Die Straße nach Edirne

Im selben Herbst

Omeir

Fünfzehn Kilometer von zu Hause kommen sie an dem Dorf vorbei, in dem er geboren wurde. Die Karawane hält an der Straße, während einzelne Anwerber zwischen den Häusern herreiten, um mehr Männer und mehr Tiere zum Dienst zu verpflichten. Es regnet ohne Unterlass, und Omeir zittert unter seinem rindsledernen Umhang. Er betrachtet den dahinbrausenden Fluss, voller Geäst, Erde und Schaum, und muss daran denken, wie ihm der Großvater einst erklärt hat, dass noch die kleinsten Rinnsale oben in den Bergen, die man mit einer Hand aufhalten kann, am Ende in den Fluss münden und der Fluss, so schnell und mächtig er sein mag, am Ende nicht mehr ist als ein Tropfen im großen Ozean, der alle Länder dieser Welt umschließt und jeden Traum enthält, der jemals geträumt worden ist.

Die Nacht sickert ins Tal. Wie sollen seine Mutter, Nida und Großvater den Winter überleben? Praktisch all ihre Vorräte sind in den Mägen der Reiter um ihn herum verschwunden, und Baum und Mondlicht ziehen den Großteil des abgelagerten Holzes der Familie hinter sich her und die Hälfte ihrer Gerste. Nur Blatt, Nadel, die Ziege und ein paar Gläser Honig sind ihnen geblieben. Sie hoffen darauf, dass Omeir mit Beute aus dem Krieg heimkehrt.

Mondlicht und Baum stehen geduldig unter ihrem Joch, von den Hörnern tropft es, ihre Rücken dampfen, und der Junge sieht nach, ob sich Steine in ihren Hufen festgesetzt haben oder ihnen das Joch die Schultern verletzt. Er beneidet sie dafür, dass sie allein im Hier und Jetzt leben und keine Angst vor dem haben, was kommen wird.

In jener ersten Nacht kampiert die Truppe auf einem Feld. Mächtige verkarstete Felsen ragen wie Wachtürme längst vergessener Geschlechter auf den Höhen über ihnen auf, und Raben fliegen laut krächzend in Schwärmen über das Lager. Nach Einbruch der Dunkelheit reißen die Wolken auf, und das zerzauste Banner der Milchstraße entfaltet sich über ihnen. An den Feuern um Omeir herum reden die Treiber in zahllosen Dialekten von der Stadt, die sie erobern wollen. Die Königin aller Städte nennen sie ihr Ziel, die Brücke zwischen Ost und West, das Wegkreuz des Universums. Dabei ist sie einmal ein Sündenpfuhl, in dem Heiden Babys essen und mit ihren Müttern kopulieren, dann wieder ein Ort unvorstellbaren Reichtums, wo selbst die Armen Ohrringe aus Gold tragen und die Huren Nachttöpfe benutzen, die mit Edelsteinen besetzt sind. Was Omeir aber vor allem spürt, ist Groll. Jede Verletzung, jeder Kummer, den man haben kann, wird der Stadt und ihren ketzerischen Bewohnern angelastet.

Ein alter Mann sagt, er habe gehört, die Stadt sei von riesigen, unüberwindbaren Mauern umgeben, und alle verstummen einen Moment lang, bis ein junger Ochsenhirte namens Maher sagt: «Aber die Frauen. Selbst einer, der so hässlich ist wie der, bringt da seinen Schwanz unter.» Er zeigt auf Omeir, und alle lachen.

Omeir verschwindet in der Dunkelheit und geht zu Mondlicht und Baum, die am anderen Ende des Feldes grasen. Er reibt ihnen die Flanken und sagt, sie müssen keine Angst haben, aber es ist nicht klar, ob er die Tiere oder sich selbst zu beruhigen versucht.

Am nächsten Morgen führt der Weg steil hinunter in eine dunkle Sandsteinschlucht, und die Wagen stauen sich vor einer Brücke. Die Reiter steigen von ihren Pferden, die Treiber schreien und schlagen die Tiere mit Peitschen und Ruten, und Baum und Mondlicht leeren beide vor Angst ihr Gedärm.

Ein fürchterliches Geblöke kommt unter den Tieren auf, und Omeir redet seinen Ochsen gut zu. Als sie die Brücke erreichen, sieht er, dass sie keine Randbegrenzung hat, sondern nur aus entrindeten, von Ketten zusammengehaltenen Stämmen besteht. Nackte Felswände, auf denen hier und da einzelne Bäume Halt gefunden haben, führen fast senkrecht in die Höhe, und tief unter der groben Brücke tost der Fluss, rasend schnell und weiß schäumend.

Zwei Maultierkarren erreichen die andere Seite, und Omeir dreht sich um, sieht seine Ochsen an und tritt rückwärts über die Leere. Die Holzstämme sind voller Dung und glitschig, und durch die Lücken zwischen ihnen, unter seinen Stiefeln, kann er das Wasser über die Felsen spritzen sehen.

Baum und Mondlicht treten schwerfällig vor. Die Brücke ist kaum breiter als die Achse des Karrens. Sie schaffen eine Umdrehung, zwei, drei, vier. Dann rutscht das Rad auf Baums Seite ab. Der Karren gerät in Schieflage, und die Ochsen bleiben stehen. Feuerholz verliert den Halt und stürzt in die Tiefe. Der Fluss ist so laut, dass Omeir nicht hören kann, wie es ins Wasser kracht.

