalben in den Niederungen nach ihrem Frühstück jagen und Chryse, die Köchin, den Herd zum Leben erweckt. Witwe Theodora geht die Steintreppe in den Arbeitsraum hinauf.

Gebenedeiter, schütze uns vor Müßiggang.

Denn wir haben unzählige Male gesündigt.

Fünf graue Steine auf der anderen Seite des Hofes verwandeln sich in Gänse, die aufwachen, mit den Flügeln schlagen, sich strecken und in ihre Richtung schnattern. Bald nimmt der Himmel die Farbe von Mörtel an, und draußen auf der Straße hört man Karren vorbeifahren. Maria wird Witwe Theodora sagen, dass Anna verquollene Augen oder ein Fieber hat. Aber wie lange kann das gehen?

Schließlich öffnet sich eine Tür, und ein schlaftrunkener Italiener in einem Samtmantel mit halblangen Ärmeln sieht Himerius lange genug an, um zu beschließen, dass er unbedeutend ist, und macht die Tür wieder zu. Anna durchforstet im aufkommenden Licht die feuchten Manuskripte. Die Blätter des ersten, das sie hervorholt, sind derart verschimmelt, dass sie keinen einzigen Buchstaben erkennen kann.

Licinius hat von Pergament nur so geschwärmt. Pergament aus der Haut eines Kalbes, das noch vor seiner Geburt aus dem Leib seiner Mutter geschnitten wird. Er sagte, auf Pergament zu schreiben, sei ähnlich, wie die schönste Musik zu hören, doch die Haut, aus der diese Bücher gemacht worden sind, fühlt sich grob und kratzig an und riecht wie eine ranzige Brühe. Himerius hat recht: Das alles wird nichts wert sein.

Eine Dienerin kommt mit einer Schale Milch vorbei, macht kleine Schritte, um nichts zu verschütten, und Anna hat genug Hunger, um den ganzen Hof zu verschlingen. Wieder hat sie versagt. Witwe Theodora wird ihr erneut Stockschläge auf die Fußsohlen geben, Himerius wird sie wegen der Hühner aus dem Kloster anschwärzen und Maria niemals genug Silber für den Schrein der Jungfrau haben. Und wenn Anna am Galgen baumelt, rufen alle: «Halleluja!»

Wie kann ein Leben nur so werden? Ein Leben, in dem sie die Unterwäsche ihrer Schwester aufträgt und ein dreifach geflicktes Kleid darüber, während Männer wie Kalaphates in Samt und Seide herumlaufen, mit einer Reihe Diener, die hinter ihm hertraben? Während Fremde wie die hier Milch, Höfe mit Gänsen und ein anderes Gewand für jeden Festtag haben? Sie spürt, wie sich ein Schrei in ihr sammelt, einer, der Glas zerspringen lässt, als Himerius ihr einen kleineren, angeschlagenen Kodex mit Schnallen um den Einband gibt.

«Was ist das?»

Sie öffnet ihn in der Mitte. Das Altgriechisch, das Licinius sie gelehrt hat, füllt Seite um Seite, Zeile um Zeile. Indien, steht da,

bringt Pferde mit einem Horn hervor, heißt es, und dasselbe Land zieht auch Esel mit einem Horn auf, und aus diesen Hörnern machen sie Trinkgefäße, und wenn jemand ein tödliches Gift hineingibt, und ein anderer trinkt es, wird es ihm nicht schaden.

Und auf der nächsten Seite:

Die Robbe, sagt man mir, würgt geronnene Milch aus dem Magen hervor, damit Epileptiker nicht damit geheilt werden. Auf mein Wort, die Robbe ist in der Tat ein bösartiges Wesen.

«Den», flüstert sie, und ihr Herz schlägt schneller. «Zeig ihnen den.»

Himerius nimmt ihn.

«Halt ihn so. So herum.»

Der Junge reibt sich die großen vorstehenden Augen. Die Schrift ist schön und geübt. Anna sieht einen Satz: Ich habe die Leute sagen hören, dass die Taube unter allen Vögeln der maßvollste und in seinen Geschlechtsbeziehungen zurückhaltendste ist … Ist das eine Abhandlung über Tiere? Aber da ruft der Klumpfuß nach Himerius, und der nimmt Buch und Sack und folgt dem Diener ins Haus.

Die Gänse beobachten sie.

Himerius ist noch keine fünfzig Herzschläge drinnen, als er schon wieder herauskommt.

«Was?»

«Sie wollen mit dir reden.»

Zwei Steintreppen hinauf, vorbei an einem Lagerraum voller Fässer und hinein in einen anderen, weitläufigen Raum, der nach Tinte riecht. Drei große Tische sind mit Kerzen, Federkielen, Tintenfässern, Schreibfedern, Ahlen, Messern, Siegelwachs, Rohrfedern und kleinen Sandsäcken bedeckt, um Pergamente am Platz zu halten. An einer Wand hängen Karten, an einer anderen lehnen Papierrollen, und hier und da liegt Gänsedreck auf den Bodenfliesen, mitunter platt getreten und verschmiert. Um den Tisch in der Mitte herum sitzen drei sauber rasierte Fremde, studieren den Kodex, den sie gefunden hat, und sprechen in ihrer so schnellen Sprache, wie aufgeregte Vögel. Der Dunkelste und Kleinste von ihnen sieht sie einigermaßen ungläubig an. «Der Junge behauptet, du kannst das entziffern?»

«Wir sind nicht so bewandert im Altgriechischen, wie wir es gerne wären», sagt der Mittlere.

