Über Monate, nachdem das Eden’s-Gate-Schild am Rand der Arcady Lane aufgetaucht ist, passiert nichts. Der Fischadler verlässt sein Nest oben im höchsten Baum des Waldes und bricht nach Mexiko auf. Der erste Schnee weht von den Bergen herunter, die Pflüge des County schieben ihn zur Seite. Die Lake Street füllt sich mit Wochenendausflüglern, die zum Skihang wollen, und Bunny putzt ihre Zimmer in der Aspen Leaf Lodge.
Jeden Tag nach der Schule kommt der elfjährige Seymour an dem Schild vorbei
DEMNÄCHST HIER
MASSGEFERTIGTE REIHEN- UND EINZELHÄUSER
BESTE LAGEN VERFÜGBAR
und lässt seinen Rucksack aufs Sofa im Wohnzimmer fallen, stapft durch den Schnee zur großen toten Gelbkiefer, und alle paar Tage ist Trustyfriend da und lauscht dem Quieken der Wühlmäuse, dem Scharren der Mäuse und dem Herzschlag in Seymours Brust.
Aber am ersten warmen Morgen im April halten zwei Kipplaster und ein Tieflader mit einer Dampfwalze vor ihrem Haus. Luftdruckbremsen stöhnen, Walkie-Talkies krächzen, Trucks beepen, und Freitag nach Schulschluss ist die Arcady Lane asphaltiert.
Seymour hockt sich am Ende eines Frühlingsregens auf den noch ganz neuen Straßenbelag. Alles riecht nach frischem Asphalt. Mit zwei Fingern hebt er einen gestrandeten Regenwurm auf, der kaum mehr als ein wassergetränktes rosafarbenes Stück Schnur ist. Der Wurm hat nicht damit gerechnet, aus der Erde hier auf die Straße gespült zu werden, oder? Auf diese merkwürdige neue, undurchdringliche Fläche?
Eine Wolke reißt auf, und Sonnenlicht ergießt sich über die Straße. Seymour sieht nach links, und die Körper von vielleicht fünfzigtausend Regenwürmern scheinen im Licht auf. Die ganze schwarze Fläche, stellt er fest, ist mit Regenwürmern bedeckt. Mit Tausenden und Abertausenden Regenwürmern. Er legt den ersten unter einen Heidelbeerbusch, rettet einen zweiten, dann einen dritten. Aus den Kiefern tropft es, der Asphalt dampft, die Würmer zappeln.
Er rettet vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Wolken verdecken die Sonne. Ein Lastwagen biegt vorn von der Straße ein, kommt näher und zerquetscht die Körper von wie vielen Würmern? Schneller. Beeil dich. Dreiundvierzig Würmer, vierundvierzig, fünfundvierzig. Er erwartet, dass der Lastwagen hält, ein Erwachsener herausklettert, den Jungen zur Seite winkt und es ihm erklärt. Der Wagen fährt weiter.
Landvermesser parken weiße Pick-ups am Ende der Straße und steigen zwischen den Bäumen hinterm Haus herauf. Sie stellen Stative auf und binden Bänder um Baumstämme. Ende April dröhnen Kettensägen im Wald.
Während er von der Schule nach Hause geht, surrt die Angst in Seymours Ohren. Er stellt sich vor, wie er von oben auf die Welt heruntersieht: Da sind ihr Haus, der schrumpfende Wald, die Lichtung in der Mitte. Und da ist Trustyfriend auf seinem Ast, gefangen in tausend konzentrischen Ringen.
Bunny sitzt am Küchentisch, verloren hinter einem Stapel Rechnungen. «Oh, Possum, das Land gehört uns nicht. Sie können damit machen, was sie wollen.»
«Warum?»
«Weil das die Regeln sind.»
Er drückt die Stirn an die Schiebetür. Bunny reißt einen Scheck heraus und fährt mit der Zunge über den Kleberand eines Umschlags. «Weißt du, was? Die Sägen, die sind gut für uns. Erinnerst du dich an Geoff-mit-einem-G von der Arbeit? Er sagt, die besten Grundstücke von Eden’s Gate könnten zweihunderttausend bringen.»
Es wird dunkel. Bunny sagt die Zahl noch ein zweites Mal.
Lastwagen voller Baumstämme brummen an ihrem Haus vorbei. Bulldozer durchstoßen das Ende der Arcady Lane und schneiden eine Z-förmige Verlängerung in den Hang. Jeden Tag, wenn der letzte Lastwagen weg ist, geht Seymour mit seinem Hörschutz die neue Straße entlang.
Abwasserrohre liegen wie umgestürzte Säulen vor Abraumbergen herum. Hier und da steht eine Kabeltrommel. Es riecht nach zerschlagenem Holz, nach Sägemehl und Benzin.