Mondlicht spreizt die Beine, er hält jetzt den Großteil des Gewichts allein und wartet auf seinen Bruder, aber Baum ist starr vor Angst, er verdreht die Augen, und um sie herum hallen Schreie und Gebrüll von den Felsen wider.

Omeir schluckt. Wenn die Achse noch weiter rutscht, wird das Gewicht den Karren von der Brücke ziehen und die Ochsen ebenfalls.

«Zieht, Jungs, zieht!» Die Ochsen rühren sich nicht. Nebel steigt von den Stromschnellen unter ihnen auf, kleine Vögel fliegen von Fels zu Fels, und Baum schnauft, als wollte er die gesamte Szenerie durch seine Nasenlöcher in sich aufsaugen. Omeir fährt mit der Hand über Baums Schnauze und streichelt ihm den langen braunen Kopf. Baums Ohren zucken, und seine starken Vorderbeine zittern vor Anstrengung, vor Angst oder beidem.

Der Junge spürt, wie die Schwerkraft an ihren Körpern zerrt, am Karren, der Brücke, dem Wasser tief unten. Wäre er nie geboren worden, würde sein Vater noch leben. Seine Mutter würde noch im Dorf wohnen. Sie könnte mit anderen Frauen reden, mit ihrem Honig handeln, sich austauschen. Vielleicht lebten auch seine älteren Schwestern noch.

Sieh nicht nach unten. Atme. Zeig den Ochsen, dass du ihnen immer helfen kannst. Wenn du ruhig bleibst, tun sie es auch. Die Stiefel nur noch halb auf dem Holz, duckt sich Omeir unter Mondlichts Hörnern durch und schiebt sich an seine Flanke. Er spricht ihm direkt ins Ohr: «Komm, Bruder, zieh voran. Tu es für mich, dann folgt dir dein Zwilling.» Der Ochse neigt die Hörner zur Seite, als überdenke er die Bitte des Jungen, Brücke, Felsen und Himmel spiegeln sich in der Rundung seines großen, nassen Auges, und als Omeir schon glaubt, alles sei verloren, lehnt sich Mondlicht ins Joch, Omeir sieht, wie die Adern in seiner Brust hervortreten, und er zieht das Rad zurück auf die Brücke.

«Guter Junge. Ruhig jetzt, so geht es.»

Mondlicht geht voran, Baum folgt ihm, stellt auf den glatten Holzstämmen einen Fuß vor den anderen. Omeir packt das Ende des Karrens, als es ihn erreicht, und ein paar Herzschläge später sind sie auf der anderen Seite.

Nun öffnet sich die Schlucht, aus den Bergen werden Hügel, die Hügellandschaft wird zur Ebene, und aus den verschlammten Reitwegen werden richtige Straßen. Mondlicht und Baum bewegen sich leichtfüßig voran, ihre Hüftknochen heben und senken sich, sie sind froh, auf sicherem Grund zu sein. In jedem Dorf, durch das sie kommen, rekrutieren sie mehr Männer und Tiere. Ihr Versprechen ist immer das gleiche: Der Sultan (Gott sei ihm wohlgesinnt) ruft euch zur Hauptstadt, wo er seine Truppen zusammenzieht, um die Königin aller Städte einzunehmen, deren Straßen übervoll mit Edelsteinen, Seidenstoffen, Mädchen und Frauen sind. Ihr könnt euch nehmen, was ihr wollt.

Dreizehn Tage, nachdem sie von zu Hause aufgebrochen sind, erreichen Omeir und seine Ochsen Edirne. Überall schimmern Berge entrindeter Baumstämme, die Luft riecht nach Sägemehl, Kinder laufen die Straßen entlang und verkaufen Brot und Milch oder starren einfach nur die vorbeirumpelnde Karawane an. Als es dunkel ist, kommen laut schreiende Männer auf Ponys heran und teilen die Tiere im Licht der Fackeln ein.

Omeir, Baum und Mondlicht werden mit den größten und stärksten Tieren auf ein baumloses Feld außerhalb der Hauptstadt geführt. An einem Ende leuchtet ein Zelt, das größer ist als alles, was er sich je hat vorstellen können – ein ganzer Wald könnte darin Platz finden. Drinnen arbeiten Männer bei Fackellicht, entladen Wagen, heben Gräben und eine Gussgrube aus, groß wie das Grab eines Riesen. In der Grube liegen identische zylindrische Tonformen, eine in der anderen, jede zehn Meter lang.

Jede helle Stunde des Tages zieht Omeir mit seinen Ochsen zu einer anderthalb Kilometer entfernten Holzkohlengrube, und sie bringen Wagenladung um Wagenladung in das so große Zelt. Je mehr Holzkohle gebracht wird, desto heißer wird es im Zelt, und die Tiere schrecken vor der Hitze zurück. Männer entladen die Karren, Metallgießer schaufeln die Kohle in Öfen, Gruppen von Mullahs beten, und Dreiertrupps, triefnass vor Schweiß, pumpen mit riesigen Blasebälgen Luft in die Öfen. Hört das Singen zwischendurch einmal auf, kann Omeir die Feuer brennen hören: Es klingt, als würde dort im Zelt etwas Riesiges kauen, kauen, kauen.

Am Abend nähert er sich den Treibern, die sein Gesicht tolerieren, und fragt, wofür man sie hierher gebracht hat. Einer sagt, er hat gehört, der Sultan lässt einen eisernen Propeller gießen, aber er weiß nicht, wofür er gut sein soll. Ein anderer ruft, es wird ein Donnerkatapult, ein Zweiter ein Folterwerkzeug, ein Dritter ein Städtezerstörer.