Ihr Finger zittert nicht, als sie ihn auf das Pergament senkt. «Die Natur», liest sie,

hat den Igel klug und erfahren darin gemacht, für seine Bedürfnisse zu sorgen. So braucht er Futter, welches für das ganze Jahr reicht, und da er jedes …

Die drei Männer trällern schon wieder wie die Spatzen, und der Kleine bittet sie fortzufahren. Sie kämpft sich durch ein paar weitere Zeilen, merkwürdige Beobachtungen zum Verhalten von Sardellen, dann geht es um eine Kreatur mit dem Namen Krokodilwächter, und der große und bestangezogene der drei Männer stoppt sie, geht zwischen den Schriftrollen, Homiliaren und Schreibutensilien hindurch, bleibt vor einem Schrank stehen und starrt hinein, als sähe er hinaus in eine ferne Landschaft.

Eine Melonenschale unter dem Tisch schäumt vor Ameisen. Anna hat das Gefühl, in einen Teil von Homers Gesang über Odysseus geraten zu sein, so als flüsterten da die Götter hoch auf dem Olymp miteinander, um schließlich durch die Wolken zu langen und über ihr Schicksal zu verfügen. In seinem brüchigen Griechisch fragt der große Mann: «Woher habt ihr das?»

Himerius sagt: «Von einem versteckten Ort, in den nur sehr schwer zu gelangen ist.»

«Einem Kloster?», fragt der große Mann.

Himerius nickt zögernd, und die drei Italiener sehen einander an. Himerius nickt noch etwas mehr, und bald nicken alle.

«Wo im Kloster», sagt der kleine Mann und zieht die anderen Manuskripte aus dem Sack, «habt ihr sie gefunden?»

«In einer Kammer.»

«Einer großen Kammer?»

«Klein bis mittel bis groß», sagt Himerius.

Alle drei Männer fangen auf einmal an zu reden.

«Und gibt es da viele Manuskripte wie dieses?»

«Wie sind sie angeordnet?»

«Auf dem Rücken?»

«Oder auf Stapeln?»

«Wie viele sind es?»

«Wie ist der Raum geschmückt?»

Himerius hebt eine Faust ans Kinn und tut so, als forste er in seiner Erinnerung. Die drei Italiener starren ihn an.

«Der Raum ist nicht groß», sagt Anna. «Und Verzierungen konnte ich keine sehen. Er ist rund und hatte mal Bögen in der Decke. Aber das Dach ist kaputt. Es gibt noch andere Bücher und Rollen in Nischen wie für Kochutensilien.»

Erregung erfasst die drei Männer. Der große Mann fährt mit der Hand in seinen pelzbesetzten Mantel, holt daraus einen Geldbeutel hervor und schüttet Münzen in seine Hand. Anna sieht Golddukaten und Silberstavrata, das Morgenlicht tanzt über den Tisch, und ihr wird plötzlich schwindelig.

«Unser Herr und Meister», sagt der große Italiener, «er hat seine Finger in allem, ihr kennt den Ausdruck? Schifffahrt, Handel, Kirche, Kriegshandwerk. Sein wirkliches Interesse jedoch, seine wahre Liebe, um es so auszudrücken, besteht darin, Manuskripte aus der alten Welt aufzuspüren. Er glaubt, die größten Denker hat es vor tausend Jahren gegeben.»

Der Mann zuckt mit den Schultern. Anna kann den Blick nicht von dem Geld wenden.

«Für den Text über die Tiere», sagt der Mann und gibt Himerius ein Dutzend Münzen. Himerius fällt die Kinnlade herunter, der mittlere Mann nimmt einen Federkiel, schärft ihn mit dem Messer, und der Kleine sagt: «Bringt uns mehr, und wir zahlen euch mehr.»

Als sie den Hof verlassen, ist es ein wunderbarer Morgen. Der Himmel leuchtet rosig, brennt den Nebel weg, und Anna folgt Himerius, der mit langen Schritten ein Viertel großer, schöner Holzhäuser durchmisst, die jetzt umso schöner und größer erscheinen. Die Freude schlägt in ihr Rad, und auf dem ersten Markt kommen sie an einem Stand vorbei, hinter dem ein Mann bereits mit Käse, Honig und Lorbeerblättern gefüllte Kuchen backt. Sie kaufen vier und stopfen sie sich in die Münder. Das Fett rinnt ihnen heiß die Kehle herunter, Himerius zählt ihren Anteil von dem Geld ab, und sie vergräbt die schweren, glänzenden Münzen unter der Schärpe ihres Kleides, eilt durch den Schatten der Kirche der heiligen Barbara und dann über einen zweiten, größeren Markt voller Karren, Stoffe und Öl in breiten Krügen. Ein Messerschleifer baut seinen Schleifstein auf, eine Frau zieht ein Tuch von einem Vogelkäfig, ein Kind hält mehrere Sträuße Oktoberrosen in den Armen, und die breite Straße füllt sich mit Pferden und Eseln, Genuesern und Georgiern, Juden und Pisanern, Diakonen und Nonnen, Geldwechslern, Musikern und Boten. Zwei Spieler würfeln bereits mit Ochsenhorn-Würfeln, ein Notar trägt Dokumente, ein Edelmann bleibt an einem Stand stehen, während ihm ein Diener einen Sonnenschirm hoch über seinen Kopf hält, und wenn Maria Engel kaufen möchte, kann sie es jetzt tun. Sie werden ihr um den Kopf fliegen und mit den Flügeln über die Augen streichen.