NeedleMen liegen zerdrückt im Matsch. Unsere Beine sind gebrochen, murmeln sie mit ihren Xylofonstimmen. Unsere Städte werden zerstört. Halb den Hang hinauf ist Trustyfriends Lichtung zu einem von Lastwagenrädern zerwühlten Schlachtfeld voller Wurzeln und abgerissener Äste geworden. Im Moment steht die große, tote Gelbkiefer noch. Seymour lässt den Blick über jedes Glied, jeden Ast von ihr wandern, bis ihm der Nacken vom Hochsehen schmerzt.
Leer, leer, leer, leer.
«Hallo?»
Nichts.
«Kannst du mich hören?»
Wochenlang sieht er nichts von Trustyfriend. Fünf Wochen. Fünfeinhalb. Jeden Tag strömt mehr Licht in das, was gerade noch ein Wald war. Verkaufsschilder sprießen entlang der frisch asphaltierten Straße aus dem Boden, auf zweien von ihnen klebt bereits ein VERKAUFT-Aufkleber. Seymour nimmt sich ein Informationsblatt. Leben Sie den Lakeport-Lifestyle, steht da, wie Sie es sich immer schon gewünscht haben. Es gibt eine Karte mit den einzelnen Grundstücken, ein mit einer Drohne geschossenes Foto des Gebiets mit dem See in der Ferne.
In der Bibliothek erzählt ihm Marian, dass die Leute von Eden’s Gate alle notwendigen Planungs- und Genehmigungsverfahren hinter sich gebracht haben. Bei einer öffentlichen Anhörung haben sie wirklich köstliche Törtchen mit ihrem Logo in der Glasur verteilt. Sie sagt, sie haben sogar das alte viktorianische Haus neben der Bibliothek gekauft und wollen Ausstellungs- und Präsentationsräume darin einrichten.
«Neue Projekte», sagt sie, «waren immer schon Teil unserer Stadtgeschichte.» Aus einem Aktenschrank in der Ecke für Lokalgeschichte holt sie große Schwarz-Weiß-Fotos von vor einem Jahrhundert. Sechs Holzfäller stehen da Schulter an Schulter auf dem Stumpf einer gefällten Zeder. Fischer halten einen meterlangen Lachs bei den Kiemen. Etliche Hundert Biberfelle hängen an der Wand einer Hütte.
Tief unten in Seymours Rücken regt sich ein Grollen. Meint sie mit «neue Projekte» das Töten wilder Tiere? Er stellt sich hunderttausend NeedleMen vor, die sich aus dem zerstörten Wald erheben und die Lastwagen der Baufirmen angreifen. Eine riesige Armee, furchtlos trotz ihrer Unterlegenheit, mit winzigen Pickeln gehen sie auf die Reifen los, treiben Nägel in die Stiefel der Männer. Die Vans der Kanalverleger gehen in Flammen auf.
«Eine Menge Leute in Lakeport», sagt Marian, «sind begeistert von Eden’s Gate.»
«Warum?»
Sie lächelt traurig. «Nun, du weißt, was sie sagen.»
Er kaut auf dem Kragen seines Hemdes herum. Er weiß nicht, was er darauf antworten soll.
«Geld ist nicht alles: Es ist das Einzige.»
Sie sieht ihn an, als erwartete sie, dass er lacht, aber er versteht nicht, was daran komisch sein soll, und eine Frau mit Sonnenbrille deutet nach hinten in die Bibliothek und sagt: «Ich glaube, eure Toilette läuft über», und Marian eilt davon.
Sachbuch 598.9:
Zwischen 365 Millionen und einer Milliarde Vögel sterben in den Vereinigten Staaten jedes Jahr, weil sie gegen Fensterscheiben fliegen.
Zur Biologie der Vögel:
Etliche Zeugen berichteten, dass, nachdem die Krähe gestorben war, eine große Zahl anderer Krähen (weit über hundert, folgt man einigen Berichten) aus den Bäumen herunterkam und eine Viertelstunde lang in Kreisen um die Tote herumlief.
Sachbuch 598.27:
Nachdem ihre Gefährtin in das Stromkabel geflogen war, verfolgten Wissenschaftler, wie die Eule zu ihrem Schlafplatz zurückkehrte, den Blick dem Stamm zuwandte und so reglos mehrere Tage verharrte, bis sie starb.
Eines Nachmittags Mitte Juni kommt Seymour aus der Bibliothek zurück, blickt hinauf nach Eden’s Gate und sieht, dass Trustyfriends großer toter Baum nicht mehr da ist. Wo er am Morgen noch gestanden hat, auf der Anhöhe hinter ihrem Haus, ist nur noch Leere.
Ein Mann rollt einen orangefarbenen Schlauch aus, ein Bagger hebt Gräben für Wasserleitungen aus, jemand ruft: «Mike! Mike!» Vom eiförmigen Felsen hinten erstreckt sich ein nackter Hang bis hoch zum Himmel. Der Wald ist komplett zerstört.