«In dem Zelt», erklärt ein graubärtiger Mann mit goldenen Ringen in den Ohrläppchen, «baut der Sultan einen Apparat, der die Geschichte für immer verändern wird.»

«Wozu ist er da?»

«Der Apparat», sagt der Mann, «bietet einem kleinen Ding die Möglichkeit, ein viel größeres zu zerstören.»

Weitere Ochsengespanne kommen an, mit Wagen voller Zinn, Kisten voller Eisen, sogar Kirchenglocken, flüstern die Fuhrmänner, die über Hunderte Kilometer hinweg aus geplünderten christlichen Städten hergeschleppt worden sind. Die ganze Welt, so scheint es, leistet ihren Beitrag: Kupfermünzen, bronzene Sargdeckel von seit Jahrhunderten vergessenen Edelmännern. Der Sultan selbst, hört Omeir, fügt den Reichtum einer ganzen Nation hinzu, die er im Osten erobert hat, genug, um fünftausend Mann in fünftausend Leben reich zu machen, aber auch das wird mit hineingeworfen – das Gold und das Silber werden ebenfalls Teil des riesigen Apparates.

Der Rücken ist kalt, von vorn kommt es heiß, und der Stoff des Zeltes verschwimmt hinter flimmernder Luft. Omeir sieht gebannt zu, wie die Gießer, Hände und Arme in Rindleder-Handschuhen, sich dem flackernden Inferno nähern, das die Augen tränen lässt, auf Gerüste klettern, Messingstücke in den riesigen Schmelztiegel werfen und Schlacke abschöpfen. Einige prüfen das Schmelzmetall auf Feuchtigkeit, andere beobachten den Himmel, und wieder andere beten besondere aufs Wetter gemünzte Gebete. Der kleinste Regentropfen, flüstert ein Mann neben Omeir, könnte den gesamten Schmelztiegel mit allen Feuern der Hölle zischen und bersten lassen.

Als es Zeit ist, dem geschmolzenen Messing Zinn hinzuzufügen, treiben Soldaten mit Turbanen alle hinaus. Während dieses heiklen Moments, sagen sie, darf niemand mit unreinen Augen das Metall ansehen, nur die Gesegneten dürfen hinein. Die Zugänge zum Zelt werden geschlossen und zugebunden, und Omeir wacht in der Nacht auf und sieht ein Leuchten, das am anderen Ende des Feldes aufsteigt. Es ist, als würde die Erde unter dem Zelt glühen, als würde da eine ungeheure Kraft tief aus ihrem Mittelpunkt heraufgesogen.

Mondlicht liegt auf der Seite und presst sein Ohr an Omeirs Schulter, und der Junge rollt sich im nassen Gras zusammen. Baum steht an der Seite, dem Zelt den Rücken zugewandt, ganz so, als langweilte ihn der lächerliche Fanatismus der Männer.

Großvater, denkt Omeir, ich habe jetzt schon Dinge gesehen, die ich mir selbst im Traum nicht hätte vorstellen können.

Noch zwei weitere Tage leuchtet das riesige Zelt, Funken fliegen aus den Kaminöffnungen, und das Wetter bleibt gut. Am dritten Tag leiten die Gießer die flüssige Legierung aus dem Schmelztiegel durch Kanäle in die Formen unter der Erde. Männer bewegen sich an den Strömen dahinfließender Bronze auf und ab und durchstechen Blasen mit eisernen Stäben, während andere nassen Sand in die Gussgrube schaufeln. Das Zelt wird abgebaut, und Mullahs lösen sich dabei ab, neben den Erdhügeln zu beten, die nach und nach abkühlen.

Bei Tagesanbruch fangen sie an, die Hügel wieder abzutragen, brechen die Formen auf und schicken Tunnelgräber in die Tiefe, um Ketten unter dem Apparat durchzuziehen. Die Ketten werden mit Seilen verbunden, und die Haupttreiber sammeln Ochsen in Zehnertrupps, um den Stadtzerstörer aus der Grube zu ziehen.

Baum und Mondlicht sind im zweiten Trupp. Der Befehl erfolgt, und die Tiere werden angetrieben. Seile und Joche ächzen und knarzen, die Ochsen treten auf der Stelle und verwandeln die Erde in ein Meer aus Matsch.

«Zieht, Jungs, mit aller Kraft», ruft Omeir. Der gesamte Trupp gräbt die Hufe noch tiefer in die Erde. Es wird noch eine sechste Kette, ein sechstes Seil, eine sechste Zehnertruppe hinzugefügt. Omeir prüft zum wiederholten Mal Mondlichts und Baums Geschirr. Mittlerweile wird es fast Abend, und die Ochsen stehen keuchend in den letzten Sonnenstrahlen. Mit einem scharfen Schrei füllt sich die Luft mit «Hott!» und «Hü!», und sechzig Ochsen beginnen zu ziehen.

Die Tiere legen sich ins Geschirr, werden jedoch von dem unglaublichen Gewicht zurückgehalten, drängen ein weiteres Mal vor, schaffen einen Schritt und noch einen, Treiber schreien, schlagen ihre Tiere, und die Ochsen brüllen vor Angst und Verwirrung.

Die unglaubliche Last ist ein aus der Erde auftauchender Wal. Sie ziehen ihn vielleicht fünfzig Meter vor, bis der Befehl ergeht, stehen zu bleiben. Dampf schießt aus den Nasenlöchern der Tiere, und Omeir überprüft Baums und Mondlichts Geschirr, Joch und Hufe, und schon schwärmen Schaber und Polierer über den Apparat, der im kalten Zwielicht dampft. Die Bronze ist immer noch warm.

Maher verschränkt die dünnen Arme und sagt halb zu sich selbst: «Sie werden eine völlig neue Art Wagen erfinden müssen.»

Es dauert drei Tage, um den Apparat von der Gießerei auf das Erprobungsgelände des Sultans zu ziehen. Dreimal splittern die Speichen des Wagens, und die Radkränze springen ab. Stellmacher sind da und arbeiten Tag und Nacht. Die Last ist so schwer, dass der Wagen mit jeder Stunde, die er still steht, eine weitere Handbreit im Boden versinkt.

Auf einem Feld in Sichtweite des neuen Sultanspalastes wird das riesige runde Rohr des Apparats mit einem Kran auf eine hölzerne Plattform gehievt. Ein improvisierter Basar entsteht: Händler verkaufen Bulgur und Butter, gebratene Drosseln und geräucherte Enten, säckeweise Datteln, Silberhalsbänder und Wollhauben. Überall ist Fuchsfell zu sehen, als wären sämtliche Füchse dieser Welt getötet und zu Umhängen verarbeitet worden. Manche Männer tragen auch schneeweiße Hermelinmäntel, wieder andere welche aus einem feinen Filz, von dem die Regentropfen nur so abtropfen. Omeir kann den Blick von alldem nicht lösen.

Mittags haben sich die Leute auf beiden Seiten des Feldes versammelt. Maher und er klettern in einen Baum am Rand des Versuchsgeländes, damit sie über die versammelten Köpfe hinwegsehen können. Ein Zug geschorener, rot, weiß und mit Ringen bemalter Schafe wird auf die Plattform zugetrieben, ihnen folgen hundert Reiter auf ungesattelten Rappen, denen wiederum Sklaven folgen, die herausragende Momente im Leben des Sultans nachspielen. Maher flüstert, dass irgendwo am Ende des Zuges der Herrscher selbst kommen muss, möge Gott ihn segnen und grüßen, aber Omeir kann nur Bedienstete, Fahnen und Musiker mit Becken und einer so großen Trommel sehen, dass es auf beiden Seiten einen Jungen braucht, um sie zu schlagen.

Das Ächzen von Großvaters Säge, das allgegenwärtige Wiederkäuen der Ochsen, das Meckern der Ziege, das Keuchen der Hunde, das Gurgeln des Baches, das Krächzen der Raben und das Herumhuschen der Mäuse – vor einem Monat noch hätte Omeir gesagt, dass die Schlucht zu Hause übervoll mit Geräuschen sei. Dabei war es verglichen mit dem jetzt nichts als eine große Stille: dem Hämmern, dem Läuten, dem Rufen, den Trompeten, dem Stöhnen der Seile und dem Wiehern der Pferde. Der Lärm ist wie eine einzige Attacke.

Am Nachmittag lassen Trompeter sechs helle Noten erklingen, und alle sehen hinüber zu der großen polierten, auf ihrer Plattform schimmernden Vorrichtung. Ein Mann mit einer roten Kappe kriecht hinein und verschwindet ganz darin, ein zweiter folgt ihm mit einem Stück Schaffell, und Omeir kann kaum hören, wie die beiden da drinnen hantieren. Jemand unten am Fuß des Baumes sagt, dass sie das Pulver in Stellung bringen, wobei Omeir keine Ahnung hat, was das bedeuten soll. Dann kommen die beiden Männer wieder heraus, und eine riesige glatt gemeißelte, polierte Granitkugel wird in die Öffnung bugsiert. Neun Mann rollen sie vor zum Rohr und heben sie hinein.

Das schwere, unheimlich raspelnde Geräusch, mit dem sie das nach hinten geneigte Rohr hinunterrollt, trägt über alle Köpfe bis zu Omeir herüber. Ein Imam spricht ein Gebet, Becken schlagen aufeinander, Trompeten erklingen, und oben auf der Vorrichtung steckt der erste Mann, der mit der roten Kappe, etwas, das wie getrocknetes Gras aussieht, in ein Loch ganz am Ende des Rohres, hält eine brennende Fackel daran und springt hinunter auf die Plattform.

Die Zuschauer verstummen. Die Sonne sinkt unmerklich etwas tiefer, und es ist, als senkte sich eine plötzliche Kühle über die Szenerie. Einmal, in seinem Dorf, sagt Maher, sei ein Fremder auf einer Anhöhe erschienen und habe behauptet, er werde fliegen. Eine Menge versammelte sich und wartete, den ganzen Tag, sagt er, und hin und wieder verkündete der Mann: «Bald schon werde ich fliegen», zeigte auf verschiedene Orte in der Ferne, zu denen er wollte, ging auf und ab und reckte und schüttelte die Arme. Als wirklich viele Leute zusammengekommen waren, so viele, dass nicht alle etwas sehen konnten, und die Sonne fast schon sank, wusste der Mann nicht, was er tun sollte, und so zog er die Hose herunter und zeigte allen seinen nackten Arsch.

Omeir lächelt. Die Leute auf der Plattform versammeln sich erneut um den Apparat, ein paar Schneeflocken fallen vom Himmel, und die Menge tritt, rastlos jetzt, von einem Bein aufs andere. Die Becken erschallen ein drittes Mal, und am Kopf des Feldes, von wo der Sultan womöglich zusieht oder auch nicht, lässt eine Brise Hunderte Pferdeschweife an seinen Fahnen flattern. Omeir lehnt am Stamm des Baumes, versucht sich warmzuhalten, und die beiden Männer von vorhin klettern auf den Bronzezylinder. Der mit der roten Kappe blickt vorn in die Öffnung, und in dem Moment geht die große Kanone los.