Er lässt seine Bücher fallen und rennt. Die Arcady Lane hinunter, die Spring Street, südlich über den Randstreifen an der Route 55 entlang, der Verkehr donnert vorbei, was ihn treibt, ist weniger Wut als Panik. Das alles muss rückgängig gemacht werden.
Es ist Essenszeit, und das Pig N’ Pancake ist rappelvoll. Seymour steht keuchend bei der Ausgabe und lässt den Blick über die Leute schweifen. Der Manager sieht zu ihm hin. Gäste, die auf einen Tisch warten, sehen zu ihm hin. Bunny kommt mit Tellern auf beiden Armen aus der Küchentür.
«Seymour? Ist was passiert?»
Irgendwie gelingt es ihr, mit fünf Tellern voller überbackener Hacksteaks auf Toast und panierten Schnitzeln auf den Armen in die Hocke zu gehen und eine Seite seines Hörschutzes anzuheben.
Gerüche: Rinderhack, Ahornsirup, Pommes frites. Geräusche: Planieren von Gestein, lautes Hämmern, Rückfahrsignale von Kipplastern. Er ist über zwei Kilometer von Eden’s Gate entfernt, kann es aber immer noch hören, als wäre das alles ein um ihn herum gebautes Gefängnis, als wäre er eine in einem Spinnennetz gefangene Fliege.
Die Leute sehen von den Tischen herüber.
Der Manager sieht herüber.
«Possum?»
Worte stauen sich hinter seinen Zähnen. Ein Tischabräumer kommt vorbei und schiebt einen leeren Hochstuhl auf Rädern vor sich her, die Räder rattern tammtock, tammtock über die Fliesen. Eine Frau lacht. Jemand ruft: «Bestellung!» Der Wald, der Baum, die Eule – durch die Sohlen seiner Füße spürt er, wie sich eine Kettensäge in einen Baumstamm frisst, spürt, wie Trustyfriend hochschreckt. Keine Zeit zum Nachdenken: Wie ein Schatten fällst du ins Tageslicht, wenn ein weiterer sicherer Hafen aus der Welt gerissen wird.
«Seymour, steck die Hand in meine Tasche. Fühlst du den Schlüssel? Das Auto steht direkt vor der Tür. Setz dich rein, da ist es still. Mach deine Atemübungen, ich komme, sobald es geht.»
Er sitzt im Pontiac. Schatten sickern durch die Kiefern. Zähle langsam bis vier und atme dabei ein, noch mal bis vier und die Luft anhalten, wieder bis vier und ausatmen. Bunny kommt mit ihrer Schürze heraus, steigt ins Auto und reibt sich die Stirn mit den Handballen. In einer To-go-Schachtel hat sie ihm drei Pfannkuchen mit Erdbeeren und Sahne mitgebracht.
«Iss ruhig mit den Fingern, ist schon okay.»
Das verbleichende Licht spielt ihm Streiche, der Parkplatz wächst, aus den Bäumen werden geträumte Bäume. Ein erster Stern taucht auf und versteckt sich wieder. Beste Freunde, beste Freunde, niemals getrennt.
Bunny reißt ein Stück Pfannkuchen ab und gibt es ihm.
«Ist es okay, wenn ich deine Ohrenschützer herunternehme?»
Er nickt.
«Und deine Haare berühre?»
Er versucht nicht zurückzuzucken, als sich ihre Finger in seinen Nestern verfangen. Eine Familie verlässt das Restaurant, klettert in einen Truck und fährt weg.
«Veränderungen sind hart, Kind, ich weiß. Das Leben ist hart. Aber wir haben immer noch das Haus. Wir haben immer noch den Garten. Und wir haben immer noch uns. Oder?» Er schließt die Augen und sieht Trustyfriend über einer Einöde endloser Parkplätze kreisen, nirgends kann er jagen, nirgends landen, nirgends schlafen.
«Es wird nicht das Schlechteste sein, Nachbarn in der Nähe zu haben. Vielleicht gibt es auch Kinder in deinem Alter.»
Ein Teenager mit Schürze kommt aus der Hintertür gestürzt und wirft einen schwarzen Müllsack in den Container. Seymour sagt: «Sie brauchen große Jagdgebiete und mögen hohe Aussichtspunkte, damit sie Wühlmäuse jagen können.»
«Was sind Wühlmäuse?»
«Einfach andere Mäuse.»
Sie dreht den Hörschutz in ihren Händen. «Es gibt weiter im Norden mindestens zwanzig Orte wie unseren hier, wo deine Eule hinfliegen kann. Größere, bessere Wälder. Sie kann sie sich aussuchen.»
«Echt?»
«Klar.»
«Mit vielen Wühlmäusen?»
«Unzählig vielen. Mehr Wühlmäusen, als du Haare auf dem Kopf hast.»
Seymour isst noch etwas Pfannkuchen, und Bunny sieht sich im Rückspiegel an und seufzt.
«Versprochen, Mom?»
«Versprochen.»