Es ist, als würde der Finger Gottes durch die Wolken herunterlangen und den Planeten aus seiner Umlaufbahn bringen. Die tausend Pfund schwere Steinkugel fliegt so schnell, dass man sie nicht mehr sehen kann. Da ist nur das Brüllen ihres Fluges, das die Luft zerreißt, als sie über das Feld rast, und noch bevor er sich ihres Brüllens richtig bewusst wird, zerbirst ein Baum auf der anderen Seite des Feldes.

Einen zweiten Baum knapp einen Kilometer weiter zerfetzt es ebenfalls, scheinbar gleichzeitig, und einen Herzschlag lang fragt Omeir sich, ob die Kugel für immer so weiterschießen wird, über den Horizont hinaus, durch Baum um Baum, Mauer um Mauer, bis sie vom Rand der Welt fällt.

In der Ferne, das müssen gut anderthalb Kilometer sein, spritzen Steine und Erde in alle Richtungen, ganz so, als risse ein unsichtbarer Pflug eine mächtige Rinne in die Erde, und die Detonation dringt ihm bis ins Mark seiner Knochen. Der Applaus der Menge ist weniger Ausdruck eines Triumphes als einer Betäubung.

Die Öffnung der Kanone oben auf ihrer Plattform entlässt etwas Rauch in die Luft. Einer der beiden Schützen steht mit auf die Ohren gepressten Händen da und blickt auf das wenige, was vom Mann mit der roten Kappe noch übrig ist.

Der Wind trägt den Rauch über die Plattform. «Die Angst vor dem Ding», sagt Maher leise mehr zu sich selbst als zu Omeir, «wird mächtiger sein als das Ding selbst.»

Anna

Maria und sie stehen zusammen mit einem Dutzend anderer in der Schlange vor der Kirche der Muttergottes von der lebensspendenden Quelle. Die Gesichter der Nonnen unter ihren Hauben ähneln vertrockneten Disteln, farblos und borstig. Keine von ihnen scheint jünger als hundert Jahre zu sein. Eine lässt sich Annas Silber in eine Schüssel geben, eine Zweite nimmt die Schlüssel und schüttet den Inhalt in eine Öffnung in ihrer Kutte, und eine Dritte winkt sie eine Treppe herunter.

Hier und da liegen die Finger- und Zehenknochen von Heiligen in von Kerzen erleuchteten Reliquiaren. Ganz am Ende, tief unter der Kirche, drängen sie sich an einem groben, dick mit Kerzenwachs überzogenen Altar vorbei in eine Grotte.

Eine Quelle gurgelt, während Annas und Marias Sohlen auf den nassen Steinen dahinschlittern. Eine Äbtissin senkt einen bleiernen Becher in ein Bassin, hebt ihn wieder heraus, schüttet eine gute Menge Quecksilber hinzu und vermischt die Flüssigkeiten.

Anna hält den Becher für ihre Schwester.

«Wie schmeckt es?»

«Kalt.»

Gebete hallen durch die feuchte Luft.

«Hast du alles getrunken?»

«Ja, Schwester.»

Wieder zurück über der Erde besteht die Welt aus Farbe und Wind. Blätter fliegen überallhin, scharren über den Kirchhof, und der Sandstein der Stadtmauern fängt das niedrige Licht ein und leuchtet.

«Kannst du die Wolken sehen?»

Maria wendet das Gesicht zum Himmel. «Ich glaube schon. Ich habe das Gefühl, dass die Welt heller geworden ist.»

«Kannst du die Fahnen über dem Tor flattern sehen?»

«Ja. Ich sehe sie.»

Anna schickt Dankgebete in den Wind. Endlich, denkt sie, habe ich etwas richtig gemacht.

Zwei Tage ist Maria guter Dinge und ruhig, fädelt ihre eigenen Fäden ein und stickt vom Morgengrauen bis zum Abend. Aber am dritten Tag, nachdem sie die heilige Mixtur getrunken hat, kehrt ihr Kopfschmerz zurück, und unsichtbare Kobolde fressen aufs Neue an den Rändern ihres Sichtfeldes. Am Nachmittag steht ihr der Schweiß auf der Stirn, und sie kann ohne Hilfe nicht von der Bank aufstehen.

«Ich muss etwas verschüttet haben», flüstert sie, als Anna ihr die Treppe hinunterhilft. «Habe ich vielleicht nicht genug getrunken?»

Beim Abendessen sind alle in Gedanken versunken. «Wie ich höre», sagte Eudokia schließlich, «hat der Sultan tausend weitere Maurer geholt, um seine Festung fertigzustellen, flussaufwärts vor der Stadt.»

«Und ich habe gehört», sagt Irene, «dass ihnen der Kopf abgeschlagen wird, wenn sie nicht schnell genug arbeiten.»

«Das kennen wir», sagt Helena, doch niemand lacht.

«Wisst ihr, wie er die Festung nennt? In der Sprache der Ungläubigen?» Chryse blickt über ihre Schulter. Ihre Augen leuchten, halb genuss- und halb angstvoll. «Zur durchgeschnittenen Kehle.»

Witwe Theodora sagt, dass diese Art Gespräche den Stickereien nicht guttäten, die Stadtmauern unüberwindbar seien und ihre Tore selbst Barbaren auf Elefanten standgehalten hätten, Persern mit chinesischen Katapulten und auch den Armeen Krums, des Khans des Bulgarenreiches, der Menschenschädel als Weingläser benutzt habe. Vor fünfhundert Jahren, sagt sie, habe eine Barbarenflotte so groß, dass die Schiffe bis zum Horizont reichten, die Stadt fünf Jahre lang belagert, und die Bürger hätten die Sohlen ihrer Schuhe essen müssen, bis schließlich der Kaiser das Kleid der Jungfrau aus der heiligen Kapelle von Blachernae geholt, über die Mauern getragen und ins Meer getunkt habe, worauf die Muttergottes einen Sturm habe aufziehen lassen, der die Flotte auf die Felsen geschmettert habe. Jeder Einzelne der Barbaren sei ertrunken, und die Mauern stünden immer noch.

Die Religion, sagt Theodora, wird unser Brustpanzer sein, der Glaube unser Schwert, und die Frauen verstummen. Die mit Familie gehen nach Hause, während die anderen zurück in ihre Kammern wandern, und Anna steht am Brunnen und füllt die Wasserkrüge. Kalaphates’ Esel frisst an einem spärlichen Haufen Heu. Tauben flattern zwischen den Dachgauben hin und her, die Nacht wird kalt. Vielleicht hat Maria recht, vielleicht hat sie nicht genug von der heiligen Mischung getrunken. Anna denkt an die komischen, begierigen Italiener mit ihren seidenen Wämsern, ihren Samtjacken und tintenbeschmierten Händen.

Und gibt es da viele Manuskripte wie dieses?

Wie sind sie angeordnet?

Auf den Rücken? Oder auf Stapeln?

Als hätte sie sie mit reiner Willenskraft herbeigeholt, treibt eine erste Nebelschwade über das Dach.

Wieder schleicht sie am Wachmann vorbei und läuft die gewundenen Gassen zum Hafen hinunter. Himerius liegt schlafend neben seinem Boot, und als sie ihn weckt, runzelt er die Stirn, als versuchte er verschiedene Mädchen zu einem zusammenzufügen. Schließlich wischt er sich mit seiner Hand über das Gesicht, nickt und pinkelt erst einmal ausführlich an die Felsen, bevor er das Boot ins Wasser zieht.

Sie verstaut Seil und Sack im Bug. Vier Möwen fliegen über sie hinweg und rufen leise. Himerius sieht zu ihnen auf und rudert zur Propstei auf dem Felsen. Dieses Mal ist sie entschlossener. Mit jedem weiteren Meter die Mauer hinauf weicht ihre Angst ein wenig mehr, und bald sind da nur noch die Bewegung ihres Körpers und ihre Erinnerung an die Haltepunkte. Ihre Finger packen die kalten Steine, ihre Beine drücken sie in die Höhe. Sie erreicht den Wasserspeier, kriecht durch das Maul des Löwen und springt in den großen Raum. Geister, lasst mich durch.

Ein Dreiviertel-Mond spendet mehr Licht, das durch den Nebel dringt. Sie findet die Treppe, steigt sie hinauf, entdeckt den Gang und tritt durch die Tür in den runden Raum.

Es ist eine Geisterwelt, tief verstaubt, und kleine Farne wachsen hier und da aus Klumpen nassen Papiers. Alles zerfällt. In einigen Schränken liegen mächtige klösterliche Berichtsbücher, die so schwer sind, dass Anna sie kaum zu heben vermag, in anderen findet sie Bände, deren Seiten durch die Nässe völlig verklebt sind, wieder andere hat der Schimmel zu einer festen Masse werden lassen. Sie füllt den Sack, so voll sie kann, schleppt ihn die Stufen hinab und lässt ihn ins Boot hinunter. Sie hält sich einen Schritt hinter Himerius, der ihre Beute durch die nebligen Straßen zum Haus der Italiener trägt.

Der klumpfüßige Diener gähnt, dass ihm der Kiefer knackt, als er sie in den Hof winkt. Drinnen im Arbeitsraum sitzen die beiden kleineren Schreiber in Sesseln in den Ecken und schlafen tief und fest, aber der größere reibt sich die Hände, als hätte er die ganze Nacht auf sie gewartet. «Kommt, kommt, lasst mich sehen, was ihr Schmutzfinken mir da bringt.» Er leert den Sack auf den Tisch zwischen etliche brennende Kerzen.

Himerius hält die Hände vors Feuer, während Anna verfolgt, wie der Fremde die Manuskripte durchsieht. Urkunden, Testamente, Niederschriften von Reden. Ersuche um Materialanforderungen. Offenbar eine Liste von Personen, die einem lange vergangenen klösterlichen Treffen beigewohnt haben: der Oberdomestik, Seine Exzellenz der stellvertretende Schatzmeister, ein Gastgelehrter aus Thessaloniki, der Vorsteher des kaiserlichen Haushalts.

Der Italiener blättert die Kodizes einen nach dem anderen durch, hält sein Licht einmal so und einmal so, und Anna bemerkt Dinge, die ihr beim ersten Mal nicht aufgefallen sind: Seine Hose ist an einem Knie zerrissen, seine Jacke an den Ellbogen verfärbt, und beide Ärmel sind voller Tintenspritzer. «Das nicht», sagt er, «das nicht», und murmelt etwas in seiner eigenen Sprache. Der Raum riecht nach Eisengallustinte, Pergament, Holzrauch und Rotwein. In einem Spiegel in der Ecke flackern die Kerzen. Jemand hat eine Reihe kleiner Schmetterlinge auf eine Leinentafel gesteckt. Am Tisch in der Ecke kopiert offenbar gerade einer von ihnen so etwas wie eine Schifffahrtskarte. Der Raum ist übervoll mit Kuriositäten und Möglichkeiten.

«Alles wertlos», sagt der Italiener schließlich ziemlich gut gelaunt und legt vier Silbermünzen auf den Tisch. Er blickt sie an. «Kennst du die Geschichte von Noah und seinen Söhnen, Kind? Wie sie ihr Schiff mit allem gefüllt haben, um eine neue Welt zu begründen? Tausend Jahre lang war das hier, diese zerfallende Hauptstadt», er vollführt eine Geste zum Fenster hin, «wie eine Arche. Nur dass der Herrgott statt jeweils zwei Exemplaren jeder Art etwas anderes in seinem Schiff untergebracht hat, und weißt du was?»

Draußen vor den geschlossenen Fensterläden kräht der erste Hahn. Sie spürt, wie es in Himerius am Kamin arbeitet, all seine Aufmerksamkeit gilt dem Silber.

«Bücher.» Der Schreiber lächelt. «Und in unserer Geschichte von Noah und dem Schiff voller Bücher, kannst du da erraten, was die Flut ist?»

Sie schüttelt den Kopf.

«Die Zeit. Tag für Tag, Jahr um Jahr, lässt die Zeit alte Bücher aus der Welt verschwinden. Das Manuskript, das du uns beim letzten Mal gebracht hast? Es wurde von Aelianus verfasst, einem Gelehrten, der zur Zeit der Cäsaren lebte. Damit es uns hier in diesem Raum erreichen konnte, zu dieser Stunde, mussten die Zeilen darin Dutzende von Jahrhunderten überleben. Ein Schreiber musste sie kopieren, und noch einer hatte dann, Jahrzehnte später, die Kopie zu kopieren, von einer Schriftrolle in einen Kodex, und lange, nachdem die Knochen des zweiten Schreibers begraben worden waren, kam ein dritter und kopierte wieder alles, und die ganze Zeit wurde das Buch gejagt. Ein schlecht gelaunter Abt, ein tollpatschiger Bruder, ein einfallender Barbar, eine umkippende Kerze, ein hungriger Wurm – eine kleine Sache reicht, und schon ist verloren, was so viele Jahrhunderte überdauert hat.»

Die Kerzen flackern, seine Augen scheinen alles Licht im Raum in sich aufzunehmen.

«Die Dinge, die in dieser Welt unveränderlich scheinen, mein Kind, Berge, Wohlstand, Kaiserreiche, ihre Beständigkeit ist nichts als eine Illusion. Wir glauben, dass diese Dinge immer weiter bestehen bleiben, doch das liegt nur daran, dass unsere Leben so kurz sind. Aus Gottes Perspektive entstehen und vergehen Städte wie diese wie Ameisenhaufen. Der junge Sultan versammelt eine Armee, und er hat neue Kriegsmaschinen, die Mauern einstürzen lassen, als wären sie aus Luft.»

Ihr Magen zieht sich zusammen. Himerius bewegt sich auf die Münzen zu.

«Die Arche ist auf Felsen aufgelaufen, mein Kind. Und die Flut bricht herein.»

Ihr Leben spaltet sich auf. Da sind einmal die Stunden im Haus von Kalaphates, Monotonie, Müdigkeit und Angst: Besen und Züchtigungen, Fäden und Befehle, hol Wasser, hol Kohle, hol Wein, hol noch einen Ballen Stoff. Jeden Tag scheint eine neue Geschichte über den Sultan in den Arbeitsraum zu dringen. Er hat gelernt, nicht zu schlafen. Er führt Gruppen von Kundschaftern um die Stadtmauern. Seine Soldaten in der Festung zur aufgeschlitzten Kehle haben eine aus dem Schwarzen Meer kommende Galeere mit einer Steinkugel zerstört, die Essen und Waffen an Bord hatte.

Anna bringt Maria ein zweites Mal zur Kirche der Muttergottes von der lebensspendenden Quelle, wo sie für sieben Stavrata einen weiteren Segen von den buckligen, verhutzelten Nonnen kaufen. Maria trinkt die Mischung aus Wasser und Quecksilber und fühlt sich einen Tag lang besser, bevor es ihr wieder schlechter geht. In ihren Händen pocht es, sie leidet unter Krämpfen, und in manchen Nächten sagt sie, es fühle sich an, als hielte sie ein Teufel mit seinen Krallen gepackt und versuche sie auseinanderzureißen.

Und dann ist da Annas zweites Leben. Wenn der Nebel die Stadt umfängt, eilt sie durch die hallenden Gassen, und Himerius rudert sie vor die Mole, wo sie die Mauer der Propstei erklimmt. Wenn man sie fragte, würde sie sagen, sie tue es, um mit dem Geld das Leiden ihrer Schwester zu mildern, aber will nicht auch ein Teil von ihr einfach nur diese Mauer hinaufklettern? Und den Schreibern in ihrer Tintenwerkstatt einen weiteren Sack angeschimmelter Bücher bringen? Zweimal noch füllt sie einen Sack mit Büchern, zweimal stellt sich heraus, dass er nichts als verschimmelte Listen, Bilanzen und Urkunden enthält. Aber die Italiener fordern Himerius und sie auf, auch weiterhin zu bringen, was immer sie finden, vielleicht ist es bald wieder etwas so Wertvolles wie der Aelianus oder gar etwas noch Besseres – eine verlorene Tragödie aus Athen, eine Reihe Reden eines griechischen Staatsmannes oder ein Seismobrontologion, das die Geheimnisse von Wind und Wetter aufdeckt.

Die Italiener sind, wie sie erfährt, nicht aus Venedig, das sie eine Heimstatt von Söldnern und Gier nennen, und auch nicht aus Rom, diesem Nest voller Parasiten und Huren. Sie kommen aus einer Stadt, die Urbino heißt, wo die Kornspeicher, wie sie sagen, immer voll seien, die Ölfässer überlaufen und die Straßen tugendhaft glänzen. In Urbino, sagen sie, lerne selbst noch das ärmste Kind, ob Mädchen oder Junge, lesen und schreiben, und es gebe keine Malariaausbrüche wie in Rom oder Zeiten kalten Nebels wie in dieser Stadt hier. Der Kleinste von ihnen zeigt ihr eine Sammlung von acht Schnupftabakdosen, auf deren Deckel Miniaturen gemalt sind: eine große Kirche mit einer Kuppel, ein Brunnen auf einem Platz der Stadt, die Gerechtigkeit mit ihrer Waage, der Mut, der eine Marmorsäule hält, und die Mäßigung, die Wasser in Wein gießt.

«Unser Meister, der tugendhafte Graf und Herr von Urbino, verliert nie eine Schlacht oder sonst etwas», sagt er, und der Mittlere fügt hinzu: «Er ist in jeder Hinsicht edelmütig und hört zu jeder Stunde des Tages jeden an, der mit ihm sprechen will», und der Große: «Wenn Seine Ehrwürden speist, selbst noch auf dem Schlachtfeld, bittet er darum, dass ihm derweil die alten Texte vorgelesen werden.»

«Er träumt davon», sagt der Erste, «eine Bibliothek zu errichten, welche die des Papstes noch übertrifft, eine Bibliothek aller Bücher, die je geschrieben worden sind, eine Bibliothek für die Ewigkeit, und wer immer es vermag, darf seine Bücher lesen.» Die Augen der Italiener leuchten wie Kohlen, ihre Lippen sind rot vom Wein, und sie zeigen Anna Schätze, die sie auf ihren Reisen bereits für ihren Meister gesammelt haben: einen Terrakotta-Zentaur aus der Zeit Isaaks, ein Tintenfass, das, wie sie sagen, von Caesar benutzt worden ist, und ein Buch aus China, das nicht von einem Schreiber mit Feder und Tinte, sondern von einem Schreiner mit einem Rad beweglicher Bambusblöcke mit Worten gefüllt wurde, und sie sagen, dass diese Maschine zehn Kopien eines Textes in der Zeit anfertigen kann, die ein Schreiber für eine einzige braucht.

Das alles raubt Anna den Atem. Ihr ganzes Leben lang hat man sie in dem Glauben gehalten, sie sei ein Kind, das am Ende der Dinge geboren worden sei: des Kaiserreichs, des Zeitalters, der Herrschaft des Menschen über diese Erde. Aber die glühende Begeisterung der Schreiber gibt ihr das Gefühl, dass es in einer Stadt wie Urbino, hinter dem Horizont andere Möglichkeiten geben mag, und in ihren Tagträumen fliegt sie über die Ägäis, Schiffe, Insel und Stürme tief unter sich, und der Wind strömt ihr durch die Finger, bis sie in einen hellen, sauberen Palast gelangt, voller Gerechtigkeit und Mäßigung, mit Räumen voller Bücher für alle, die lesen können.

Denn da war ein Glanz wie von Sonnenlicht, goldene Türen, silbern die Pfosten auf ehernem Sockel.

Die Arche ist auf Felsen aufgelaufen, mein Kind.

Du füllst deinen Kopf mit nutzlosen Dingen.

Eines Abends durchforsten die Schreiber ein weiteres Mal einen Sack voller aufgedunsener, modriger Manuskripte und schütteln die Köpfe. «Wir suchen», sagt der Kleine in seinem verschliffenen Griechisch, «etwas ganz anderes.» Zwischen ihren Pergamenten und Messern stehen Teller mit halb gegessenem Steinbutt und getrockneten Weintrauben. «Unser Meister sieht sich als ein Retter, ein Erkunder der Vergangenheit, und was er im Einzelnen sucht, sind Kompendien von Wunderdingen.»

«Wir wissen, dass die Alten zu fernen Orten gereist sind …»

«… in alle vier Ecken der Welt …»

«… Länder, die sie einst kannten, wir heute aber nicht mehr.»

Anna steht mit dem Rücken zum Feuer und muss daran denken, wie Licinius Ὠκεανός in den Sand geschrieben hat. Hier das Bekannte. Da das Unbekannte. Aus dem Augenwinkel sieht sie Himerius Rosinen stibitzen. «Unser Meister», sagt der große Schreiber, «glaubt, dass es irgendwo, vielleicht in dieser alten Stadt, unter einer Ruine schlummernd, ein Buch gibt, das die ganze Welt enthält.»

Der Mittlere nickt mit leuchtenden Augen. «Und die Geheimnisse jenseits von ihr.»

Himerius hebt den Blick und sagt mit vollem Mund: «Und wenn wir es finden würden?»

«Wäre unser Meister sehr erfreut.»

Anna blinzelt. Ein Buch, das die ganze Welt enthält und die Geheimnisse jenseits von ihr? Das wäre enorm groß. Das würde sie niemals tragen können.